Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Dorothee Sölle: Die Weiße Rose des Widerstands blüht auch heute

Am 27. April 2009 jährt sich zum sechsten Mal der Todestag von Dorothee Sölle. Sie war als Theologin und Schriftstellerin nicht nur mit Worten engagiert, sondern auch durch konkretes Handeln. Wir erinnern nachfolgend an Dorothee Sölle mit einer Rede vor dem Amtsgericht in Schwäbisch Gmünd, die sie dort am 24. April 1986 zu ihrer Verteidigung hielt. Angeklagt war sie für ihre Teilnahme an einer an einer Blockadeaktion am 6.8.1985 auf der Zufahrtsstraße zum US-Militärdepot in Mutlangen, in dem damals Pershing-II-Atomraketen stationiert waren. 

Von Dorothee Sölle - Rede vor dem Amtsgericht in Schwäbisch Gmünd am 24. April 1986

Herr Richter, Herr Staatsanwalt, liebe Freunde des Friedens,
am Hiroshimatag, dem 6. August vorigen Jahres, saßen wir, etwa 15 Personen, in Mutlangen vor der Militäranlage, in der heute neue und größere Hiroshimas vorbereitet werden. Wir behinderten für ein paar Stunden die Vorbereitung des Verbrechens und das Training der Beteiligten. Heute stehe ich deswegen hier vor Gericht: meine Absicht wird "verwerflich" genannt, mein gewaltloses Sitzen wird aufgrund einer Sprachmanipulation, die auch in der an Verdrehungen nicht armen deutschen Rechtsgeschichte einmalig ist, "Gewalt" genannt. Dass mich das erwartete, wusste ich vorher. Was ich nicht wusste, war, dass ich vor einem Richter stehe, der schon vor diesem Prozess in der Verhandlung vom 23. März 1986 öffentlich erklärte: "Jens und Greinacher sind verurteilt, Sölle steht zur Verurteilung an", und sich dann, als Unruhe im Saal entstand, dazu herabließ, "Verhandlung" statt "Verurteilung" zu sagen, es sei, so der Herr Richter, "ein Freudscher" gewesen. Dieser Vorfall ist eidesstattlich bezeugt. Meine Anwältin und ich haben erwogen, dieser verbalen und unterbewussten Vorverurteilung wegen den Herrn Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Wir haben dann davon Abstand genommen, weil wir uns nicht viel davon erhoffen.

Auch ein anderer Vertreter dieses Gerichts ist vermutlich "befangen", nämlich vorverurteilend, auch in anderen Fällen wurde hier im Sinne einer Fließbandproduktion ohne Ansehen der Motive oder der Lebenssituation der Person verurteilt, und es scheint mir gerecht zu sagen, dass der Prozess eine Farce ist, in der weder die Wahrheit ermittelt noch Recht gesprochen werden darf. Das Gericht erscheint als der verlängerte Arm der Staatsmacht, die, um einen theologischen Ausdruck zu gebrauchen, dem "Projekt des Todes" dient: sie führt die Kriegsvorbereitung mit Präzision und Brutalität durch. Mehr Bomben, mehr Giftgas, mehr Forschung für SDI auf der einen Seite und mehr Sozialabbau und Verhungernde in den armen Ländern auf der anderen Seite - das ist das große Projekt des Todes, das hier im Amtsgericht zu Schwäbisch Gmünd nun auch juristisch gerechtfertigt und beschützt werden soll. Das Projekt des Todes ist der Militarismus, der Krebs, der unser Land überwuchert und erstickt, dessen Metastasen in alle Lebensbereiche eindringen: in Medizin und Städteplanung, in Straßenbau und Industrieproduktion, in Erziehung und Kultur, in die Theologie und auch in das Rechtswesen.

Der Militarismus, d.h. die Vorherrschaft militärischen Denkens, sogenannter Sicherheitsfragen über alle anderen Lebensbereiche, nimmt den Bürgern ihre Erholungsgebiete und Schrebergärten weg, so wie er den Jugendlichen die Freiheit zu lernen und zu denken beschneidet; wenn sie Glück haben, dürfen sie Tolstoj und Tucholsky, Mahatma Gandhi oder Jesus noch lesen - aber anwenden, leben dürfen sie die Bergpredigt nicht.

Sollte das Rechtswesen wirklich frei von diesem Krebs sein? Ich denke auf der völkerrechtlichen Ebene an die Weigerung der USA, den Internationalen Gerichtshof in Den Haag in Sachen Nicaragua auch nur anzuhören, und ich denke auf der nationalen Ebene an unser Grundgesetz, das in § 26, Absatz 1 sagt: "Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen".

Vor genau zehn Tagen, noch bevor die Amerikaner anfingen, Tripolis und Bengasi zu bombardieren, fuhren hier die Konvois mit Atomsprengköpfen und allem Zubehör, mit Computern zum Steuern ausgerüstet, wieder los und stehen abschussbereit, um das Bombardement gegen die Zivilbevölkerung in Libyen abzusichern. Das ist ein deutliches Signal an die Sowjetunion: falls sie versuchen würde, Libyen zu unterstützen, käme es zum Ersteinsatz, von deutschem Boden aus.

Und das Gericht sieht es als seine Aufgabe an, diese Waffen und die dahinterstehende Politik zu beschützen, es klagt nicht diejenigen an, die das friedliche Zusammenleben der Völker stören, oder diejenigen, die ihrer Aufgabe, Schaden vom deutschen Volk abzuwehren, nicht nachkommen; es beschuldigt und kriminalisiert vielmehr die Minderheit des Gewissens, Menschen, die waffenlos und ohne jede Gewalt vor den Vernichtungsanlagen sitzen.

In diesen Prozessen gegen die Friedensbewegung wird versucht, die Wahrheit über das, was uns bedroht und andere schon heute umbringt, zu verschweigen. Die bisherigen Urteile dieses Gerichts zeigen, wie man die Motivation vom Täter trennt und die Gründe des Handelns ignoriert. Damit trennen sie die Rechtsprechung von der Wahrheitsfindung, das Recht darf mit der Wahrheit nicht in Berührung kommen. Warum steht das eigentliche Verbrechen, die Aufrüstung, die Zerstörung des Lebens, die die Aufrüster täglich betreiben, hier nicht zur Debatte? Warum versucht man uns, die dieses Verbrechen sichtbar machen, zu kriminalisieren? Warum gibt es in Ihrem Kopf, Herr Richter, keinen Platz für etwas, das zwar nicht erlaubt ist - wie Blockieren, Behindern -, aber deswegen noch lange kein Verbrechen? Warum verstehen Sie die Gewaltfreiheit nicht? Sind Sie so besetzt von der Gewalt, der Sie sich unterworfen haben, dass Sie außerhalb der Gewalt kein Handeln mehr sehen?

Ich möchte Sie hier erinnern an die großen Traditionen gewaltfreien Handelns, die in unserem Land so unbekannt sind, dass unsere Gerichte sie umlügen müssen in Verwerflichkeit und angebliche Gewalt.

Als ich am Hiroshimatag vor den Massenvernichtungsanlagen saß, dachte ich an eine einfache Frau, eine Textilarbeiterin aus Montgomery, Alabama, die eines Tages im Dezember 1955, als sie mit dem Bus nach Hause fuhr, zur Gesetzesbrecherin wurde. Sie - die schwarze Frau - setzte sich auf einen der Plätze im Bus, der bei Bedarf für Weiße freigemacht werden musste. Hinten, wo die Schwarzen hingehörten, war kein Platz mehr. Und weil sie müde war, ging sie nach vorn. Vom Busfahrer aufgefordert aufzustehen, blieb sie sitzen. Drei andere Schwarze erhoben sich und machten Platz. Rosa Parks aber, so hieß die Frau, blieb auch nach der zweiten Aufforderung sitzen und wurde von der herbeigeholten Polizei verhaftet. Nach diesem Ereignis organisierten die Schwarzen einen Busstreik, der 382 Tage dauerte, an dem ein junger Pfarrer namens Martin Luther King mitarbeitete.

Wir alle suchen heute einen Weg, der aus dem Kreislauf von Gewalt und Unterwerfung, Unrecht und seiner Duldung, Verbrechen und seiner Komplizenschaft herausführt. Die Situation war für Rosa Parks unerträglich geworden. Ich stelle mir vor, dass sie geschwollene Füße hatte und einfach nicht noch eine dreiviertel Stunde stehen konnte. Rosa Parks hatte als Sekretärin einer schwarzen Organisation gearbeitet. Die legalen Mittel, gegen die Benachteiligungen und Demütigungen der Schwarzen zu kämpfen, waren erschöpft. Es hatte alles nichts genützt. So geht es auch uns, die wir die Aufrüstung für ein Verbrechen halten.

Was können wir, die wir immer noch eine Minderheit sind, tun, um den Wahnsinn aufzuhalten? Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Hoffnung auf Wahlen und auf die langsame Veränderung der Parlamente sich mit der Friedenshoffnung nicht verbindet. Welche anderen Mittel stehen denn zur Verfügung, um gegen das Verbrechen anzugehen? Welche Rolle spielen denn die bewussten Minderheiten, zu denen wir gehören?

Als geistiger Vater des bürgerlichen Ungehorsams gilt der Amerikaner Henry Thoreau. Er lebte in der Zeit der Sklaverei und hat sich Gedanken darüber gemacht, was Demokraten tun können, wenn die Mehrheit in ihrem Land immer noch für die Sklaverei ist, die ja für viele eine vorteilhafte und bequeme Einrichtung war; wenn also nur eine bewusste Minderheit die Sklaverei als das Verbrechen begreift, das sie ist. Was soll die Minderheit tun? Ist es genug, auf die nächste Wahl zu warten? Thoreau hielt diese Duldung des Unrechts für eines freien Menschen unwürdig und forderte zum passiven Widerstand, zur Nicht-Kooperation, zum zivilen Ungehorsam auf.

Bei der Frage des Widerstands bewusster Minderheiten gegen Mehrheiten geht es demnach also wesentlich um die Frage, ob es gesellschaftspolitische Entscheidungen gibt, über die - auch in freien Wahlen - nicht abgestimmt werden darf. Thoreau und seine vielen Nachfolger haben diese Frage immer dann bejaht, wenn es um die Würde des Menschen, die auch nach unserem Grundgesetz unantastbar sein muss, geht. Und um die Würde des Menschen geht es ganz zentral in der Frage der Sklaverei wie auch in der Frage der Kriegsvorbereitung.

Viele amerikanische Christen in der Friedensbewegung vergleichen denn auch unsere heutige Situation mit der der Sklaverei: noch erpressen wir andere mit der atomaren Sklaverei, noch erpressen wir andere mit der atomaren Vernichtung alles Lebens, noch lassen wir uns unter der Logik des Wahnsinns versklaven. Wir leben heute in einer Übergangszeit; noch glaubt die Mehrheit an den Krieg als den letzten Ausweg, und nur eine bewusste Minderheit begreift die Aufrüstung als ein Verbrechen. Wie kann diese Minderheit des Gewissens die Mehrheit auf ihre Seite ziehen, so dass allmählich alle begreifen, dass Aufrüstung keines unserer Probleme löst, sondern unser aller Leben auf diesem kleinen Erdball bedroht? Wann werden wir die Sklaverei los, wann wird uns der Krieg ebenso unmöglich sein wie die Sklaverei, wann werden wir aufhören, ihn zu planen und vorzubereiten?

Thoreau war ein sehr demokratischer Denker. Er glaubte nicht, dass die amerikanische Regierung Tausende wie Kriegsgefangene ins Gefängnis stecken würde; er meinte, die moralische Kraft der Minderheit sei stärker als die Bequemlichkeit der Mehrheit; er dachte, eine demokratische Regierung sei nicht nur dem formalen Recht, sondern der Gerechtigkeit und dem Auftrag, Frieden zu schaffen, verpflichtet. Er rief die bewusste Minderheit zum sichtbaren Widerstand, zur Verletzung von Regeln und Polizeigeboten, zur Illegalität auf. Er glaubte, dass eine Regierung sich auf Dauer nicht ohne die bewusste moralische Minderheit eines Volkes halten kann.

Gandhi hat über sich selber aus der Zeit, ehe er zur Gewaltfreiheit kam, einen nachdenklichen Satz gesagt: "Als Feigling hielt ich mich an die Gewalt." Ich glaube, das ist die normale Situation von uns allen: als Feiglinge halten wir uns an Gewalt, und zwar im doppelten Sinn: Wir glauben an die Gewalt, und wir unterwerfen uns ihr. Wir denken, dass nur die Gewalt uns schützen kann, die Prügelgewalt, die Strafgewalt, die Militärgewalt, die Atomgewalt. Als Feiglinge unterwerfen wir uns der Gewalt und denken, man kann doch nichts machen. Ich glaube, dass Millionen Menschen genau dieselben Gedanken und Gefühle wie wir haben über die Hochrüstung, über die kriegstreiberischen Reden der Reagan und Weinberger, über den Staat, der als Großterrorist in Libyen bombt. Sie haben genauso Angst vor der Militarisierung unseres Landes und vor den Führern, die die Megatoten einplanen. Aber sie haben sich der Gewalt unterworfen, sie leben in Resignation. Was können wir schon tun? Wir sind abhängig von den Amerikanern; der kleine Mann hat nichts zu sagen. Das ist es, was Gandhi meinte, als er sagte: Als Feigling hielt ich mich an die Gewalt - ich vertraute ihr, und ich unterwarf mich ihr.

Wir blockieren die Massenvernichtungsbasen, weil wir uns der Gewalt nicht mehr unterwerfen wollen. Gewaltfrei handeln, ist ein Akt der Freiheit, der Freiheit, den Kreislauf der Gewalt zu unterbrechen. Einer der freiesten Menschen, die ich kenne, ist der gewaltfreie Pazifist Daniel Berrigan . Er ist frei, vor Gericht zu reden oder zu schweigen; frei, einem Befehl Folge zu leisten oder sich zu widersetzen; frei, mit anderen zusammen atomare Sprengköpfe unschädlich zu machen, und frei, ins Gefängnis zu gehen. Er ist nicht zerbrochen worden in langen Zeiten im Gefängnis; er hat sein Lachen behalten, seine Geduld, seine Versuche, andere auch zur Gewaltfreiheit zu verlocken. Es ist eine Freiheit, die sich nicht von dem Erfahrungswissen, dass nur Gewalt uns Sicherheit gibt, knechten lässt. Im Römerbrief heißt es: "Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes" (Röm. 12, 2).

Nichts bestimmt diese Welt heute so sehr wie ihre globale Militarisierung, die Einbildung, nur durch Krieg und durch angedrohte Vernichtung ließen sich Konflikte lösen, ließe sich Freiheit retten. Propheten und Pazifisten bringen zu allen Zeiten ihren Protest gegen die staatliche Willkür und ihre Vision von einer menschlichen Zukunft nicht nur durch Worte, Erklärungen und Appelle zum Ausdruck, sondern auch durch symbolisches Handeln. Ich denke an Jeremia, der sich auf einem öffentlichem Platz ein Joch auflegt, um die kommende Niederlage seines Volkes provokativ - heute würden wir sagen: verkehrsbehindernd - darzustellen (Jer. 28). Oder an Ezechiel, der in bewusstem Gegensatz zur öffentlichen Meinung in seiner äußeren Erscheinung die künftige Katastrophe vorwegnimmt, sich Haupt- und Barthaar schert, um das Kahlrasieren seines Landes durch die babylonische Armee zu demonstrieren (Ez. 5). Und vor allem denke ich an Jesus, der das wichtigste religiöse und rechtspolitische Gesetz, die Sabbatbestimmungen, übertrat. Er pflückte Ähren ab, weil Menschen um ihn hungerten; er heilte Kranke am Sabbat, darunter solche, die viele Jahre lang gelähmt oder behindert waren und ohne Schaden bis zum Montag hätten warten können - symbolisch-provokative Akte der Gesetzesübertretung, des Konventionsbruchs. Jesus wollte mit diesen Verletzungen der Gesetzesregeln auf Unrechtszustände aufmerksam machen. Er stellte somit eine Art Gegenöffentlichkeit dar.

Genau das haben wir in den letzten Jahren in der Friedensbewegung eingeübt. Wir haben gelernt, dass bestimmte Aktionen gegen bestehende Gesetze oder Regeln verstoßen, also illegal sind, zugleich aber von unserer Seite völlig gewaltfrei ablaufen, d. h. keine Menschen bedrohen. Wenn die Schwarzen in der Bürgerrechtsbewegung in ein Lokal gingen, das nur für Weiße bestimmt war, so handelten sie illegal. Sie wurden ignoriert, beschimpft, geschlagen und hinausgeworfen, verhielten sich selber aber gewaltfrei. Genau an diese Erfahrungen knüpft die Friedensbewegung heute an. Natürlich ist es illegal, einen Munitionstransport zu blockieren, aber ist es Gewalt? Sind hier nicht vielmehr die Menschen an der Arbeit, die einzig noch Hoffnung verkörpern, weil sie der herrschenden Gewalt des Militarismus, der immer gigantischeren Aufrüstung und der Unterdrückung jeder Stimme, die noch gegen die Mischung von Tötungs- und Todesbereitschaft angeht, ein klares NEIN entgegensetzen?

Und diese Menschen brauchen Geduld und eine neue politische Kultur, die sich unter anderem auszeichnet durch den Ausschluss der Staatsgewalt oder des Staatsterrorismus, durch Verzicht auf die jetzt noch üblichen Formen des steinzeitlichen Umgangs miteinander, Verzicht auf das, was traditionell Krieg heißt, wofür man aber eine andere sprachliche Formulierung bräuchte, denn wir haben heute keine Waffen mehr, sondern Massenvernichtungsmittel. Die Nazis haben das Gas, das sie in Auschwitz verwendet haben, ja auch nicht "Waffe" genannt.

Und die Leute, die mit den heutigen Massenvernichtungsmitteln ihre Planspiele betreiben, sind Verbrecher. Auch diejenigen, die sich nur versteckt und mitmachend, konformistisch mit dem Tod identifzieren, zerstören ihr Leben: sie leben auch jetzt nicht.

Diese neue Kultur muss durchdrungen sein von einer tiefen Liebe zum Leben. Ich finde in einer Endzeitverzweiflung, die wie gebannt auf die Katastrophe starrt, ohne den Kampf und die Auseinandersetzung noch wahrzunehmen, ein Stück Zerstörtheit, Zynismus und Menschenverachtung. Um kämpfen zu können, braucht man eine Hoffnung. Man muss Bekehrung, wie etwa die von Franz Alt , für möglich halten. Die Hoffnung, dass die Blinden sehend werden und die Tauben hörend, nennt man in der Sprache der Religion Glauben - Glauben an die Veränderbarkeit von Menschen durch erfahrene Liebe und Gerechtigkeit. Die Hoffnung darauf, dass der Todes- und Mordwunsch nicht das letzte ist, was die Menschen beseelt, die Gewissheit einer Lebens-Kraft, die auch im anderen, in meinem politischen Gegner, ist, und die nicht aufgebraucht ist, wenn ich aufgebraucht bin, das ist Gott.

Warum wollen Sie diese jungen Menschen, die die größte Hoffnung ausdrücken, die es in unserem Land zur Zeit gibt, kriminalisieren? Wir können heute objektiv feststellen, dass die Analysen und Prognosen der Friedensbewegung richtig waren und sich bis weit in das konservative Lager hinein bestätigt finden. Wir haben in der Friedensbewegung nachgewiesen, dass die Mittelstreckenraketen nicht wegen der sowjetischen SS-20 stationiert wurden, sondern unabhängig davon, um die "Eskalationsdominanz" zu behalten, wie es jetzt in der FAZ (22. 2. 86) zu lesen ist. Die "Wahrheit über die Nulllösung" ist nach derselben Zeitung, dass sie nie vom Westen gewollt war, sondern nur als Propagandabeschwichtigung eingesetzt wurde. Im selben Artikel wird auch das Wort "Doppelbeschluss", das uns an ein Verhandlungsinteresse des Westens glauben machen sollte, durch das klare Wort "Stationierungsbeschluss" ersetzt und der Vorschlag Gorbatschows, alle europäischen Atomwaffen bis zum Jahr 2000 abzubauen, von vornherein als gefährlich abgelehnt.

Heute, nachdem die Ziele der Strategischen Verteidigungsoffensive klar definiert worden sind, verstehen wir besser als je zuvor, welchen Sinn unsere Ersteinsatzwaffen haben. Wenn die USA oder zumindest ein Teil ihrer Bevölkerung und alle ihre Vernichtungspotentiale unverwundbar gemacht sind, dann können die europäischen Waffen jederzeit eingesetzt werden - die russische Vergeltung trifft ja nur Europa. Schutz der USA und Vermehrung der Offensivwaffen in Europa - das sind die erklärten Ziele der über uns herrschenden Großmacht.

Ist die deutsche Justiz als Büttel dieser Herren angestellt? Glauben Sie wirklich, Sie könnten den Geist des Widerstands, die Sehnsucht nach einem Frieden, der nicht auf Staatsterror und Militarismus aufgebaut ist, sondern auf wirtschaftlicher Gerechtigkeit, die Kraft des Geistes, der uns tröstet und Mut macht, auslöschen? Ich bin froh, dass ich in dieser Zeit lebe, in der so viel Widerstand gegen das System der Gewalt und des staatlich-militärischen Terrors sich regt. Ich bin stolz auf die jungen Leute, die heute um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden und um des Friedens willen im Gefängnis sitzen. Sie sitzen für uns alle dort, in der Hoffnung, dass unser Land eines Tages wieder friedensfähig wird. Dafür kämpfen wir, dafür arbeiten wir.

Noch versuchen Sie, uns einzuschüchtern und uns abzuschrecken, aber wir geben unser Ziel, unser Land wieder friedensfähig zu machen, nicht auf. Sie können uns verurteilen, aber Sie können Frauen wie meine Schwestern und mich nicht zum Schweigen bringen, nicht kalt machen. Es ist, als wollten sie den Rosen das Blühen verbieten. Aber die Weiße Rose des Widerstands blüht heute hier in Westdeutschland. Als wollten Sie die Sonne verhaften. Aber die Sonne scheint.

Für ihre Teilnahme an der Blockadeaktion vor der Pershing-II-Stellung am 6.8.1985 wurde Dorothee Sölle in der Hauptverhandlung am 24.4.1986 am Amtsgericht Schwäbisch Gmünd von Amtsrichter Krumhard zu 20 Tagessätzen je DM 100.— verurteilt.

 

Mehr zu Dorothee Sölle siehe auf der Lebenshaus-Website (Linksammlung unten) sowie unter folgendem Link:

Veröffentlicht am

27. April 2009

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