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Schrei geliebtes Land

Von Gideon Levy, Haaretz, 24.05.2007

Pretoria, Südafrika - Es war wie in einem Film. Nur dass da auf einmal ein stummes Bild plötzlich lebendig wurde. Wir standen im Gedenkmuseum in Soweto neben einem Foto eines toten Jungen und anderen Kindern um ihn herum. Unsere Führerin Antoinette erzählte uns davon. Antoinette sagte, das junge Mädchen auf dem Foto sei sie.

Das Foto ist am Eingang des Museums, das zum Gedächtnis des Kampfes der Schwarzen gegen die Apartheid hier gebaut wurde, wo der Kampf begonnen hatte. Da drüben ist Nelson Mandelas winzige Hütte, daneben das Haus von Desmond Tutu und weiter unten auf der Straße liegt das gegenwärtige Haus von Winnie Mandela.

Das Bild kam uns so bekannt vor. Wir waren vier: MK Ran Cohen (Meretz), Riyad Mansour, der palästinensische Botschafter bei der UN, Diana Buttu, eine frühere Rechtsberaterin der PLO und ich. Wir hatten alle dieselben Assoziationen: Hector ist Mohammed al-Dura; die weißen Soldaten, die auf Kinder schießen, sind wir.

Dass die Zeit weiter ging, sahen wir an Antoinette. Aus dem Teenager auf dem Foto wurde eine Frau Ende vierzig. Ihr Bruder wäre jetzt 44, aber die Kugel eines Gewehrs eines weißen Polizisten nahm ihm die Möglichkeit, Zeuge des Wunders zu sein, wie das rassistische Regime zusammengebrochen ist.

Es war also noch eine UN-Konferenz über Frieden mit den Palästinensern; aber dieses Mal, wurde sie an einem besonders “belasteten” Ort abgehalten. Wir waren nur zwei Israelis. Aber die Visitenkarten, die ich dort sammelte, waren sehr verschieden: arabische und afrikanische Botschafter, der vorige ägyptische Außenminister, Vertreter von muslimischen Ländern und Diplomaten, die in Pretoria gerade ihren Posten haben. Der syrische Botschafter lächelte, gab mir aber seine Visitenkarte nicht; der libysche Botschafter tat dasselbe. Aber sie hörten uns sehr aufmerksam zu.

Das neue Regime ist für Südafrika gut gewesen. Kein palästinensisches Flüchtlingslager sieht so attraktiv aus wie Soweto 2007. Aber nicht weit davon entfernt liegt eine Barackensiedlung, Alexandra, und sie sieht schlimmer aus als die uns bekannten palästinensischen Flüchtlingslager. Hier waren die südafrikanischen Schwarzen nicht in der Lage, sich selbst samt den Flüchtlingen aus dem benachbarten Zimbabwe aus der Armut heraus zu holen.

Kaum ein Kilometer trennt das verarmte Alexandra von einem besonders feinen Stadtteil Johannesburgs, von Sandton. Dort verbergen sich hinter elektrischen Zäunen und persönlichen Leibwächtern die Reichen der Stadt - viele von ihnen sind Juden und eine große Anzahl früherer Israelis. Am Shabbat aßen wir ein spezifisch jüdisches Shabbatessen. Am Freitagabend dinierten wir mit einem früheren Israeli aus Nahalal. Wir fuhren nach Alexandra mit einem Burschen, der ursprünglich aus Tivon kam, der nun seit 30 Jahren hier ist und ein riesiges landwirtschaftliches Unternehmen hat, das 1800 schwarze Arbeiter beschäftigt - für zwei Dollar die Stunde.

Man kann nur bewundern, was aus diesem geschundenen Land geworden ist, seitdem es sich vom Joch der Weißen befreit hat.

Nicht in seinem Namen

Beim Konferenz-Frühstück eilte Ronnie Kasrils, Südafrikas Minister für die Geheimdienste, zu uns, um neben uns einen Platz zu ergattern. Kasrils, ein Jude, war niemals in Israel (wo er Verwandte hat) - bis vor einem Monat, um die besetzten Gebiete zu besuchen und den palästinensischen Ministerpräsidenten Ismail Haniyeh in sein Land einzuladen. Er machte einen kurzen Besuch in Tel Aviv, sah den Rabin-Platz und aß Fisch in Jaffa. “Es war ein sehr schöner Abend, den ich dort erlebte”, räumte er ein.

Tom Segev schrieb einmal, er sei “ein Bursche, mit dem er nicht allein in einem steckengebliebenen Fahrstuhl sein wolle.” Aber ich würde mich freuen, nicht nur mit ihm in einem steckengebliebenen Fahrstuhl zusammen zu sein, sondern auch außerhalb. Er ist ein Jude, der im Konflikt mit seinem Volk lebt, vielleicht auch mit seiner Identität - ein mutiger Freiheitskämpfer und Kommunist, der den Unterdrückten in ihrem Kampf beistand. Er war 27 Jahre im Exil und nun ist er Minister.

Ein Sohn litauischer Eltern, der eine Bar Mitzwa hatte und zur jüdischen Jugendbewegung gehörte, ist einer der faszinierendsten Charaktere, die aus der jüdischen Gemeinschaft kommen, die ihn jetzt verunglimpft. Er steht offen zu seinem Judentum, vielleicht sogar herausfordernd, auch als er kürzlich einen offiziellen Besuch im Iran und in Syrien machte. Er gründete einmal eine Bewegung, die sich “Nicht in meinem Namen” nannte, um sich von den Ungerechtigkeiten zu distanzieren, die Israel in den besetzten Gebieten begeht. Ronnie Kasrils hasst die israelische Besatzung.

Als wir mit einander sprachen, sagte er, dass die israelische Besatzung schlimmer sei als die Apartheid: die Weißen haben die Viertel der schwarzen Afrikaner nie bombardiert und mit Panzern angegriffen.

Genau wie die Pogrome

Wenn dieser warmherzige, fast Siebzigjährige irgend einen persönlichen Schutz hat, so ist er unsichtbar. Wir saßen in einem leeren Raum eines Gebäudes der Universität von Pretoria und unterhielten uns.

“Ihr seid Israelis und ich bin ein Südafrikaner”, betonte er, als ob er jede gemeinsame Identität ausschließen will.

“Ich bin davon überzeugt, dass sich der Kreis eines Tages schließt, und die Leute verstehen, dass ich weder anti-jüdisch noch anti-israelisch bin. Als Jude schmerzt es mich wirklich, dass es in diesem Land eine solche Feindseligkeit gegenüber Israel gibt und zwar wegen der Behandlung der Palästinenser …

Als wir im Fernsehen das Drama sahen, was in eurem Land geschieht, die unterdrückerischen Methoden gegenüber den Palästinensern, das Ausreißen der Bäume, wie die Panzer nach Jenin reinfuhren und die alte Frau, die über die Zerstörung ihres Hauses weint: “Die Juden, die Juden!” - es ist genau das, was meine Großmutter mir über die Pogrome zu erzählen pflegte: “Die Kosaken kommen, die Kosaken kommen!”. Ich bin versucht zu sagen: es sind nicht die Juden, es ist der Zionismus, der dies tut. Also entschied ich mich, um etwas zu sagen. Ich finde, das gehört zur jüdischen Tradition: den Mund aufzutun - im Namen des Gewissens.

Der Mann, der mich nach Jahren im Exil bei meiner Rückkehr nach Südafrika begrüßte, war der Rabbiner Cyril Harris … Er gab mir eine rote Kipa mit der Widmung: für den Freiheitskämpfer. Als ich dann aber begann, Israel zu kritisieren, als ich dachte, die Juden (in Südafrika) würden Ariel Sharon denunzieren, merkte ich, dass ich naiv bin. Ich war erstaunt, als ich beobachtete, dass die jüdische Gemeinschaft hier sich überhaupt nicht darum kümmerte, wer in Israel an der Macht ist und wie extrem die Politik gegen die Palästinenser war … Sie unterstützten blind jede Regierung dort. Rabbiner Harris wurde mein Feind. Er nannte mich einen Randjuden. Meine Antwort war: “Wir waren die einzigen, die gegen die Apartheid aufstanden und nun sind wir die Minorität gegen die Ungerechtigkeit.”

Als ich die besetzten Gebiete besuchte, kam ich auch durch Israel und sah die Wälder, die die Reste der palästinensischen Dörfer bedeckten. Als früherer Forstminister hat mich das besonders berührt. Ich ging auch in ein paar Siedlungen. Es ist wahnsinnig. Junge Amerikaner spuckten auf die Standarte an meinem Wagen. Die Besatzung erinnert mich an die dunkelste Zeit der Apartheid, doch sahen wir nie Panzer und die Luftwaffe, die auf die zivile Bevölkerung schoss. Es ist eine Ungeheuerlichkeit, wie ich sie vorher nie sah. Nun wird die Mauer gebaut, die Checkpoints und die Straßen nur für Juden - es dreht sich mir der Magen um, sogar mir, der unter der Apartheid aufgewachsen ist - es ist hundertmal schlimmer.

Wir wissen aus unserer Erfahrung, dass Unterdrückung Widerstand hervorruft und je grausamer die Unterdrückung ist, um so härter wird der Widerstand. Zu einem gewissen Zeitpunkt glaubt man, dass die Unterdrückung wirkt und dass man das andere Volk unter Kontrolle hat, indem man seine Führer und Aktivisten gefangen nimmt - aber letztlich wird der Widerstand siegen.

Wir sahen den Eingang von Kalkilia, die Mauer, die Menschen, die am Kontrollpunkt Schlange standen. Es ist ein wunderbares Land, ich liebe seine Landschaft. Aber ich weiß, es ist groß genug, um mehr Menschen aufzunehmen. Israel hat sich beeindruckend entwickelt - aber um wie viel beeindruckender würde es sein, wenn es eine gerechte Lösung zustande brächte. Es ist mir egal, ob in zwei Staaten oder in einem - das müsst ihr, die Israelis und die Palästinenser entscheiden.

Ich trank eine Tasse Kaffee mit dem Kommandeur am Erez-Checkpoint. Er erinnerte mich an das Zentralgefängnis in Pretoria, einem Ort, den ich oft besucht habe. Es war schrecklich, da durch zu gehen, um nach Gaza zu kommen. Zuerst wollte ich mit dem Mann am Checkpoint gar nicht reden, dann aber entschied ich, dass dies töricht sei. Die Israelis waren ausgesprochen nett mir gegenüber.

Was bedeutet für mich Zionismus? Als ich zehn Jahre alt war, bedeutete er für mich Sicherheit und ein nationale Heimstätte für die Juden. Bei meiner Bar Mitzwa schwenkte ich die israelische Flagge und ich war stolz über mein Jüdischsein. Das erste Buch, das ich zu meiner Bar Mitzwa erhielt, war “Die Revolte” von Menachem Begin. Mein größter Held war Asher Ginsburg, Ahad Ha’am. Später las ich nicht nur Herzl, sondern auch die Historiker Ilan Pappe, Benny Morris und Tom Segev - und ich fing an, 1948 in einem anderen Lichte zu sehen. Ich begriff, dass es eine ethnische Säuberung war.

Südafrika veränderte mich und stärkte meine südafrikanische Identität. Und dann begann ich zu verstehen, dass das Hauptproblem des Zionismus seine Exklusivität der Errichtung eines Nationalstaates und das Konzept des “auserwählten Volkes” ist. Sehr bald war ich dagegen. Die Errichtung eines Nationalstaates für Juden allein, erschien mir wie eine Parallele zur Apartheid. Die Apartheidführer sprachen auch über ein “auserwähltes Volk”. 1961 sprach der Ministerpräsident Hendrik Verwoerd, dass Israel wie Südafrika sei. Das öffnete mir die Augen. Viele Jahre war uns auch die militärische Kooperation zwischen Israel und Südafrika bewusst - eine gemeinsame offensive Militärflotte, Raketenboote, die Cheetah-Flugzeuge und das große Geheimnis der nuklearen Waffen. Der Ministerpräsident Johannes Vorster, der eine bekannte Nazivergangenheit hatte, wurde von euch wie ein Held empfangen. Das kam zu den Gefühlen hinzu, die ich für Israel hegte.

Mir ist der Holocaust und der Anti-Semitismus sehr bewusst, aber meine Erfahrung hier führte mich zu einer Schlussfolgerung, dass alle Formen von Rassismus mit Mitteln eines allgemeinen Kampfes bekämpft werden müssen. Ich habe einen Traum: er wird deine Einstellung verändern. So wie es hier geschah, wird eine Veränderung kommen. Wenn Politiker ein Abkommen erreichen, ist es erstaunlich, wie schnell das gewöhnliche Volk sein Denken verändert. Verändere die Führung und die wirtschaftlichen Bedingungen, und du wirst sehen, wie leicht eine Veränderung ist.”

Deutsche Übersetzung: Ellen Rohlfs

Veröffentlicht am

30. Mai 2007

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