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Deutschland auf dem Weg in den Unrechtsstaat?

Von Wolfgang Sternstein

Was unterscheidet den Rechtsstaat vom Unrechtsstaat? Im Rechtsstaat geht Recht vor Macht, im Unrechtsstaat Macht vor Recht. Das ist, zugegeben, eine idealisierte Beschreibung des Verhältnisses von Macht und Recht, denn letztlich ist es die Macht, die das Recht setzt. Das Recht aber wirkt auf die Macht zurück und setzt ihr Grenzen. Der Rechtsstaat unterscheidet sich folglich vom Unrechtsstaat durch die Selbstbindung der Macht an das Recht. Darin besteht seine friedenserhaltende, seine humanisierende Wirkung.

Eine uralte Regel des Vertragsrechts lautet: pacta sunt servanda (Verträge müssen eingehalten werden). Dieses Gebot bildet das Fundament einer Rechtsgemeinschaft, in der Rechtssicherheit Vertrauen zwischen den Vertragsparteien schafft. Im Nichtverbreitungsvertrag (NVV) aus dem Jahre 1968, der 1975 in Kraft trat, verpflichtet sich die Bundesrepublik als Vertragspartei in Artikel II, “Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen…” Soweit der Vertragstext. Doch wie sieht die Wirklichkeit aus?

In Büchel, nicht weit von Cochem im Moseltal entfernt, üben deutsche Tornadopiloten den Einsatz mit zehn US-amerikanischen Atombomben vom Typ B 61 mit einer Sprengkraft von 150 Hiroshima-Bomben, die von ihnen im Kriegsfall ins Ziel geflogen werden sollen, sobald der US-Präsident ihren Einsatz freigegeben hat. In Verbindung mit dem Mitspracherecht in der nuklearen Planungsgruppe der Nato läuft das unter dem Ettikett: “nukleare Teilhabe der Bundesrepublik”. Damit verstößt die Bundesrepublik eklatant gegen Art. II des Nichtverbreitungsvertrags. Daran ändert auch die Einbindung in das kollektive Sicherheitsbündnis Nato nichts.

Und weiter. In Art. VI des NVV verpflichten sich die Vertragsparteien, “in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle”. Diese Selbstverpflichtung gilt in erster Linie für die Atomwaffenstaaten. Sie gilt aber auch für die Bundesrepublik als Vertragspartei des NVV und Nato-Mitglied. Was hat sie in den 28 Jahren seit Inkrafttreten des Vertrages getan, um dieser Selbstverpflichtung nachzukommen und auf die Aufnahme derartiger Verhandlungen zu drängen? Nichts! Und das, obwohl der Internationale Gerichtshof (IGH) in seinem Gutachten zur Völkerrechtswidrigkeit von Atomwaffen vom Juli 1996 durch einstimmiges Richtervotum die Verpflichtung der Atomwaffenstaaten zur nuklearen Abrüstung noch einmal eindringlich angemahnt hat. Buchstabe F des Gutachtens stellt fest: “Es besteht eine völkerrechtliche Verpflichtung, in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen und zum Abschluss zu bringen, die zu nuklearer Abrüstung (Entwaffnung) in allen ihren Aspekten unter strikter und wirksamer internationaler Kontrolle führen.” Was ist seitdem geschehen? Wieder nichts!

Schließlich hat die Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages im Jahre 2000 die Verpflichtung noch einmal nachdrücklich unterstrichen. Sie hat sogar eine gewisse Zweideutigkeit des Art VI NVV beseitigt. Die Formulierung “sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung”, wurde von den Falken in den Atomwaffenstaaten so ausgelegt, als sei die nukleare Abrüstung an die allgemeine und vollständige Abrüstung sämtlicher Waffen gekoppelt. Das Dokument der Überprüfungskonferenz, das offiziell Teil der Vertragsumsetzung ist, unterstreicht die unzweideutige Verpflichtung der Atomwaffenstaaten zur vollständigen Abschaffung ihrer nuklearen Arsenale mit dem Ziel der nuklearen Abrüstung, zu der alle Vertragsstaaten gemäß Art. VI verpflichtet sind.

Was ist seitdem geschehen? Nochmal nichts! Die Vertragsstaaten des NVV und insbesondere die Bundesrepublik verhalten sich folglich permanent vetragswidrig. Statt ihre seit 28 Jahren bestehende Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung einzulösen, haben sie ein schädliches und gefährliches nukleares Wettrüsten im Kalten Krieg veranstaltet mit unabsehbaren Folgen für den Weltfrieden und die Zukunft der Menschheit. Eine dieser Folgen ist die Entstehung weiterer inoffizieller Atomwaffenstaaten, wie Israel, Indien und Pakistan, die nicht Mitglieder des NVV und zudem in Konflikte verwickelt sind, die zu den derzeit virulentesten gehören. Selbstverständlich werden andere Staaten wie Nordkorea, Libyen, Syrien, Iran, Saudi-Arabien und andere folgen, was zur Folge hat, dass es immer schwieriger wird, die wachsende Zahl der Atomwaffenstaaten an einen Verhandlungstisch zu bringen. Das Ziel des NVV, die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern und einen Weg zu ihrer Abschaffung zu eröffnen, rückt damit in unerreichbare Ferne.

Die berechtigte Furcht, Terroristen könnten früher oder später Zugriff auf Atomwaffen erhalten, ist kein Argument gegen, sondern für den NVV, denn das beste Mittel, dieser Gefahr entgegenzuwirken, ist ihre Abschaffung. Damit würde die Gelegenheit für Diebstahl, Raub und Schwarzhandel weitgehend beseitigt. Terroristen, soviel ist jedenfalls gewiss, lassen sich durch Gegenterror nicht abschrecken.

Was ist ein Vertrag wert, der nur die schwachen, nicht aber die starken Vertragsparteien bindet? Sind die Nichtatomwaffenstaaten überhaupt noch an einen Vertrag gebunden, dem sie nur unter der Bedingung zugestimmt haben, dass die Atomwaffenstaaten ihre Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung erfüllen? Sage bloß keiner, er sei nichts wert! Er ist viel wert, denn er dient als Instrument, um die schwachen Vertragsparteien, wie z.B. den Iran, zur Einhaltung eben jenes Vertrages zu zwingen, den die starken permanent verletzen. Nicht genug also, dass das Recht im Konflikt mit der Macht gewöhnlich den Kürzeren zieht, es tritt jetzt in den Dienst der Macht. Es wird zum Instrument zynischen Machtmissbrauchs.

Überflüssig zu sagen, dass ich nicht für die Annullierung des NVV plädiere, sondern für seine Einhaltung. Dabei übersehe ich keineswegs die praktischen Probleme, die mit der Umsetzung des Vertrages verbunden sind. Sie im Einzelnen zu erörtern, ist hier nicht der Ort. Es muss genügen, auf die umfangreiche wissenschaftliche Literatur zum Thema zu verweisen.

Kein Zweifel, die USA haben wesentlichen Anteil an der Gründung der UNO und der Schaffung einer internationalen Friedensordnung in Gestalt der UN-Charta. Desto schmerzlicher ist es, feststellen zu müssen, dass sie zur Zeit an der Spitze derer marschieren, die diese Friedensordnung zerstören. Wer das Völkerrecht einfordert, wo es den eigenen nationalen Interessen dient, und es souverän missachtet, wo es ihnen im Wege steht, fügt ihm irreparablen Schaden zu. Denn auch hier gilt: wird die Selbstbindung der Macht an das Recht aufgegeben, verliert es seine streitschlichtende, friedenserhaltende und humanisierende Funktion. Gerade wir Deutsche sollten aus leidvoller Erfahrung wissen, wohin das führt.

Es geht aber nicht nur um die Frage der Verbindlichkeit völkerrechtlicher Verträge, es geht auch um die Völkerrechts- und Verfassungswidrigkeit von Atomwaffen und der Politik der nuklearen Abschreckung. Bereits vor 42 Jahren hat der große Humanist, Arzt und Theologe Albert Schweitzer die Sache, um die es hier geht, auf den Punkt gebracht, als er im fernen Urwaldwinkel Lambarene schrieb:

“In der Menscheitsgeschichte von heute handelt es sich darum, ob die Gesinnung der Humanität oder die der Inhumanität zur Herrschaft gelangt. Wenn es die der Inhumanität ist, die nicht darauf verzichten will, unter Umständen von den grausigen Atomwaffen, die heute zur Verfügung stehen, Gebrauch zu machen, ist die Menschheit verloren. Nur wenn die Humanitätsgesinnung, für die solche Waffen nicht in Betracht kommen, die Gesinnung der Inhumanität verdrängt, dürfen wir hoffend in die Zukunft blicken. Die Gesinnung der Humanität hat heute weltgeschichtliche Bedeutung.” (1)

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat sich in dieser Frage von “weltgeschichtlicher Bedeutung” auf die Seite der Inhumanität geschlagen und damit gegen Geist und Buchstaben des Grundgesetzes verstoßen. Das ist ein schwerwiegender Vorwurf, der folglich einer sorgfältigen Begründung bedarf.

In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat sich der Zweite Senat im Zusammenhang mit dem Streit um die “Nachrüstung” mehrmals zur Frage der Verfassungsmäßigkeit von Massenvernichtungswaffen geäußert. Er hatte keine Bedenken, Atomwaffen und die Politik der nuklearen Abschreckung für verfassungskonform zu erklären. Seitdem hat sich die Völkerrechtslage allerdings durch das Gutachten des Internationalen Gerichtshofes (IGH) vom 8. Juli 1996, das die Drohung mit dem Einsatz und den Einsatz von Atomwaffen für generell völkerrechtswidrig erklärte, wesentlich verändert. In Buchstabe D des Gutachtens stellen die Richterinnen und Richter des IGH einstimmig fest:

“Ein Androhen des Einsatzes oder ein Einsetzen von Atomwaffen müsste mit den Anforderungen vereinbar sein, die sich aus dem für bewaffnete Konflikte geltenden Völkerrecht, insbesondere aus den Prinzipien und Regeln des sog. humanitären (Kriegs-) Völkerrechts und aus den Verpflichtungen aus abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträgen und anderen Übereinkünften ergeben, die speziell Atomwaffen betreffen.” (2)

Es liegt auf der Hand, dass Atomwaffen mit den genannten Anforderungen nicht vereinbar sind. Selbst das von Militärs gelegentlich vorgebrachte Argument, ein Atomschlag gegen ein Kriegsschiff auf See oder eine Atomwaffenbasis in der Arktis verstoße nicht gegen die allgemeinen Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts, erweist sich als nicht stichhaltig, denn selbst der Einsatz einer “kleinen” Atomwaffe (wobei die Hiroshima-Bombe bei den Militärstrategen als klein gilt) kann in der aufgeheizten Atmosphäre einer kriegerischen Auseinandersetzung einen Dammbruch für den massenhaften Einsatz von Atomwaffen bewirken. Darüber hinaus kann die bei der Explosion freigesetzte Radioaktivität das Leben und die Gesundheit Dritter schädigen.

Aus diesem Sachverhalt haben drei Richter des Internationalen Gerichtshofes denn auch die Schlussfolgerung hergeleitet, dass Atomwaffen bereits heute als völkerrechtswidrig gelten müssen. Richter Weeramantry hat in seinem Sondervotum die allgemeinen Regeln des Kriegsvölkerrechts ausdrücklich benannt, gegen die Atomwaffen zwangsläufig verstoßen:

1. Das Verbot, im Krieg unnötige Leiden zuzufügen.
2. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit.
3. Das Prinzip der Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten.
4. Das Verbot des Völkermordes und von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
5. Das Verbot, der Umwelt dauernde und schwere Schäden zuzufügen.
6. Die Menschenrechte.
7. Das Verbot des Einsatzes von Gift oder giftiger Waffen.
8. Das Verbot, unbeteiligte und neutrale Staaten bei einem Waffeneinsatz in Mitleidenschaft zu ziehen.

Die Mehrheit der Richter des Internationalen Gerichtshofs mochte sich dieser konsistenten und stringenten Argumentation nicht anschließen. Sie konstatierte in E(2) eine geringfügige Lücke im Völkerrecht:

“Allerdings kann der Gerichtshof angesichts der gegenwärtigen Lage des Völkerrechts und angesichts des ihm zur Verfügung stehenden Faktenmaterials nicht definitiv die Frage entscheiden, ob die Androhung oder der Einsatz von Atomwaffen in einer extremen Selbstverteidigungssituation, in der die Existenz eines Staates auf dem Spiele stünde, rechtmäßig oder rechtswidrig wäre.” (3)

Auf die Inkonsequenz dieser Feststellung soll hier nicht näher eingegangen werden. Festzuhalten bleibt indes, es handelt sich keineswegs um eine knappe Entscheidung, sondern de facto um eine 4:10 Entscheidung, da die Beschlussvorlage in E(1), nach der Atomwaffen für generell völkerrechtswidrig erklärt werden, von den Richtern Weeramantry, Shahabudeen und Koroma abgelehnt wurde, weil sie ihnen nicht weit genug ging. Festzuhalten ist auch: Der Internationale Gerichtshof hält die Androhung und den Einsatz von Atomwaffen in dieser Extremsituation keineswegs für gerechtfertigt, sondern lässt es offen, ob er gerechtfertigt sein könnte. In Verbindung mit Buchstaben F ist ohnehin klar, dass diese Lücke im Völkerrecht so sie denn besteht durch die vom Gericht angemahnten Verhandlungen über die Abschaffung dieser Waffen geschlossen würde.

Die Völkerrechtslage ist somit weitgehend geklärt. Die Androhung des Einsatzes und der Einsatz von Atomwaffen sind generell völkerrechtswidrig. Die Drohung mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen nach wie vor offizielle Nato-Strategie ist folglich eklatant völkerrechtswidrig, denn die vom Gericht angesprochene extreme Ausnahmesituation liegt nicht vor. Das Gleiche gilt für die Bestrebungen der USA, Atomsprengköpfe mit relativ geringer Sprengkraft sogenannte Mini-Nukes als bunkerbrechende Waffen zu entwickeln und auf dem Gefechtsfeld einzusetzen.

Atomwaffen und die Politik der nuklearen Abschreckung sind aber nicht nur völkerrechtswidrig, sie sind auch verfassungswidrig. Abschreckung wirkt, das wissen wir aus Erfahrung, niemals hundertprozentig. Jeder Vater, jede Mutter, jeder Lehrer, jeder Staatsanwalt und jeder Richter weiß das. Das Furchtbare, das geradezu Teuflische am Abschreckungsprinzip ist jedoch, dass derjenige, der durch Strafandrohung von einem bestimmten Verhalten abzuschrecken sucht, sich damit in der Schlinge der Selbstbindung fängt. Versagt die Abschreckung, so ist er gezwungen, die Strafandrohung wahr zu machen, andernfalls verliert er seine Glaubwürdigkeit. Folglich ist er gezwungen zu tun, was er vielleicht gar nicht tun will.

Das Gleiche gilt für die atomare Abschreckung: Entweder hält man an ihr fest, dann ist man gezwungen, früher oder später Atomwaffen einzusetzen, oder, wenn man das nicht will, muss man sie abschaffen. Ein Drittes gibt es nicht. Reformpädagogen, Strafrechtsreformer und Friedensforscher haben daraus den Schluss gezogen, dass wir vom Abschreckungsprinzip wegkommen müssen, um uns aus der Schlinge der Selbstbindung zu befreien.

Wenn das auf lange Sicht unvermeidliche Versagen der Abschreckung die Vernichtung ganzer Völker, ja der Menschheit und allen höheren Lebens auf der Erde zur Folge haben kann, dann ist die Politik der nuklearen Abschreckung ethisch, politisch und rechtlich nicht zu rechtfertigen.

Ich kenne den Einwand: Immerhin hat die nukleare Abschreckung den dritten Weltkrieg zwischen den Supermächten verhindert und insofern zum Frieden beigetragen, ja den nuklearen Holocaust gerade verhindert. Sie wird es folglich auch in Zukunft tun, zumal sich die Gefahr eines Atomkriegs in Mitteleuropa seit dem Ende des Kalten Krieges drastisch vermindert hat. Darauf kann ich nur mit General George Lee Butler , dem Oberkommandierenden der amerikanischen Atomstreitkräfte in den Jahren 1991-94, antworten:

“Wir sind im Kalten Krieg dem atomaren Holocaust nur durch eine Mischung von Sachverstand, Glück und göttlicher Fügung entgangen, und ich befürchte, das letztere hatte den größten Anteil daran.” (4)

Der Mann weiß, wovon er spricht. Das Zitat ist einer Rede entnommen, die Butler im Frühjahr 1999 vor kanadischen Friedensorganisationen hielt. Wer diese Rede liest, dem stehen die Haare zu Berge über das Ausmaß an Unwissenheit, Blindheit und Verantwortungslosigkeit der militärischen und politischen Führung der USA und zweifellos auch der ehemaligen Sowjetunion. Und was die Zukunft betrifft, so sagte er in einem Interview, das er dem SPIEGEL 1998 gab:

“Wir handelten wie ein Betrunkener beim russischen Roulett, der zehnmal die Pistole abdrückt und dann erklärt: Guck mal, es ist überhaupt nicht gefährlich. In Wahrheit war das Nuklear-Roulett überaus gefährlich und arrogant. Es ist ein Wunder, dass wir es geschafft haben, uns irgendwie durchzuwursteln. Nukleare Abschreckung ist ein Hasardspiel, das irgendwann
verloren geht.”
(5)

Ich nenne den Atomkrieg, gleichgültig ob er ein Zehntel, ein Viertel, die Hälfte oder die ganze Menschheit auslöscht, das denkbar größte Verbrechen. Mord ist zweifellos ein schweres Verbrechen, Massenmord ein noch schwereres, Völkermord ein noch weit schwereres, doch das denkbar größte Verbrechen ist der Mord an der Menschheit, auch wenn wir es juristisch korrekt Menschheitstotschlag nennen, weil es bei den Tätern an den niedrigen Motiven fehlt. Denkt man an die Machtgier der Politiker und die Profitgier der Rüstungsindustriellen, so fehlt es auch an den niedrigen Motiven nicht. Dass dieses Verbrechen legal geplant, vorbereitet und am Ende auch durchgeführt wird, macht die Sache nicht besser, sondern schlimmer. Alle wirklich großen Verbrechen im vergangenen Jahrhundert, sagte der amerikanische Friedensaktivist Philip Berrigan, waren legal: Der Erste und der Zweite Weltkrieg, der GULAG, Auschwitz und Hiroshima, und wenn die Menschheit eines Tages im atomaren Inferno zugrundegeht, wird auch das legal sein. Gegen die Vorbereitung dieses Verbrechens gewaltfreien Widerstand zu leisten, ist die Pflicht eines jeden Menschen, will er an diesem Verbrechen nicht mitschuldig werden.

Kein Zweifel, die nach wie vor gültige Nato-Doktrin der nuklearen Abschreckung verstößt gegen das Grundgesetz, denn sie bedroht im Fall ihres auf die Dauer unausweichlichen Versagens nicht allein den in Art. 79, Abs. 3 für unveränderbar erklärten Kernbestand der Verfassung, sondern darüberhinaus ihre Grundlagen: Staatsvolk, Staatsterritorium und Staatsorganisation mit Vernichtung. Mag die Gefahr eines Nuklearkrieges in Europa derzeit gering sein, so ist das noch lange keine Garantie, dass das auch künftig der Fall sein wird. Die Erfahrung lehrt vielmehr, dass sich die Weltlage in kurzer Zeit dramatisch verändern kann.

Seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat es zahlreiche Versuche gegeben, eine Revision der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Atomwaffen zu erreichen. (6) Sie sind alle gescheitert. Die Sachverhalte, die ihnen zugrundelagen, waren Aktionen des zivilen Ungehorsams kleiner Gruppen von Friedensaktivistinnen und Friedensaktivisten. Eine dieser Gruppen, der ich angehörte, drang am 7.8.1999 in den Fliegerhorst Büchel ein, nachdem sie den Zaun, der das Gelände umgibt, durchschnitten hatte, um gegen die ihrer Auffassung nach völkerrechts- und verfassungswidrige nukleare Teilhabe der Bundesrepublik und die Politik der nuklearen Abschreckung zu protestieren.

Das Gericht verurteilte zwei der fünf Angeklagten, darunter auch mich, zu einem Monat Gefängnis auf Bewährung und 60 Stunden gemeinnütziger Arbeit. Nach Ausschöpfung des Rechtswegs wandten wir uns mit einer Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht. Wir machten geltend, dass Art. 25 GG uns nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet, die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, wie sie von Richter Weeramantry angeführt wurden, zu beachten, denn sie gehen den deutschen Gesetzen - auch den Strafgesetzen! - vor und erzeugen Rechte und Pflichten für jeden Bewohner des Bundesgebietes. “Ist in einem Rechtsstreite zweifelhaft, ob eine Regel des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts ist und ob sie unmittelbare Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt (Artikel 25), so hat das Gericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen.” (Art. 100, Abs. 2 GG)

Das Bundesverfassungsgericht konnte sich nicht dazu durchringen, seine Rechtsprechung aus den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Lichte des Gutachtens des Internationalen Gerichtshofs zu revidieren. Selbst der Wunsch des großen alten Mannes der deutschen Verfassungsrechtsprechung, Helmut Simon, stieß in Karlsruhe auf taube Ohren:

“Als früherer Verfassungsrichter wünsche und hoffe ich nicht zuletzt, dass die Beurteilung des Internationalen Gerichtshofes auch Eingang in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts findet. All zu lange hat sich der militärische Bereich als merkwürdig resistent gegenüber verfassungsrechtlichen Anforderungen erwiesen.” (7)

Eine Änderung der Verfassungsrechtsprechung ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Meines Erachtens gibt es nur noch eine einzige Instanz, die fähig wäre, dem Völkerrecht Geltung zu verschaffen: Die Macht des Volkes, die Macht der öffentlichen Meinung. Das hat schon Albert Schweitzer klar erkannt, als er 1961 schrieb:

“Kein Land, in welcher Gegend der Erde es auch gelegen sein mag, kann sich der Hoffnung hingeben, dass das Vorhandensein von Atomwaffen es nichts angeht und es nichts davon zu befürchten hat. Darum muss die Erkenntnis dieser Gefahr bei allen Völkern der Erde verbreitet sein. Und alle müssen wissen, dass die Abschaffung dieser Waffen aufgrund der Tatsache, dass sie gegen das Völkerrecht sind, gefordert werden muss, wenn sie die beste Aussicht auf Erfolg haben soll. In dieser Weise ist sie am einfachsten und stärksten juristisch begründet. Wenn die öffentliche Meinung bei allen Völkern sich dieses Arguments bewusst wird und es geltend macht, dann kommt es unaufhaltsam dazu, dass diese grausamen Waffen abgeschafft werden.” (8)

Wir müssen uns fragen lassen, was wir in den 42 Jahren, die seitdem vergangen sind, getan haben, um das von Schweitzer so klar formulierte Ziel zu erreichen. Wohl stimmten bei einer repräsentativen Umfrage des Forsa-Instituts im Jahre 1998, die heute wohl kaum anders ausfallen dürfte, 93 Prozent der Befragten der Forderung zu: “Atomwaffen sind grundsätzlich völkerrechtswidrige Waffen und sollten weder produziert noch gehortet werden dürfen.” Und 87 Prozent der Befragten stimmten der Auffassung zu: “Die Bundesregierung sollte dafür sorgen, dass die auf deutschem Boden gelagerten Atomwaffen umgehend beseitigt werden.” Das Gleiche gilt für die Auffassung: “Die Atommächte sollten zur Schaffung einer atomwaffenfreien Welt schnellstmöglich mit der Verschrottung der eigenen Atomwaffen vorangehen.”

Nun gilt es, aus dieser Meinungsmehrheit eine Willensmehrheit und schließlich eine Entscheidungsmehrheit im Bundestag zu machen. Deutschland hat durch seine Politik in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts nicht unerheblich zur Erfindung und dem Einsatz dieser “grausamen Waffen” beigetragen. Daraus erwächst uns die Verpflichtung, uns mehr als andere für ihre Abschaffung einzusetzen.

Anmerkungen:
(1) Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten. München 1982, S. 132

(2) IALANA (Hrsg.): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. Münster 1997, S. 9

(3) Ebenda, S. 10

(4) Frankfurter Rundschau 1.9.1999, S. 9 - veröffentlicht auch auf der Website des Lebenshauses: “Sind Kernwaffen notwendig?”

(5) Der Spiegel 32/1998, S. 139

(6) Es handelt sich um eine Richtervorlage und vier Verfassungsbeschwerden. Seit 1990 haben am EUCOM acht “Entzäunungsaktionen” und am Fliegerhorst Büchel fünf “ehrenamtliche Inspektionen im Namen des IGH” stattgefunden, an denen über sechzig Personen beteiligt waren. Sie wurden alle zu Geld- oder Haftstrafen verurteilt. Siebzehn davon sind ins Gefängnis gegangen, um mit einer “Mahnwache hinter Gittern” zum gewaltfreien Widerstand gegen Atomwaffen aufzurufen. Zur Richtervorlage: Wolfgang Sternstein u.a.: Atomwaffen abschaffen!, Idstein 1998, S. 87. Zur Abweisung der Vorlage: BVerfGE 100, 209-214

(7) IALANA (Hrsg.): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. Münster 1997, S. 6

(8) Menschlichkeit und Friede. Berlin o.J. (1991), S. 172

Wir danken unserem Freund und Lebenshaus-Mitglied Dr. Wolfgang Sternstein für die freundliche Genehmigung dieses Artikels.

Wolfgang Sternstein ist Friedens- und Konfliktforscher, seit 1975 in der Bürgerinitiativen-, Ökologie- und Friedensbewegung aktiv, Teilnahme an mehr als fünfzig gewaltfreien Aktionen, ein duzendmal vor Gericht wegen Aktionen des zivilen Ungehorsams, zuletzt wegen mehrerer Entzäunungsaktionen am EUCOM, der Kommandozentrale für die amerikanischen Streitkräfte in Europa, achtmal im Gefängnis, weil er sich weigerte, die Geldstrafen zu bezahlen, insgesamt ein Jahr und zwei Monate.

Veröffentlichungen zur Theorie und Praxis der gewaltfreien Aktion.

Mehr Informationen über Wolfgang Sternstein bzw. Aktionen des Zivilen Ungehorsams gegen Atomwaffen finden sich:
> Lebenshaus-Website unter Sternstein, Wolfgang und
> auf der Website von UWI e.V. Online - Institut für Umweltwissenschaft und Lebensrechte e.V.

Veröffentlicht am

28. November 2003

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