Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

War Tolstoi “antijüdisch” oder ein Freund der Juden?

Der russische Friedensbote stellte die Botschaft der Propheten in den Geschwisterkreis einer universellen Wahrheit – ein anregendes Lesebuch beleuchtet jetzt sein Verhältnis zum Judentum

Von Redaktion Tolstoi-Friedensbibliothek

Schon zu Lebzeiten Leo N. Tolstois, so schreibt die Literaturwissenschaftlerin Inessa Medzhibovskaya, kursierten zur Frage, wie sich der Dichter denn zu Juden, Judentum oder "Judenfrage" stelle, Mythen, Legenden und polarisierende Schilderungen: "Man verdächtigte ihn entweder eines versteckten Antisemitismus oder einer übertriebenen Judeophilie"; dem rechten Lager galt der Graf als "satanischer Trommler, der mit den Juden im Bunde stand und mit Kräften, die sich gegen Russland verschworen". Unter der jüdischen Anhängerschaft gab es die verständliche Neigung, die Anwaltschaft des großen Vorbildes für die Sache der Bedrückten zu idealisieren, während einige jüdische Kritiker dem Dichter Untätigkeit bzw. Gleichgültigkeit vorwarfen.

Geradezu gegensätzlich klingen die Zeugnisse aus unterschiedlichen Zeiten: "Das alte Testament lese ich nicht, denn die Frage besteht nicht darin, wie der Glaube der Juden war, sondern worin der Glaube Christi besteht" (Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien, 1879-1881). Im März 1890 heißt es hingegen in einem Brief an den Philosophen Wladimir S. Solowjow: "Der Grund unseres Entsetzens über die Unterdrückung der jüdischen Nation ist bei uns beiden derselbe: Die Erkenntnis der Brüderschaft der Völker und im besonderen die Freundschaftsbande mit den Juden, aus deren Mitte der Nazarener hervorgegangen ist und die von der Dummheit der sich Christen nennenden Götzendiener so viel zu leiden hatten und noch immer zu leiden haben."

War der russische Schriftsteller nun ein antijudaistischer Christ oder ein Freund der Juden? Über seine "jüdischen Fragen" wird heftig gestritten. In der deutschsprachigen Literatur gibt es bislang neben einem trefflichen Aufsatz des Mainzer Slawisten Rainer Goldt (2014) keine weiterführenden Veröffentlichungen zum Thema. Ein neuer Band der Tolstoi-Friedensbibliothek, herausgegeben in Kooperation mit dem Lebenshaus Schwäbische Alb e.V., sorgt auf 660 Seiten für Abhilfe. Er lässt im Originalwortlaut vor allem dem Dichter selbst und seine jüdischen Weggefährten zu Wort kommen. Eingeleitet wird die Sammlung durch einen umfangreichen Forschungsbeitrag des Herausgebers Peter Bürger.

Die Leserinnen und Leser werden nicht bevormundet. Sie können sich anhand der breit angelegten Edition von Quellen, die unterschiedlichen Lebensphasen und Textgattungen entstammen, ein eigenes Bild verschaffen: In der ersten Abteilung werden Zeugnisse aus Tolstois Dichtungen, religiösen Werken, sozialethischen Schriften und Briefen dargeboten sowie "dokumentarische Darstellungen seiner Haltung zum Judentum" aus der Schreibwerkstatt von vier Zeitgenossen (Raphael Löwenfeld, Isaak B. Feinerman, Faiwel Goetz, Alexander Goldenweiser). Es folgen fünfzehn "Texte über Tolstoi von deutschsprachigen Autoren aus jüdischen Familien" (Rezeption, wertschätzende Würdigung und Kritik 1904-1918, 1928). Den Abschluss bilden u.a. eindrucksvolle Stellungnahmen von Herman Bernstein (1908) und Scholem Alejchem (1911). Ingrid von Heiseler hat wenige Wochen vor ihrem Tod auch das Tolstoi-Buch des us-amerikanischen Rabbiners Joseph Krauskopf (1911) für die neue Sammlung übersetzt.

Der Vorzug einer gründlichen Quellenlektüre besteht darin, dass Zwiespältigkeiten und Widersprüche nicht einfach übergangen werden können. Die Sammlung "Begegnung mit dem Judentum" sorgt für viele Lesefreuden und erschließt erstmalig eine solide Grundlage zur Überprüfung kontroverser Forschungsthesen. Es ergeht die Einladung zum streitbaren, aber sachgerechten Diskurs. Die Eingangsfrage muss gar nicht zwingend im Sinne eines "Entweder … oder" beantwortet werden.

Wahre Religion, so Leo N. Tolstoi, führt zur Erkenntnis der Einen Menschheit und überwindet die Gewalt. Nationalreligiöse Komplexe und Staatskulte sind hingegen keine göttlichen Offenbarungen, sondern menschengemachte Ideologien zur Rechtfertigung von Herrschaft und Krieg. Der Glaube der Propheten Israels leuchtet Tolstoi zufolge im Geschwisterkreis einer universellen Wahrheit. Kein anderes Werk hat er in den Lese-Sammlungen der letzten Lebensjahre so oft zitiert wie den Talmud.

Leo N. Tolstoi: Begegnung mit dem Judentum. Briefe und andere Zeugnisse des Dichters, nebst Darstellungen von jüdischen Zeitgenossen. Ausgewählt und eingeleitet von Peter Bürger. (= Tolstoi-Friedensbibliothek: Reihe B, Band 13). Hamburg: BoD 2025.

Hardcover-Version ǀ ISBN: 978-3-8192-3389-0 (660 Seiten; 34 Euro; fester Einband;
https://buchshop.bod.de/begegnung-mit-dem-judentum-leo-n-tolstoi-9783819233890 )
Paperback-Ausgabe ǀ ISBN: 978-3-8192-2387-7 (660 Seiten; 24,99 Euro;
https://buchshop.bod.de/begegnung-mit-dem-judentum-leo-n-tolstoi-9783819223877 )

Übersicht und Informationen über die gesamte Reihe (einschließlich der kostenfrei abrufbaren Digitalversionen) auf der Projektseite: www.tolstoi-friedensbibliothek.de

Das Lebenshaus Schwäbische Alb e.V. ist Projektpartner der Tolstoi-Friedensbibliothek und bei der hier vorgestellten neuen Veröffentlichung.

Veröffentlicht am

31. Juli 2025

Artikel ausdrucken

Weitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von