Wessen Staat, wessen Regierung?Von Georg Rammer Wir haben eine neue Regierung! Demokratisch gewählt, ausgestattet mit einer Mehrheit; ihr Chef ein Politiker, den man seit Jahrzehnten gut kennt. Da müsste doch Aufbruchstimmung und Zuversicht herrschen! Aber laut einer Allensbach-Umfrage für die FAZ setzt nicht mal jeder Vierte Hoffnung in die neue Koalition; Lösungen für die Probleme des Landes trauen ihr 21 Prozent der Befragten zu. Bei genauer Betrachtung muss man den Skeptikern zustimmen: Wenn diese Regierung mit ihrem Programm vier Jahre überhaupt durchhält, wird sie desaströse soziale Verhältnisse hinterlassen und die AfD zur stärksten Partei pushen. CDU/CSU und SPD wollen nicht verstehen, dass der Pessimismus, die miese Stimmung in der Bevölkerung ein Ergebnis ihrer neoliberalen Politik der letzten 25 Jahren ist. Wie sollten die Leute von der Neuauflage der alten Koalition die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse erwarten? Man fragt sich allerdings, warum das Wahlvolk dennoch den Parteien die Mehrheit für die Regierungsbildung verschafft, deren Politik sie als ungerecht einschätzt: Drei Viertel der Bevölkerung meint, dass in Deutschland zu oft das Elternhaus über die Chancen entscheidet, die man im Leben hat. Auch die täglichen Meldungen geben keinen Anlass für Hoffnungen: "Arme immer ärmer", "Gesundheit immer teurer", "Ende der Acht-Stunden-Regel?" "Kommunen pleite". Wahlentscheidend waren deshalb die Themen soziale Gerechtigkeit und Sicherheit und nicht die von der AFD abgekupferten flüchtlingsfeindlichen Forderungen. Welch ein Widersinn: Viele wollen das Vertrauen in die Parteien nicht aufgeben, obwohl sie selbst nicht glauben, dass es berechtigt ist. Der neue Finanzminister heißt Lars Klingbeil. Er ist ein verdienter Parteigenosse. Aber wofür steht er eigentlich, welche Ziele verfolgt er, welche Überzeugungen bewegen ihn? Über den neuen Kanzler wissen wir immerhin, dass er als Millionär mindestens zwölf Aufsichts-, Verwaltungs- und Beiräten in Konzernen und Banken angehörte; der bedeutendste Posten war bekanntlich der Aufsichtsratsvorsitz beim deutschen Ableger der Investmentgesellschaft BlackRock, weltgrößter Vermögensverwalter mit entsprechendem politischem Einfluss. Wie kann Friedrich Merz seine "Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden"? Oder setzt er das Wohl des Volkes mit dem der Konzerne und Banken gleich, deren Interessen er bislang gedient hat? Die Industrie- und Arbeitgeberverbände stellen bereits bekannte neoliberale Forderungen: BDI-Präsident Leibinger will Steuerentlastungen, geringe Energiekosten und Bürokratieabbau. BDA-Präsident Dilger spitzt zu: Weniger Steuern für die Reichsten, runter mit dem Rentenniveau, für private Altersvorsorge, weg mit der "Sozialneiddebatte"; der Staat müsse endlich lernen, "seine Gier zu zähmen". Ein Mindestlohn per Gesetz gilt ihm als Kampfansage. Aber er ist zuversichtlich, denn: "Wir haben viele Gespräche mit Merz geführt. Er hat die Dinge verstanden, er weiß, was dieses Land braucht." Na dann! Nicht nur Merz, auch MinisterInnen stehen Wirtschaftsinteressen nahe, wie LobbyControl zeigt: "Mehrere Kabinettsmitglieder sind oder waren im unternehmerischen Lobbyverband Wirtschaftsrat der CDU tätig, dessen Vizepräsident Merz bis 2021 war. Der Wirtschaftsrat vertritt die Interessen von Großkonzernen und Verbänden wie Deutsche Bank, Nestlé oder dem VDA." Die Rüstungsindustrie hält sich noch mit Forderungen zurück, denn sie erlebt ohnehin eine Auftrags- und Profitexplosion. Natürlich arbeitet sie aber daran, die politischen Beschränkungen durch frühere Exportkontrollen oder noch bestehende Zivilklauseln an Universitäten ein für alle Mal loszuwerden. Und die Bundeswehr dringt zusammen mit der Waffenbranche auf eine neue Rüstungsoffensive, insbesondere High-Tech-Projekte: Hunderte Satelliten, Kampfdrohnen, KI-gesteuerte Raketen. Der Militarismus bleibt in der neuen Regierung tief verankert. Der alte und neue Minister für Kriegstüchtigkeit Pistorius (SPD) steht für massive Aufrüstung und Kriegsmentalität; er bleibt standfest gegen Friedensverhandlungen und steht für Konfliktlösung durch Gewalt. Treu zur Seite steht ihm Außenminister Wadephul (CDU), der daran festhält: "Russland wird für immer ein Feind für uns bleiben." Das ist quasi seine Botschaft zum 80. Jahrestag – der Befreiung oder der Niederlage Deutschlands, Herr Wadephul? Seine Haltung garantiert auch in der Zukunft Feindbilder und wertet Diplomatie als Schwäche. Seine Kriegsmentalität verbindet sich bestens mit dem reaktionären Geist des neuen Staatsministers für Kultur und Medien, Wolfram Weimer. German Foreign Policy zitiert von ihm Äußerungen, die in Abgründe blicken lassen: Der "erdrutschartige Machtverlust" Europas durch die Entkolonialisierung macht ihm Sorgen, und er lobt die "zivilisatorische Leistung, die in einer Welteroberung steckt". Dieser Mann soll also die deutsche Kultur fördern und in der Welt repräsentieren. GFP schließt: "Seine Positionen sind geeignet, eine ideologische Grundlage für eine Formierung der EU sowie für eine aggressiv ausgreifende Weltpolitik zu stellen." Die ersten Maßnahmen der Regierung: Bundesinnenminister Dobrindt will sofort nach Amtsantritt Asylsuchende an der Grenze zurückweisen lassen. Der Bundestag sperrt alle Repräsentanten aus Russland und Belarus von der Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag des Kriegsendes aus. Vorher schon durfte der russische Botschafter nicht an den Gedenkveranstaltungen in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Ravensbrück teilnehmen. Beide Konzentrationslager waren 1945 von der Roten Armee befreit worden. Und die EU- und Nato-Staaten haben ihren Luftraum für alle Staats- und Regierungschefs gesperrt, die zum "Tag des Sieges" nach Moskau reisen wollen. Die neu-alte Koalition liefert weiterhin Gründe, das Vertrauen zum Staat und seinen Institutionen, zu den Parteien und zu den Medien zu verlieren: Mehr Rüstung, weniger Sozialausgaben, längere Arbeitszeit. Die in Feiertagsreden beschworenen Werte der Demokratie und des sozialen Zusammenhalts wirken als unglaubwürdige Floskeln, denn sie werden nach und nach zerstört. Redet die Koalition von Sicherheit, denkt sie nicht an Altersrente, Kindergärten und Wohnungen, an Friedensverträge und Angstfreiheit, sondern an immer mehr zerstörerische Waffensysteme. Ihre Antwort auf Naturzerstörung und unwirtliche Städte ist Standortwettbewerb und Agrarbusiness. Internationale Zusammenarbeit und gemeinsame Sicherheit gelten selektiv, gegenüber BRICS-Staaten und dem globalen Süden dominieren Feinderklärungen und Hegemonieansprüche. Absehbare Folgen: Die Gesellschaft wird durch verschärfte neoliberale Maßnahmen und Zuspitzung des Militarismus noch mehr zerrissen, die Lage der Menschen sozial und seelisch destabilisiert. Armut, Angst und Depression, Verrohung, Hass und Gewalt werden wachsen. Kritik und Widerstand werden noch härter verfolgt. Ein Sonderfall ist das Bekämpfen der AfD: Die neuen Nazis sind gefährlich. Aber statt ein Verbot der rechtsextremen Partei zu fordern, müsste man die neoliberale, imperiale Politik bekämpfen, die in Kernthemen mit ihr übereinstimmt und Faschisten stark macht. Stefan Kornelius von der SZ ist als neuer Regierungssprecher vorgesehen. Das erinnert an eine Sternstunde politischer Aufklärung, präsentiert in der satirischen Sendung "die Anstalt" (auf YouTube vom 29.4.2014, bes. ab Minute 36). Auch jetzt, nach elf Jahren, wirkt sie als aktuelle Analyse der Politik. Sie seziert die polit-medialen Netzwerke mit ihren Machenschaften, die im Hintergrund die Fäden ziehen und für globale Krisen und die desolate Stimmung bei den Menschen verantwortlich sind. In zehn Minuten erfährt man, wie die Medien entscheidende Hintergründe des Ukrainekonflikts verschwiegen haben. Wie eng die Leitmedien mit einer ganzen Reihe transatlantischer Thinktanks zur Sicherheitspolitik verbunden sind und ihre eigentliche Kontrollfunktion ins Gegenteil verkehren. So hat etwa eben jener Stefan Kornelius als Ressortleiter Politik der SZ gleichzeitig im Beirat der Bundesakademie für Sicherheitspolitik die Bundesregierung beraten, die er eigentlich kritisieren müsste. Resümee von den brillanten Claus von Wagner und Max Uthoff: "Dann sind doch alle diese Zeitungen nur sowas wie die Lokalausgabe der Nato-Pressestelle!" Muss man dankbar sein, dass diese bissige Satire bis heute nicht als verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates gecancelt wurde? Die Sendung schließt übrigens mit einem berührenden Friedensappell und einem aufwühlenden Lied von Konstantin Wecker. Ja, so kann politischer Widerstand auch aussehen. Die Sendung wirkt wie aus einer anderen Welt. Quelle: Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft , 10/2025. Wir veröffentlichen den Artikel mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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