Erich Mühsam über “Zeitenwende” und HochrüstungEin neues Lesebuch mit Texten gegen Militarismus und KriegSchalom-Bibliothek – Kooperationspartner: Lebenshaus Schwäbische Alb Erich Mühsam: Das große Morden. Texte gegen Militarismus und Krieg. Zusammengestellt von Peter Bürger. Herausgegeben in Kooperation mit dem Lebenshaus Schwäbische Alb. (= edition pace ǀ Regal: Pazifisten & Antimilitaristen aus jüdischen Familien 9). Hamburg: BoD 2025. (ISBN: 978-3-8192-6558-7; Paperback 516 Seiten; 18,99 €). https://buchshop.bod.de/das-grosse-morden-erich-muehsam-9783819265587
"Zeitwende! Das Wort führt jetzt jeder Esel im Munde, dem die Zeit noch niemals etwas gewendet hat. Das Schicksalsjahr 1915! Voll Stolz und Selbstgefühl wird dieser 1. Januar begrüßt. Dass er bestimmt ist, eine Epoche fortzusetzen, die die Vernichtung von Millionen Schicksalen bedeutet, fällt den Hanswürsten nicht ein." Eine Minderheit unter den linken Friedenstauben, die den Ton angeben möchte, präsentiert sich in der Gegenwart überaus handzahm und liebenswürdig. Höflich appelliert man an die Regierenden des Erdkreises, die Ausgaben für das Militärische doch bitteschön allüberall um ein Zehntel zu senken. Kaum ist der weise Ratschlag ausformuliert, haben die Welt-Kriegsertüchtiger dem globalen Rüstungsbudget schon wieder eine weitere Billion hinzugefügt. Angesichts der staatstragenden Zähmungen, die nur noch mehr Traurigkeit verbreiten, kann das neue Lesebuch des Regals "Pazifisten & Antimilitaristinnen aus jüdischen Familien" als Ermutigung zur Streitbarkeit gelesen werden. Es führt aus der Schreibwerkstatt Erich Mühsams starke Texte gegen Militarismus und Krieg zusammen. Berücksichtigt werden Gedichtbände, Essays (Zeitschrift Kain), Tagebucheinträge, Nachlass-Schriften (Abrechnung, 1916/17 – vollständig) und ein unvollendeter Roman über die deutsche Sozialdemokratie (Ein Mann des Volkes, 1921-1923 – ausgewähltes Kapitel). Am Vorabend des Ersten Weltkrieges diagnostiziert der Dichter: "Mit zwei Milliarden Mark muss jährlich die Henne gefüttert werden, die unter dem Namen ‚Deutsche Wehrmacht‘ … herumgackert. Jetzt ist sie mit einer Extramilliarde noch fetter aufgeplustert worden und beansprucht infolgedessen fortan noch erheblich mehr Getreidekörner aus den Äckern des deutschen Volkes als bisher. Der Geflügelzüchter Michel … merkt nicht, dass das meschuggene Huhn ihm nichts als Kuckuckseier in den Stall legt. Eines guten Tages aber wird es ihm schmerzlich fühlbar werden, wenn nämlich der zärtlich gepflegte ‚bewaffnete Friede‘ an Überfütterung krepiert, seine Küken aber auskriechen und sich die missgestalteten Kreaturen als Krieg, Hunger und Pestilenz über das Land ergießen. – Die Erbpächter der deutschen Ehre und der deutschen Phrase möchten das 43jährige Friedensvieh schon längst zum Platzen bringen. Sie ängstigen deshalb den dummen Michel heute mit diesem, morgen mit jenem Bauernschreck und heißen ihn zur Abwehr immer größere Mengen seiner schwitzend erarbeiteten Profite in die Armee hineinstopfen. Fehlt bloß noch ein geeigneter Anlaß – und der Krieg gegen den Erbfeind ist fertig" (Die Fremdenlegion, Februar 1914). Die Friedensarbeiterinnen und Friedensarbeiter wissen zu jener Zeit bald nicht mehr, wie man im öffentlichen Raum die Empörung wider die Kriegsreligion überhaupt noch zum Ausdruck bringen kann: "Man schämt sich allmählich vor sich selbst, immer und immer wieder den moralischen Gemeinplatz aussprechen zu müssen, daß Krieg schlecht und häßlich, Friede gut, natürlich und notwendig ist. […] In diesem Zeitalter raffiniertester technischer Zivilisation gibt es für den Erfindungsgeist immer noch keine höheren Aufgaben als die Vervollkommnung der kriegerischen Mordinstrumente. Wessen Gewehre und Kanonen am weitesten schießen, am schnellsten laden, am sichersten treffen, der hat den Kranz. Das Scheußliche und das Groteske gehen Hand in Hand durchs zwanzigste Jahrhundert und rufen die Völker auf zur Bewunderung der Weltvollkommenheit" (Das große Morden, Mai 1914). Von einer Atombombe und den totalitären Potenzen eines KI-Militärzeitalters wusste der Verfasser freilich noch nichts! Mühsams Kriegstagebuch vermittelt uns die bedrückende Lage des Dichters hinsichtlich seines Kunstschaffens und der materiellen Lebenssicherung. Auch im engsten Umfeld ist die Zahl der ‚Gleichgesinnten‘ überschaubar. Mühsam erfährt aufgrund seiner nonkonformen Haltung gegen Krieg und "Staatswahn" heftige Auseinandersetzungen und Isolation: "Man fand, daß ich mit meiner den Krieg ablehnenden Haltung wohl ganz allein stehe" (23.10.1914). "Gestern nachmittag war ich zum Kaffee bei Heinrich Mann. Das war wieder mal ein wahres Labsal. Endlich mal ein Mensch, der den Krieg ohne Befangenheit beurteilt und also tödlich haßt" (11.11.1914). "Mir kam es gestern plötzlich zum klaren Bewußtsein, daß ich unendlich vereinsamt bin. Mit meinen Empfindungen zu den gegenwärtigen schlimmen Zeiterscheinungen stehe ich absolut allein unter denen, die ich kenne" (30.11.1914). Gleichwohl ist dann am 15. Mai 1915 zu vermelden: "Ich nahm gestern abend als Gast der Münchner Friedensgesellschaft an einer geschlossenen Versammlung im Café Arkaden teil, die unter Vorsitz des Professors Quidde stattfand. Etwa 50 Teilnehmer, die allesamt überzeugte und durch die Tatsachen des Völkermordens heftig bestärkte Kriegsgegner sind. Das schuf eine Atmosphäre solidarischer Stimmung …". Christlieb Hirte schreibt zu den politischen Ambitionen: "Als sich nach Ausbruch des Weltkriegs die Zahl der engagierten Kriegsgegner sprunghaft erhöhte, erhoffte sich Mühsam eine neue Chance für den Anarchismus. Ab 1915 richteten sich seine Aktivitäten auf die Vereinigung der Kriegsgegner aller politischen Bekenntnisse im In- und Ausland zu einer pazifistischen, aber gleichzeitig kämpferischen Massenbewegung. Sein Ziel, das er nur im Tagebuch in aller Klarheit formulieren konnte: die revolutionäre Beendigung des Krieges im Zeichen des Anarchismus. Er wandte sich an namhafte bürgerliche Pazifisten und Wissenschaftler, an zentristische und linke Sozialdemokraten, blieb aber letztlich mit seinem illusorischen Projekt allein, den tiefen Gegensatz zwischen bürgerlich-pazifistischen und proletarisch-revolutionären Kräften mit einem im Wesen anarchistischen und unpolitischen Kampfbündnis gegen den Militärstaat überbrücken zu wollen." (In: E. Mühsam, Ausgewählte Schriften Bd. III, Berlin 1984) Viele der Texte im neuen Mühsam-Lesebuch "Das große Morden" klingen ganz aktuell – so als wären sie gerade eben erst geschrieben worden. Das ist schlimm! Wir sind auch deshalb – um eine Wendung von Klaus Hoffmann aufzugreifen – zu müde, um gegenüber den Vorbereitern eines dritten Weltkrieges als höfliche Bittsteller aufzutreten … * * * * * Bibliotheksportal ǀ Alle Publikationen des Regals "Pazifisten und Antimilitaristinnen aus jüdischen Familien" erscheinen zunächst als Digitale Erstausgaben und sind frei abrufbar auf dem Projektportal www.schalom-bibliothek.org – dort auch alle Informationen zu den bisherigen Buchangeboten. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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