Völkermord, Nachkriegsamnesie und GedenkverboteMit dem Sieg über Hitler-Deutschland beendete die Sowjetunion auch einen Vernichtungskrieg. Ein zweiter Teil.Von Leo Ensel Anlässlich des Ausschlusses der Vertreter Russlands und der Republik Belarus von den offiziellen Gedenkfeiern zum 8./9. Mai empfiehlt es sich, sich nochmals mit den deutschen Gräueltaten zu beschäftigen, die dem sowjetischen Einmarsch vor 80 Jahren vorausgegangen waren. Und wer heute flott vom "Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine" spricht, sollte mal den Krieg der Wehrmacht auf die Sowjetunion intensiver studieren. Dieser Krieg war von Anfang an als Vernichtungskrieg geplant, der sich auch gegen Teile der Zivilbevölkerung richtete. Fast 27 Millionen Sowjetbürger fielen ihm zum Opfer. Zur ersten Folge geht es: Hier! Seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine wurde in Kiew immer wieder erklärt - und von den deutschen Leitmedien begierig aufgegriffen -, Russland führe einen "Vernichtungskrieg" gegen die Ukraine. (Und genau dieses ‚Argument’ wird nun wieder ins Feld geführt, um offizielle Vertreter Russlands und Weißrusslands von den Gedenkfeiern zum 8./9. Mai auszuschließen.) In einem Land, in dem bei gefühlt jeder dritten öffentlichen Debatte ein unzulässiger "Hitler-Vergleich" oder eine "Relativierung des Holocaust" dingfest gemacht wird, überrascht die Gedankenlosigkeit, mit der dieser Begriff seitdem fast überall nachgeplappert wird. Den Vorwurf einer Relativierung der deutschen Verbrechen im Krieg gegen die Sowjetunion hat man in diesem Zusammenhang jedenfalls noch nirgends vernommen. Wenn aber jemals ein Krieg die Bezeichnung "Vernichtungskrieg" verdient hat, dann der, den Wehrmacht und SS zwischen 1941 und 1944 auf dem Territorium der Sowjetunion führte. Verbrecherische Befehle und MassenmordDie Wehrmacht leistete hier keineswegs, wie später in der Nachkriegszeit suggeriert, höchstens widerwillig ‚Dienst nach Vorschrift’. Bereits Hitlers Anweisung, jeden totzuschießen, "der nur schief schaue", war von ihr schon vor dem Überfall auf die Sowjetunion ‚proaktiv’ in verbrecherische Befehle gegossen worden. Mit dem am 13. Mai 1941 vom Oberkommando der Wehrmacht (OKH) verfügten "Kriegsgerichtsbarkeitserlass" wurde u.a. der Verfolgungszwang für "Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht gegen feindliche Zivilpersonen begehen", aufgehoben. Dies sollte auch dann gelten, "wenn die Tat ein militärisches Verbrechen oder Vergehen ist". Damit wurde den deutschen Soldaten de facto ein Freibrief erteilt und die sowjetische Zivilbevölkerung schutzlos der Willkür lokaler Befehlshaber ausgeliefert. Nur wenige Wochen später, am 6. Juni 1941, erließ das OKH den "Kommissarbefehl". Die politischen Kommissare galten als die ideologischen Funktionäre innerhalb der Roten Armee und wurden nicht als Soldaten anerkannt. Sie sollten im Kampf oder sofort "nach durchgeführter Absonderung" getötet werden. Mit beiden Befehlen setzte die Wehrmachtsführung - in voller Kenntnis der verbrecherischen Folgen ihrer Anordnungen - wesentliche Bestandteile des damals geltenden Kriegsvölkerrechts außer Kraft, das eine Reihe von international anerkannten Grundsätzen, vor allem zum Schutze der Zivilbevölkerung und Kriegsgefangenen, enthielt. Damit schuf die Führung der Wehrmacht die wesentlichen Voraussetzungen für einen bis dahin präzedenzlosen Rassen- und Vernichtungskrieg, vor allem gegen die jüdische Bevölkerung. Genozide und WüstenzonenDer systematische Massenmord an den europäischen Juden begann auf dem Gebiet der Sowjetunion. Anfängliche punktuelle brutalste antijüdische Pogrome der lokalen Bevölkerung, vor allem in Litauen, Lettland und der Westukraine - von der SS "Selbstreinigungsaktionen" genannt -, denen die als Besatzungsmacht verantwortliche Wehrmacht tatenlos zusah, wurden rasch abgelöst von systematischen Erschießungen durch die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD. Beschränkte man sich anfangs ‚nur’ auf jüdische Männer im wehrfähigen Alter, so wurden spätestens ab August 1941 ganze jüdische Gemeinden durch Massenerschießungen ausgerottet. In jedem kleineren weißrussischen oder ukrainischen Ort war die Opferzahl mindestens vierstellig. Schätzungen zufolge ermordeten die deutschen Besatzer zwischen 2,5 und 2,6 Millionen sowjetische Juden. Die Wehrmacht leistete nicht selten logistische Unterstützung. Ähnlich gestaltete sich die mörderische Zusammenarbeit zwischen Wehrmacht, SS und Ordnungspolizei im Rahmen des Anti-Partisanenkampfes, wo zwischen 1942 und 1943, vor allem auf dem Gebiet Weißrusslands, ganze Landstriche in "Wüstenzonen" verwandelt wurden. Tausende von Dörfern wurden niedergebrannt, Hunderte von ihnen samt der Bevölkerung, die man zuvor in die Dorfscheune oder Kirche gesperrt hatte. Allein für Belarus, das mit mehr als einem Viertel seiner Bevölkerung den prozentual größten Blutzoll zahlen musste, belaufen sich die Schätzungen auf 300.000 bis 350.000 getötete Menschen. (Wer sich von den Greueltaten einen Eindruck verschaffen will, sollte die weißrussische Gedenkstätte Chatyn, den "Friedhof der Dörfer" , besuchen oder, wenn er es ertragen kann, sich den Film "Komm und sieh/ Иди и смотри" von Elen Klimow aus dem Jahre 1985 ansehen.) Bei ihrem erzwungenen Rückzug hinterließen die deutschen Truppen eine Spur der Verwüstung. Ziel der deutschen Führung war es nun, nur "verbrannte Erde" zurückzulassen. Alles, was irgendwie lebenswichtig war, sollte zerstört werden: Industrieanlagen, Bergwerke, Wasser- und Elektrizitätswerke, Brücken, Dämme, Schleusen, das Schienennetz, Landmaschinen, Mühlen, Molkereien, die Ernte auf den Feldern, ebenso Transportmittel und Vorräte aller Art, soweit man sie nicht abtransportieren konnte. Die arbeitsfähige Zivilbevölkerung wurde zwangsevakuiert, oft unter grauenhaften Bedingungen. Der schnelle sowjetische Vormarsch verhinderte, dass dies überall im angestrebten Umfang geschah. Zieht man eine Bilanz dieses barbarischsten aller Kriege und stellt man die Zahl der toten Sowjetbürger, fast 27 Millionen, den ursprünglich anvisierten 30 Millionen gegenüber, so muss man zynisch konstatieren, dass die Besatzer ihr nationalsozialistisches Planziel annähernd erreicht haben. Umso größer das Wunder - jeder, der dort hinreist, wird das bestätigen -, dass in den Bevölkerungen der am schlimmsten betroffenen Länder, Belarus, der Ukraine und Russland keinerlei Hass auf die Deutschen herrscht. Dies ist eine zivilisatorische Vorleistung ohne gleichen, die in Deutschland immer noch nicht angemessen gewürdigt, geschweige denn zur Kenntnis genommen wird! Nachkriegsamnesie …Auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik, wo der Verfasser dieses Essays geboren wurde, verhinderte der aufkommende Kalte Krieg mit dem erneuerten Feindbild "Sowjetunion" jahrzehntelang die Beschäftigung mit den beispiellosen Greueltaten, die die deutschen Besatzer dort verübt hatten. Direkte menschliche Kontakte zwischen den Bevölkerungen beider Länder verhinderte auf Seiten des Westens der Eiserne Vorhang. (Und wir sind heute, was Russland angeht, in beiden Punkten wieder in derselben Situation.) Manche Kriegsgefangene brachten immerhin den Satz "Der Russe an sich ist gut!" mit nach Hause. Die verantwortlichen Massenmörder, sofern sie überlebt hatten, zogen sich meist unauffällig in ein bürgerliches Leben zurück, die wenigsten von ihnen wurden juristisch belangt. In den Fünfzigerjahren erschien eine ganze Rechtfertigungsliteratur ehemaliger Wehrmachtsgeneräle unter dem Motto: "Ohne Hitlers idiotische Kriegsführung hätten wir den Krieg doch noch gewonnen!" Als die Verbrechen der SS-Einsatzgruppen nicht mehr zu leugnen waren, hielt man umso hartnäckiger am Bild der "sauberen Wehrmacht" fest. Dies war psychohygienisch umso erforderlicher, als die 18 Millionen Wehrmachtssoldaten ja einen repräsentativen Querschnitt der deutschen Bevölkerung darstellten. Grundsätzlich ins Wanken gebracht wurde diese Legende erst durch die beiden Wanderausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung "Verbrechen der Wehrmacht" (1995-1999 sowie in überarbeiteter Form 2001-2004), die über einen langen Zeitraum massiven - nicht nur publizistischen - Gegenwind ernteten. Selbst, dass es sich beim Krieg gegen die Sowjetunion um keinen Krieg im herkömmlichen Sinne handelte, sondern um einen Vernichtungskrieg, in dem die Regeln des damals geltenden Kriegsvölkerrechts von Beginn an willkürlich außer Kraft gesetzt worden waren, war jahrzehntelang überhaupt nicht und ist heute bestenfalls rudimentär im Bewusstsein der Deutschen verankert. Und man kann nur hoffen, dass dieser Begriff durch den nun zunehmenden Gebrauch nicht zur beliebig verwendbaren Floskel oder Kampfformel degeneriert. Entsprechend gering ausgeprägt ist nach wie vor die Empathie für das Leiden der Menschen in Russland, Belarus und der Ukraine während der deutschen Besatzung. (Bezogen auf die Ukraine beginnt sich das gerade in den Leitmedien zu verändern - aus durchsichtigen Gründen, versteht sich!) Wirkliche Verständigungsversuche fanden bis zur Wiedervereinigung in Westdeutschland nur spärlich und eher ‚von unten’ statt: Unter anderem in ersten interkonfessionellen Kontakten - die evangelischen Kirchen Deutschlands veröffentlichten ‚schon’ Ende der Achtziger Jahre eine Denkschrift "Versöhnung und Frieden mit den Völkern der Sowjetunion" -, später von Mensch zu Mensch ab den Neunziger Jahren in den deutsch-russischen Städtepartnerschaften, dem Deutsch-Russischen Forum oder einer Reihe von Einzelinitiativen wie zum Beispiel der deutsch-russischen Initiative "Musik für den Frieden - Mузыка ради Mира" . All diese Kontakte sind - soweit sie überhaupt noch existieren - seit dem 24. Februar 2022 einer starken Belastungsprobe ausgesetzt. … und aktuelle GedenkverboteIm offiziellen Gedenken wirkte Vieles, zumindest im Westen Deutschlands, die meiste Zeit bestenfalls pflichtgemäß bemüht. Heute allerdings, 80 Jahre nach Kriegsende, wird das Gedenken auch noch im politischen und Mediendiskurs durch eine neue geopolitische Instrumentalisierung überlagert, bei der nun die Opfer Russlands, Weißrusslands und der Ukraine gegeneinander in Stellung gebracht werden: Das noch von Annalena Baerbock geführte Auswärtige Amt riet - angeblich aus Sorge vor "russischer und belarussischer Propaganda" - in einer "Handreichung an Länder, Kommunen und Gedenkstätten des Bundes" davon ab, die Teilnahme von Vertretern von Russland und Belarus bei Gedenkveranstaltungen zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges zuzulassen und empfahl, ihnen gegebenenfalls den Zugang zu den Mahnmälern zu verwehren. Der Bundestag schließlich schloss sie auch noch von der zentralen Gedenkfeier aus. Vergangenheitsbewältigung im auf "Kriegstüchtigkeit" getrimmten Deutschland anno 2025. Zur ersten Folge geht es: Hier! Quelle: Overton Magazin - 09.05.2025. 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