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Die Wahrheit der Gewaltfreiheit in allen Religionen

Zur Neuedition der Sammlung "Tolstoi und der Orient" - Leseprobe: Text eines muslimischen Tolstoi-Verehrers

Von Tolstoi-Friedensbibliothek

Jede wahre Religion, so erkannte der russische Friedensbotschafter Leo N. Tolstoi (1828-1910), führt zur Erkenntnis der Einheit der ganzen Menschheit und erlöst uns aus dem Abgrund der Gewalt. "Christi Lehre", Böses nicht mit Bösem zu beantworten, betrachtete er als den einzigen Ausweg aus den Abgründen der Kriegsapparatur, die sonst am Ende zur Zerstörung allen Lebens führen muss. Im letzten Lebensjahrzehnt war ihm die dialogische Verbundenheit aller Religionen und Kulturen ein drängendes Anliegen. Die universale Wegweisung der Gewaltfreiheit reicht ja bis ins erste Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung zurück und steht z.B. schon im Zentrum des chinesischen Tao-Buches.

Eine vor kurzem von Ingrid von Heiseler und Peter Bürger vorgelegte Neuedition der Sammlung "Tolstoi und der Orient" (1923/25) eröffnet Einblicke in die interreligiösen Studien und Dialoge Tolstois. Die dargebotenen Briefe oder Abhandlungen des russischen Christen beziehen sich überwiegend auf die Lehren von Krishna, Buddha, Konfuzius, Laotse und Mohammed (Indien, China, Russland, Japan, Persien).

Der Bearbeiter Pavel Birjukov schreibt in seinem Nachwort: "Suchen wir nach … charakteristischen Kennzeichen für die Verwandtschaft Tolstois mit dem Orient. Ein solches Merkmal ist zweifellos ihre gemeinsame Abneigung gegen die europäische Zivilisation. Unter Zivilisation müssen wir hier erstens einmal die staatlichen Einrichtungen verstehen, die von den selbstbewussten Europäern als etwas Höheres gepriesen werden, das man den Orientalen mit Gewalt aufzwingen dürfe; dann aber die ganze okzidentale Kultur, soweit sie den Menschen geradezu der Religion entfremdet und ihn dem Tier annähert, das Verständnis für wahres Leben in ihm erstickt und ihn den Sinn des Lebens mit Hilfe der sogenannten Wissenschaft und Technik in eigensüchtigem, raffiniert entwickeltem Sinnengenuss finden lässt. Eine Zivilisation, die zu Sklaverei, Krieg, Revolution, Hass, Lüge und endlich zur Selbstvernichtung führt, d.i. zu völligem Wahnsinn. - Die Vertreter des Orients nun empfinden diese ‚weiße Gefahr’ und suchen mit Leo Nikolajewitsch nach einem Kriterium, um sich unter diesem Andrang von Europäismus und Amerikanismus zurechtzufinden, ihm nur das zu entnehmen, was ihnen von Nutzen sein könnte, und sich ihr gutes Altes zu bewahren, das sie auf einen neuen Lebensweg führen soll. Zu dieser Ablehnung der weltlichen Kultur gehört auch der Widerspruch gegen die Vormundschaft der Kirche und das Suchen nach einer unmittelbaren Verbindung Gottes mit dem Menschen, d.h. nach dem Leitprinzip des Lebens. Auf diesem Boden fanden sich Tolstoi und die Vertreter des Orients."

Leo N. Tolstoi: Begegnung mit dem Orient. Briefe und sonstige Zeugnisse über die Beziehungen des Dichters zu den Vertretern orientalischer Religionen - bearbeitet von Pavel Birjukov (Tolstoi-Friedensbibliothek: Reihe B, Band 12). Norderstedt 2023.
(ISBN: 9783757891749; Paperback; 248 Seiten; 11,99 Euro).

Inhaltsverzeichnis, Leseprobe, Bestellangebot beim Verlag:
https://buchshop.bod.de/begegnung-mit-dem-orient-leo-n-tolstoi-9783757891749

Übersicht und Informationen über die gesamte Reihe (einschließlich der kostenfrei abrufbaren Digitalversionen) auf der Projektseite: www.tolstoi-friedensbibliothek.de

Das Lebenshaus Schwäbische Alb ist Kooperationspartner dieses pazifistischen Editionsprojektes.

(Leseprobe)

"Leo Tolstoi - Eindrücke eines Inders"

Von Abdullah-al-Mamun-Suhrawartliy,
M.A. Dr. der Philosophie, Jurist, Ritter des Medjidje-Ordens,
Autor der Broschüren "Gespräche Mohammeds" und
"Mohammedanische Rechtswissenschaft"

23. Juli 1908

Die Tatsache, daß ich, ein Einwohner des finstern und fernen Hindostan, Ruhm und Unsterblichkeit mir zu erringen unternehme, indem ich aus Anlaß des historischen Ereignisses diese wenigen Zeilen über den Yoga (Weisen) in Jasnaja Poljana schreibe, diese Tatsache allein schon gibt einen Begriff davon, wie tief und weit das Licht Tolstois gedrungen, und zeigt, wie seine vielseitige und anziehende Persönlichkeit durch die Großzügigkeit und Universalität seiner Lehre fesselt, wie sie sich die Geister der Menschen unterwirft und sie zusammenführt, die geographisch so weit voneinander entfernt sind wie der Nordpol vom Südpol.

Vor 15 Jahren, noch als Schüler, hörte ich zum ersten Male den Namen Tolstois. Mein Bruder Mohammed-al-Mamun verschlang seine Bücher und war ein glühender Verehrer des Grafen. Der Lebensfaden meines Bruders riß frühzeitig ab, als er erst 21 Jahre zählte. Aber sein Einfluß auf mich währt bis auf den heutigen Tag. Er übertrug auf mich seine Verehrung der Werke Tolstois.

Jahre voll von Aufregungen, Kummer und heimatlosem Umherschweifen machten mich ihn vergessen. Da brachte mich, als ich Hörer der französischen Sprache war, in einem kleinen Restaurant der "Rue des Missionaires" die Äußerung eines englischen Studenten über Tolstois "Auferstehung" wieder auf ihn und zu meinen Kindheitserinnerungen zurück.

Nach zwei Jahren, als Gast des Grafen Dr. phil. Henri Coudenhove Kalergi im Schlosse Ronsperg in Österreichisch-Böhmen, begann ich in Gesprächen mit dem [inzwischen] verstorbenen Grafen, durch seine tiefdringenden Bemerkungen erleuchtet, die internationale Bedeutung des großen Propheten zu erfassen, den das Rußland der Gegenwart hervorgebracht hat.

Ich bin ein Bekenner des Islam, einer Religion, die gewöhnlich mit Vergewaltigung und Blutvergießen zusammengebracht wird. Und dennoch bin ich ein Schüler Tolstois. Ich bin ein Streiter für den Frieden und den Verzicht auf jede Gewaltanwendung. Das kann paradox erscheinen. Aber das Paradoxe schwindet, wenn man den Koran so liest, wie Tolstoi die Bibel las, im Lichte der Wahrheit und Einsicht und nicht im Nebel des Aberglaubens und der Unwissenheit.

Die Lehre vom Verzicht auf jeden Widerstand mittels Gewalt, die Tolstoi unermüdlich predigte, entspricht vornehmlich dem Orient, ganz besonders aber Indien, das mit der Lehre Gotama Buddhas verwachsen ist. Und die Predigt Tolstois in Verschmelzung mit den Lehren der Propheten und Weisen, die einst in diesem historischen Lande gefeiert wurden, sie wird vielleicht in unsrer Zeit gleichfalls Messiasse und Mahdis zeugen, die, ans Kreuz geschlagen, ihre Folterknechte segnen.

Mein Verlangen, Tolstoi meine Verehrung persönlich zu bezeigen, hat sich nicht erfüllt. Und wird sich wohl auch in diesem Leben nicht mehr erfüllen. Wir haben nur einmal Briefe miteinander gewechselt. Und dennoch, seine bezaubernde Persönlichkeit ist mir zur Leuchte auf meinem Lebenswege geworden - durch diesen einzigen Brief. Im Gegensatze zu anderen "großen Männern" ist sich Tolstoi seiner Größe nicht bewußt. Er ist gleich Mahomet einer der unsern und kein Übermensch, der etwa von der Höhe seiner Majestät auf uns arme "Menschlein" herabschaute. Er beunruhigt und bedrückt seine Verehrer nicht. Darin zeigt sich bei ihm die Harmonie zwischen seinem Leben und seiner Lehre.

Licht ist - Licht aus Gott, nicht aber aus dem Orient oder dem Okzident. Das Licht leuchtet, gleichgültig, ob es in goldenem, silbernem oder in irdenem Leuchter brennt, in einem chinesischen, russischen oder arabischen. Dieser russische Graf, dieser Bauer, Pädagoge und Prophet ist der Gegenstand meiner Verehrung. Ich fühle meine Seelenverwandtschaft mit ihm. Auch ich bin durch die Tiefen des Zweifels und der Versuchung, der Niedergeschlagenheit und der Verzweiflung gewandert. Und ohne es zu wissen auf demselben Pfade wie Tolstoi.

Und obwohl ich noch keine dreißig zähle, habe ich doch schon in mir die Unrast des Leidens und die Lasten des Kummers empfunden, die der Welt Christusse, Buddhas und Tolstois schenkten.

34, Elliot R., Kalkutta - Abdullah-al-Mamun-Suhrawardy

Veröffentlicht am

19. März 2024

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