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Leo Tolstoi: Held ist, wer seinen Feind in einen Freund verwandelt

Zur Neuausgabe von Leo Tolstois erstem Kalenderbuch - Weisheiten aus dem Talmud

Von Tolstoi-Friedensbibliothek, März 2024

Die vor 120 Jahren erschienene, längst vergriffene deutsche Ausgabe von Tolstois Kalenderbuch Gedanken weiser Männer hat Ingrid von Heiseler in der Tolstoi-Friedensbibliothek als ungekürzte Neuedition vorgelegt. Der Übersetzer Adolf Heß schrieb zur Entstehung dieser Sammlung: "Während der schweren Krankheit Leo N. Tolstois im Januar 1903, als sein Leben an einem seidenen Faden hing und er der gewohnten Arbeit nicht nachgehen konnte, fand er doch die Kraft, täglich im Neuen Testament und auf einem Kalender im Schlafzimmer die Aussprüche verschiedener großer Männer zu lesen. Aber das Jahr und mit ihm der Kalender ging zu Ende und nun entstand in Tolstoi der Wunsch, sich selbst Auszüge aus verschiedenen Denkern für jeden Tag zusammenzustellen. Täglich vom Bette aus, soweit es seine Kräfte erlaubten, machte er diese Auszüge - fügte auch eigenes hinzu …"

Das so entstandene Buch war Auftakt zu insgesamt drei weisheitlichen Lesewerken Tolstois (es folgten der Lektürezyklus "Für alle Tage", 1904-1908, und die Anthologie "Der Weg des Lebens", 1910). Dokumentiert wird in der vorliegenden Ausgabe eine Rezension der Illustrierten Zeitung für das gesamte Judentum von 1905: "Es ist sehr bemerkenswert, dass unter den sechsundfünfzig Autoren, die Tolstoi exzerpiert hat, der Talmud am stärksten vertreten ist. Von den Sprüchen für die 365 Tage des Jahres sind nämlich nicht weniger als hundert und sieben dem Talmud entnommen. Diese enorme Ziffer wird noch dadurch erhöht, dass die Zitate aus dem Talmud meist von größerem Umfang sind und jedes von ihnen füglich in mehrere Sprüche zerlegt werden kann. Der Talmud hat offenbar auf den Weisen von Jasnaja Poljana einen starken Eindruck gemacht und seinem Geist Nahrung geboten."

Mit wüsten Phantasien warnten auch die neuen Antisemiten ab dem 19. Jahrhundert vor dem Talmud als angebliche Geheimquelle für "jüdische Verschwörungen". Leo N. Tolstoi stellte hingegen Sentenzen aus dem Talmud bewusst an die Spitze seiner Anthologie und unterstrich durch die Auswahl den Einklang mit seiner eigenen Botschaft des Friedens:

Talmud-Sentenzen

(Beispiele aus Tolstois Kalenderbuch)

Verurteile deinen Nächsten nicht, bevor du in seiner Lage warst.

Wer seinen Nächsten haßt, der vergießt Menschenblut.

Wie gefühllos und gleichgültig gegen fremdes Leid ist doch ein reicher Mann.

Hast du deinem Nächsten Böses getan, und sei es auch nur ein geringes, so halte ein solches für ein großes; hast du ihm aber eine große Wohltat erwiesen, so erachte sie als unbedeutend; eine kleine Wohltat dagegen, die dir von anderen erwiesen ist, halte für groß. - Gottes Segen geht auf den herab, der den Armen gibt; doppelter Segen ruht auf dem, der ihnen hierbei freundlich begegnet.

Ein beginnender Streit gleicht einem Strome, der den Damm durchbricht: Sobald er ihn durchbrochen hat, ist er nicht mehr zu halten.

Der Mensch hat die Macht, Streit anzustiften, aber er hat nicht die Macht, ihn zu ersticken, denn der Streit lodert auf, gleich einer Flamme, die der löschenden Wirkung des Wassers nicht nachgibt.

Ein Teil deiner Freunde tadelt dich, der andere lobt dich; halt dich zu denen, die dich tadeln, und halt dich fern von denen, die dich loben.

Liebe den ewigen Gott so, daß durch dich auch andere ihn lieben. - Erfülle Gottes Gebote mit Liebe. Es ist nicht dasselbe, sie aus Liebe zu Gott oder aus Furcht vor ihm zu erfüllen.

Böses vergilt mit Gutem.

Gott tritt für den Verfolgten ein, ob nun ein Gerechter einem Gerechten oder ein Böser einem Bösen nachstellt - stets ist Gott auf der Seite des Verfolgten, wer dies auch sei.

Wer Kenntnis des Gesetzes hat, aber nicht die Liebe zu Gott, gleicht dem Schatzmeister, dem die inneren Schlüssel ohne die äußeren ausgehändigt sind.

Wer ist ein Held? - Der seinen Feind in einen Freund verwandelt.

Wer spricht: Ich werde sündigen und werde Buße tun, dem wird (von oben) nicht gegeben, Buße zu tun; wer spricht: Ich werde sündigen, der Bußtag erlöst mich von meinen Sünden, den erlöst der Bußtag nicht von seinen Sünden. Vergehen gegen Gott werden am Bußtag gebüßt, aber Vergehen gegen den Nächsten werden nicht gebüßt, solange der Nächste nicht zufrieden gestellt ist.

Ich habe viel von meinen Lehrern gelernt, mehr noch von meinen Gefährten, am meisten von meinen Schülern.

Bemerkst du Fehler an dir, geh schleunigst hin und mach selbst Anzeige.

Ob du getan hast, was du tun mußtest, ist deswegen von ungeheurer Wichtigkeit, weil der einzige Sinn deines Lebens darin besteht, daß du in der kurzen Lebensfrist, die dir gegeben ist, den Willen dessen tust, der dich ins Leben gesandt hat. - Tust du das wirklich?

Leo N. Tolstoi: Gedanken weiser Männer. Neuedition der Übersetzung von Adolf Heß, 1903. Bearbeitet von Ingrid von Heiseler. (Tolstoi-Friedensbibliothek: Reihe B, Band 17). Norderstedt 2024. (ISBN: 9783758371240; Paperback; 196 Seiten; 10,90 Euro).

Inhaltsverzeichnis, Leseprobe, Bestellangebot beim Verlag:
https://buchshop.bod.de/gedanken-weiser-maenner-leo-n-tolstoi-9783758371240

Übersicht und Informationen über die gesamte Reihe (einschließlich der kostenfrei abrufbaren Digitalversionen) auf der Projektseite: www.tolstoi-friedensbibliothek.de

Das Lebenshaus Schwäbische Alb ist Kooperationspartner dieses pazifistischen Editionsprojektes.

Veröffentlicht am

08. März 2024

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