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Ruchama Marton: Eine Stimme aus Israel gegen Hass und Rache

Die Friedensaktivistin kritisiert vehement die israelische Besatzungspolitik. In ihrer Heimat wird sie deswegen angefeindet.

Von Gabriela Neuhaus

20 Jahre ist es her, seit wir für den Dokumentarfilm "1000 Frauen und ein Traum" (2005) die mobile Polyklinik der "Ärzt:innen für Menschenrechte Israel" bei einem Einsatz im Westjordanland und im Negev begleiten konnten. Wir porträtierten damals die israelische Psychiaterin Ruchama Marton, die sich seit ihrem Militärdienst in den 1950er Jahren bis heute gegen die israelischen Herrschaftsansprüche und für ein gleichberechtigtes Zusammenleben aller Menschen zwischen Jordan und Mittelmeer engagiert. Angesichts der mangelhaften Gesundheitsversorgung in den besetzten Gebieten gründete sie 1988 die Organisation Physicians for Human Rights Israel (PHR-I).

Gemischte Teams von jüdischen und arabischen Gesundheitsfachleuten setzen sich seither mit regelmäßigen Sprechstunden vor Ort dafür ein, dass kranke Menschen unabhängig von Religion und Herkunft medizinische Hilfe erhalten. PHR-I wurden für ihr Engagement wiederholt ausgezeichnet, 2010 unter anderem mit dem alternativen Nobelpreis für ihren "unbeugsamen Einsatz für das Recht auf Gesundheit für alle Menschen in Israel und Palästina".

Schon 2004, anlässlich unserer Dreharbeiten, übte Dr. Ruchama Marton scharfe Kritik an der israelischen Separierungs-Politik, die durch den Mauerbau damals im wahrsten Sinn des Wortes betoniert wurde: "Gegen diese Trennung gibt es nur eines: Man muss die Grenze immer wieder überschreiten, man muss den Menschen jenseits der Grenze begegnen, auf persönlicher, professioneller und auf politischer Ebene."

An diesem Credo hält die mittlerweile 86-jährige Ärztin immer noch fest. Sie gehört in Israel zu einer verschwindend kleinen Minderheit, die sich weiterhin für Gleichberechtigung und Menschenrechte in Israel und Palästina einsetzt. Ihre Analyse der aktuellen Situation anlässlich unseres Telefon-Interviews vom 7. Februar 2024 will sie als Aufruf an die Welt und speziell an uns Menschen in Europa und in den USA verstanden wissen.

Vor 20 Jahren haben wir Sie mit der mobilen PHR-Klinik ins Westjordanland begleitet. Schon damals litten die Menschen dort enorm unter dem israelischen Besatzungsregime. Wie erleben Sie die Situation heute?

Ruchama Marton: Es ist so schlimm, wie es nur sein kann. Man kann die Situation vor 20 Jahren nicht mit dem vergleichen, was jetzt innerhalb der israelischen Gesellschaft sowie zwischen Israelis und Palästinenser:innen geschieht. In praktisch allen Bereichen in Israel hat der rechte Flügel gewonnen: im öffentlichen Leben wie in der Regierung. Das gilt auch für das religiöse Denken, das sich auf einer fast primitiven Stufe bewegt. Es ist von Hass und Vergeltungsstreben geprägt. Seit dem 7. Oktober 2023 ist der Wunsch nach Rache das vorherrschende Gefühl in der israelisch-zionistischen Öffentlichkeit und Regierung.

Sind sich denn Bevölkerung und Regierung in dieser Sache so einig? Letztes Jahr protestierten Tausende in Israel gegen die Rechtsaußen-Regierung und deren geplante Justizreform. Was ist aus dieser Bewegung geworden?

Ich bin zu keiner dieser Demonstrationen gegen die Regierung gegangen, weil bei diesen Protesten weder die Besetzung noch die Apartheidspolitik oder die schrecklichen Dinge, die Israel den Menschen im Gazastreifen und in der Westbank antut, ein Thema waren. Ich habe dieser Bewegung nicht getraut – und behielt leider recht: Nach dem 7. Oktober meldeten sich viele Leute, die zuvor auf die Straße gegangen sind, bei der Armee und wollten Palästinenser töten. Rache ist seither das Hauptthema. Dies zeigt, wie tief die anti-palästinensischen Gefühle in unserer Gesellschaft verankert sind.

Trotzdem zeigt eine Umfrage des Israel Democracy Institute, dass eine Mehrheit der Bevölkerung inzwischen als wichtigstes Ziel des Krieges nicht die Vernichtung der Palästinenser:innen, sondern die Rettung der Geiseln bezeichnet.

Das kümmert die israelische Regierung keinen Deut. Wir kennen das aus der Vergangenheit. Vor 20 Jahren schon schrieb ich der damaligen israelischen Regierung im Zusammenhang mit einem Gefangenenaustausch einen Brief, in dem ich vorgeschlagen habe: Bitte lasst alle palästinensischen Gefangenen in Israel frei. Lasst sie eine heiße Dusche nehmen, gebt ihnen neue Kleider und ein Päckchen mit Süßigkeiten und Kinderspielzeug mit auf den Weg. Setzt sie in die besten Busse, die wir haben, und bringt sie auf respektvolle Weise zurück in den Gazastreifen und in die Westbank. Ohne Forderung nach Gegenleistungen. – Ein solcher unerwarteter Schachzug wäre ein "Game Changer" und könnte die Beziehungen zwischen Israel und den Palästinenser:innen entscheidend verändern, davon bin ich auch heute überzeugt. Aber es wird nicht geschehen. Die aktuelle israelische Regierung ist bereit, das Leben aller Gefangenen zu opfern, und schert sich einen Dreck um deren Schicksal.

Versagen der Menschenrechtsorganisationen

Sie engagieren sich seit Jahren für das Ende der Besatzung und ein gleichberechtigtes Zusammenleben. Was bedeutet die aktuelle Stimmung im Land für ihren Lebensalltag?

Viele sogenannte Freunde aus der Vergangenheit… – wir reden nicht mehr miteinander. Für sie bin ich eine Verräterin. In ihren Augen bin ich fast so schlimm wie die Palästinenser in Gaza. Das ist bitter und traurig. In Israel gibt es noch ein paar wenige Freunde und Freundinnen, die so denken wie ich. Wir sind aber keine Gruppe – ein paar Individuen hier und dort. Wie zum Beispiel Nurit Peled-ElhananDie Friedensaktivistin und Erziehungswissenschaftlerin Nurit Peled-Elhanan engagiert sich seit Jahren gegen die israelische Unterdrückungspolitik. Im November 2024 wurde sie wegen eines Zitats im Gruppen-Chat des Hochschulkollegiums von der Hebräischen Universität in Jerusalem entlassen.. Sie ist ein der ganz Wenigen. Eine mutige Frau, die klar denkt und vor niemandem Angst hat.

Wie geht die von Ihnen gegründete und während langen Jahren geleitete Organisation PHR-I mit dieser Situation um?

Sie arbeiten sehr hart, aber – wenn Sie mich fragen – nicht in die richtige Richtung. Sie leisten wunderbare philanthropische Arbeit, kümmern sich um Verwundete und Kranke. Sie versuchen, das Beste zu tun, um gut zu sein. Aber auf der politischen Ebene sind sie praktisch nicht mehr aktiv. Ich hätte gerne gesehen, dass PHR-I und auch die anderen Menschenrechtsorganisationen in Israel sich laut und deutlich für den Prozess vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ausgesprochen hätten. Das ist aber nicht geschehen.

Was sind die Gründe? Hat man Angst vor Repressionen, oder werden ihre Stimmen einfach unterdrückt?

Das ist schwer zu sagen. Ich denke, Angst ist der Hauptgrund. Sie wollen nicht von der sogenannten Mitte der Gesellschaft abgeschnitten werden. Ganz außerhalb zu funktionieren, ist schwierig. Aber auch die Mitte ist heute extremistischer geworden. Die Rechte dominiert die öffentliche Stimmung.

In den ersten 10 Jahren stellte sich PHR-I kämpferisch und lautstark gegen alles, was in unseren Augen ungerecht war. Diese Stimmen wurden zum Schweigen gebracht. Heute übt keine Organisation mehr öffentlich Kritik. Vielleicht denken deren Vertreter:innen im Stillen darüber nach – sie sind aber nicht dazu bereit, Dinge offen, mutig und klar zu formulieren. Genau das wäre aber die Aufgabe der Menschenrechtsorganisationen. Weil das nicht geschieht, habe ich keine politische Heimat mehr. Ich sehe im Moment keine Möglichkeiten, den Geist des Widerstands von damals in die Tat umzusetzen.

Ruf nach Boykott und Sanktionen

Trotzdem: Je länger der Krieg dauert, desto mehr leidet auch die Bevölkerung in Israel unter der Situation. Führt das über kurz oder lang nicht zu einem Umdenken?

Nein, ich glaube nicht, dass es in naher Zukunft dazu kommen wird. Es sei denn, wir bekommen Hilfe von Gruppen außerhalb Israels, oder der Prozess in Den Haag geht weiter und die israelische Führung kassiert eine harte Strafe. Ohne eine solche Sanktion sehe ich keine Perspektive für eine andere Zukunft.

Ein möglicher Ausweg wäre eine wirtschaftliche Strafe, wie in den Tagen, als die Welt sich mit einem Boykott gegen die Apartheid in Südafrika stellte. Wenn das Gleiche im Fall von Israel möglich wäre, ja – dann, und nur dann wäre eine Veränderung möglich.

"Ja, ich will ein anderes Israel. Mich deswegen des Antisemitismus zu bezichtigen, ist absurd."

Ruchama Marton

Sie sind seit 2017 Mitglied der internationalen Kampagne "Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen" BDS, die genau dies zum Ziel hat. Westliche Politiker:innen und Medien bezichtigen BDS jedoch des Antisemitismus…

"Antisemitismus" ist ein Slogan, mit dem man gerne um sich schlägt, statt nachzudenken und hinzusehen, was wirklich geschieht. Ein Boykott ist der Weg, um Israel vor sich selbst zu retten. Das hat mit Antisemitismus nichts zu tun. Sonst wäre auch ich antisemitisch. Ja, ich will ein anderes Israel. Mich deswegen des Antisemitismus zu bezichtigen, ist absurd.

Der Westen unterstützt die israelische Politik und hält sich mit Kritik stark zurück – was halten Sie davon und was sind ihre Forderungen diesbezüglich?

Es braucht eine drastische Umkehr in der Politik des Westens. Als erstes sollten die USA und auch die Länder Europas aufhören, Millionen von Dollars und Waffen nach Israel zu schicken. Sie sind der Treibstoff, der diese Maschinerie des Hasses und der Rache antreibt. Wenn dieser Hahn zugedreht wird, funktioniert die Maschine nicht mehr.

Kontakt zu Palästinenser:innen

Pflegen Sie noch Kontakte zu ihren Partner:innen und Freund:innen in den besetzten Gebieten? Was hören Sie von ihnen? Wie geht es ihnen?

Viele meiner Freundinnen und Freunde in Gaza gibt es nicht mehr. Sie und ihre Familien wurden durch die israelischen Bombenangriffe im Gazastreifen getötet. Mit den Leuten in der Westbank bin ich per Telefon in Kontakt. Obwohl die IDFIsraeli Defense Forces jüdischen Ärztinnen und Ärzten seit 2007 verbieten, nach Gaza zu fahren, habe ich die Westbank mindestens einmal pro Woche besucht. Jetzt fehlt mir die Energie dazu. Ich schäme mich für das, was meine Regierung und meine Armee den Menschen dort antut. Was soll ich ihnen sagen? Die Situation ist sehr schmerzhaft – und ich kann ihnen keine Unterstützung bieten.

Gleichzeitig hat keiner meiner palästinensischen Freundinnen und Freunde, die noch am Leben sind, die Beziehung abgebrochen. Ich finde das unglaublich. Sie sprechen immer noch mit mir und heißen mich willkommen, wenn ich sie besuche. Sie sind in tiefster Verzweiflung und glauben nicht mehr daran, dass irgendwelche organisierten Aktionen ihre Situation verbessern können.

Was mich im Moment besonders beschäftigt, sind die Bestrebungen zur Vernichtung der UNRWA. Wenn man versucht, dieses Vorhaben zu analysieren und herauszufinden, welcher Gedanke dahintersteckt, kommt man zu einem klaren Ergebnis: Das Ziel unseres Premierministers und seiner Regierung ist, mit der UNRWA auch die Erinnerung an die Nabka auszulöschen und so den Palästinenser:innen ihre Existenzberechtigung abzusprechen. Sie sagen ja auch laut und deutlich, dass sie die Palästinenser töten und den Gaza-Streifen ausradieren wollen.

Die Menschen im Gazastreifen sterben an Hunger, Trinkwassermangel und fehlender medizinischer Versorgung. Sie haben keine Häuser mehr. Wie lange können sie so weiter leiden? Die Menschen im Westen, vor allem in Europa und hoffentlich auch in den USA, müssen begreifen, was für eine Katastrophe hier vor sich geht. Und sie stoppen. Sofort! Indem der israelischen Regierung der Hahn zugedreht wird, und man das israelische Verhalten mit Boykotten jeglicher Art sanktioniert.

Auch wenn man mich deshalb des Verrats bezichtigt: Es ist der einzige moralische Weg, der heute noch offen ist, um den Teufelskreis der Gewalt zu brechen.

Vielleicht werden die heutigen Verräter dereinst zu Helden und Heldinnen – aber erst in einer anderen Zukunft, von der ich nicht glaube, dass ich sie noch erleben werde.

Quelle: Infosperber.ch - 16.02.2024.

Fußnoten

Veröffentlicht am

16. Februar 2024

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