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Hass und Krieg verlernen

Beitrag für das Buch "Bedrohter Diskurs - Deutsche Stimmen zum Ukrainekrieg" (Donat-Verlag 2024)

Von Michael Schmid

Wegen meines Wehrdienstes vor fünfzig Jahren bin ich Kriegsdienstverweigerer und Pazifist geworden. Bei meinem ersten und einzigen Scharfschießen hat mich der neben mir stehende Ausbilder aufgefordert, ich solle "dem bösen Russen mitten ins Gesicht schießen". Das hat mir nachdrücklich vor Augen geführt, für was ich da trainiert werden sollte. Auf wildfremde Menschen schießen - seien es Russen oder Angehörige anderer Nationen -, das wollte ich nicht. Ich bin Mitglied von pazifistischen Organisationen geworden: dem "Internationalen Versöhnungsbund" und der "Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen", später dem "Bund für Soziale Verteidigung". In diesem Zusammenhang habe ich die Grundsatzerklärung der "War Resisters’ International" unterzeichnet: "Der Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Ich bin daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und an der Beseitigung aller Kriegsursachen mitzuarbeiten." Diese Selbstverpflichtung gilt für mich bis heute. Den russischen Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verurteile ich daher als ein Verbrechen - wie jeden anderen Krieg.

Allerdings ist nach meinem Verständnis von Politik - und das nicht nur aus pazifistischer Sicht - darauf zu bestehen, die Vorgeschichte einzubeziehen. Ein großer Teil der Verantwortung ist auf die konfrontative Zuspitzung, die vom Westen ausging, zurückzuführen. Nach Ende des Kalten Kriegs hat die große Chance bestanden, eine gesamteuropäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands aufzubauen, von Michail Gorbatschow als "gemeinsames Haus Europa" vorgeschlagen. Stattdessen haben insbesondere die USA in ihrer Siegermentalität das Gegenteil aus dem Vorschlag Gorbatschows gemacht: Die NATO dehnte sich immer weiter in Richtung Osten aus, intensivierte die militärische Zusammenarbeit mit der Ukraine, rüstete das Land massiv auf und stellte ihm die NATO-Mitgliedschaft in Aussicht. Bei alledem sind russische Sicherheitsbedenken in den Wind geschlagen worden. Hätte man Putin versichert, dass es keine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine geben werde, wäre es zu einem russischen Einmarsch in die Ukraine wohl nicht gekommen. Doch selbst wenn sich Putin provoziert gefühlt hätte oder sogar - absichtlich - provoziert worden wäre, hätte er die Ukraine nicht angreifen dürfen. Ein Verbrechen lässt sich mit nichts rechtfertigen.

Mit jedem weiteren Kriegstag setzt sich das sinnlose Blutvergießen fort. Waffenlieferungen aus Deutschland und anderen NATO-Staaten befeuern den Krieg und verlängern das Leid der Menschen. Je früher der Waffengang gestoppt und mit Verhandlungen begonnen wird, umso besser. Vorschläge hierzu liegen von verschiedenen Seiten bereits vor. Deutschland sollte selbst endlich diplomatische Initiativen ergreifen, humanitäre Hilfe für die Ukraine zur Verfügung stellen, weiter geflüchtete Menschen aufnehmen. Vor allem sollte sich die Bundesregierung an die Seite jener Menschen in den Kriegsländern stellen, welche die Logik des Krieges durchbrechen wollen, wie z.B. die "Ukrainische Pazifistische Bewegung" um Yurii Sheliazhenko. Zehntausende haben sich auf allen Seiten des Ukrainekrieges - in Russland, Belarus und der Ukraine - den Kämpfen entzogen. Sie sehen sich aufgrund ihrer Haltung gegen den Krieg starken Repressionen ausgesetzt. Initiiert durch "Connection e.V." haben sich dreißig Organisationen aus Europa zur Kampagne "#ObjectWarCampaign" zusammengeschlossen, um sich dafür einzusetzen, Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren aus den genannten Ländern in Deutschland und der EU Schutz und Asyl zu geben.

Eine solche Kehrtwende bleibt vor dem Hintergrund, dass in unserem Land seitens nahezu aller politischen Parteien und in den Leitmedien eine unglaubliche Stimmungsmache zugunsten der militärischen Unterstützung der Ukraine stattfindet, eher Wunschdenken. Es ist offenkundig, dass in Kriegszeiten die Reihen fest geschlossen und keine Zweifel an der eigenen Position zugelassen werden. Während wir, wie es heißt, "die Guten" sind, wird Putin - oder auch das ganze russische Volk - als "das absolut Böse" dargestellt, der russische Präsident gar mit Hitler verglichen. Feindbilddenken und Hass haben sich breit gemacht. Ich fühle mich zurückversetzt in meine Bundeswehrzeit vor über fünfzig Jahren, als alles auf die Bekämpfung "des bösen Russen" ausgerichtet war. Fassungslos sehe ich, wie militarisiertes Denken öffentlich um sich greift. Berichtet wird fast ausschließlich aus der Optik der NATO.

Vor diesem Hintergrund, dem ständigen Trommeln für den Krieg und für Waffenlieferungen, ist der Meinungskorridor in weiten Teilen der Medien erschreckend schmal geworden. Abweichende und gegen die Einseitigkeit gerichtete Stimmen sind selten zu hören. Im Gegenteil. Es finden regelrechte systematische Hetz- und Verleumdungskampagnen gegen jene statt, die es wagen, die veröffentlichte Meinung in Frage zu stellen. Wer für Verhandlungen und Waffenstillstand eintritt, wird als "Lumpenpazifist" (Sascha Lobo) diffamiert, wer Angst vor einem Weltkrieg ausdrückt, wird zum "Putin-Versteher" gemacht oder zu "Putins fünfter Kolonne" gezählt und der Verbreitung von dessen Propaganda bezichtigt. Je prominenter die Abweichler sind, umso mehr werden sie von Kommentatorinnen und Kommentatoren niedergemacht. So etwa Gabriele Krone-Schmalz oder Ulrike Guérot. Teilweise wird sogar der Versuch unternommen, ihre beruflichen Perspektiven einzuschränken oder gar zu vernichten, Veranstaltungen zu verbieten oder auch Kritik zu kriminalisieren.

Leitmedien behaupten, sie repräsentierten die Vierte Gewalt, kontrollierten die Mächtigen und ermöglichten Demokratie, kritisieren aber statt der Regierungspolitik diejenigen, die zu ihr in Opposition stehen. Statt einer unparteiischen Berichterstattung und Kommentierung sind sie zum politischen Aktivismus übergegangen und treiben die politische Debatte zu Krieg und Frieden in ihrem Sinne voran. Ein besorgniserregender Zustand der Demokratie in unserem Land!

Wie lassen sich diese Dissonanzen und Konflikte überwinden? Natürlich wäre wünschenswert, alle Akteure besännen sich darauf, was eine lebendige Demokratie ausmacht: Rede- und Meinungsfreiheit, Streitgespräche über kontroverse Ansichten, Respekt vor der Meinung Andersdenkender, Dialog… Leider sehe ich nicht, wie das momentan im Großen geschehen könnte. Doch wem immer es möglich ist, zumindest kleine Schritte zu gehen, sollte sie gehen. Es wäre bereits ein Fortschritt, wenn einzelne Medienschaffende verinnerlichte Glaubenssätze und Annahmen in Frage stellten und nicht weiter tabuisierten. Wer hat den Mut, auszubrechen? Wer geht auf Andersdenkende zu, lässt sie fair zu Wort kommen? Gut wären ebenfalls runde Tische, an denen Menschen mit unterschiedlichen Positionen zusammensitzen, um sich auszutauschen. Wie das z.B. vorbildlich die Projektgruppe "Münchner Sicherheitskonferenz verändern" e.V. macht, die seit 2019 jährlich ein "Munich Peace Meeting" als nicht-öffentliches Fachgespräch organisiert. Bei dieser Veranstaltung findet ein Dialog zwischen Vertretern von Friedenswissenschaft, -arbeit und -bewegung und mit der Leitung bzw. dem Team der Münchner Sicherheitskonferenz zu Aspekten der Sicherheits- und Friedenspolitik statt. Dabei ist wichtig, dass den Teilnehmenden ein gleichberechtigter, respektvoller Austausch sowie eine gegenseitige Erweiterung des Horizonts ermöglicht wird.

Von existentieller Bedeutung ist zugleich eine Besinnung darauf, worin die wirklichen globalen Herausforderungen bestehen, die wir zu bearbeiten, zu bewältigen haben und auf die sich unsere Aufmerksamkeit richten sollte: Klimaerhitzung, Hunger, soziale Ungleichheit, atomare Vernichtung. Insbesondere die menschengemachten Bedrohungen bedürfen allergrößter, internationaler Anstrengungen. Dem steht die volle Konzentration so vieler Ressourcen auf die militärische Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland und die irrsinnige weltweite Aufrüstung entgegen. Stattdessen sind endlich eine zivile Konfliktbearbeitung und eine konfliktpräventive Außenpolitik in den Vordergrund zu stellen. Unbedingt gehört zur künftigen Krisen- und Gewaltprävention die Arbeit an der Basis für ein nachhaltiges, solidarisches, ökologisches und weitgehend gewaltfreies Gemeinwesen, das niemanden ausschließt und das in der Lage ist, sich gegen militärische Übergriffe sozial zu verteidigen. Damit sich überhaupt etwas in diese Richtung bewegt, bedarf es wohl unzähliger Initiativen von unten aus der Zivilgesellschaft.

Ebenfalls gilt es, sich der sowohl nach innen wie der nach außen gerichteten Feindbilder anzunehmen und sie zu überwinden. Zum Feindbildabbau leisten nicht zuletzt kulturelle Aktivitäten Bedeutendes. Gerade dort, wo aktuell Ausgrenzung und Ausschluss alles Russischen aus unserem öffentlichen Leben stattfindet, sind Brücken zu bauen. In Bremen gibt es z.B. im Rahmen der "Deutsch-Russischen Friedenstage e.V." die auf hohem Niveau angesiedelte und von der Bremer Volkshochschule mitgetragene Veranstaltungsreihe "Russische Lyrik im Spiegel der Zeit", die stets ein großes Echo findet und Vorurteile widerlegt.Vgl. https://deutsch-russische-friedenstage.de/2023/06/es-war-schoen-lyrik-von-jessenin-und-majakowskij/ - abgerufen 29.7.2023. Zu nennen ist auch das von Peter Bürger jüngst initiierte pazifistische Editionsprojekt "Tolstoi-Friedensbibliothek" ( www.tolstoi-friedensbibliothek.de ), das einen kostenfreien, vollständigen Zugang zu den pazifistischen, sozialkritischen, (religions-)philosophischen und theologischen Schriften Leo N. Tolstois bietet.

Ich wünsche mir schließlich, dass sich viele Menschen durch den letzten Text der im März 2023 verstorbenen Antje Vollmer berühren und zum Nachdenken anregen lassen. Er endet mit einem an alle gerichteten Vermächtnis: "Der Hass und die Bereitschaft zum Krieg und zur Feindbildproduktion ist tief verwurzelt in der Menschheit, gerade in Zeiten großer Krisen und existentieller Ängste. Heute aber gilt: Wer die Welt wirklich retten will, diesen kostbaren einzigartigen wunderbaren Planeten, der muss den Hass und den Krieg gründlich verlernen. Wir haben nur diese eine Zukunftsoption."Antje Vollmer, Vermächtnis einer Pazifistin: "Was ich noch zu sagen hätte". In: Berliner Zeitung. Online-Ausgabe, 23.2.2023, aktualisiert am 17.3.2023 - https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/ein-jahr-ukraine-krieg-kritik-an-gruenen-antje-vollmers-vermaechtnis-einer-pazifistin-was-ich-noch-zu-sagen-haette-li.320443   - abgerufen 19.7.2023.

Michael Schmid, Jg. 1951, Sozialwissenschaftler (M.A.) und Pädagoge, Geschäftsführer von "Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V." sowie  als "Referent für Friedensfragen" angestellt; lebt und arbeitet im "Lebenshaus" in Gammertingen; seit Mitte der 1970er Jahre in der Eine-Welt-Bewegung, Ökologie- und Friedensbewegung engagiert; Teilnahme an zahlreichen gewaltfreien Aktionen zivilen Ungehorsams mit daraus folgenden Gerichtsverhandlungen; verantwortlicher Redakteur des vierteljährlich erscheinenden gedruckten Rundbriefs und des Newsletters von "Lebenshaus Schwäbische Alb" sowie der Websites www.lebenshaus-alb.de.

Buchhinweis zum Sammelband, aus dem dieser Text stammt:

Hermann Theisen / Helmut Donat (Hg.): Bedrohter Diskurs - Deutsche Stimmen zum Ukrainekrieg. Bremen: Donat Verlag 2024. (ISBN: 978-3-949116-21-6; 368 Seiten; 24,80 EUR)

https://www.buchhandel.de/buch/Bedrohter-Diskurs-9783949116216

Die deutsche Debatte über den Ukrainekrieg ist geprägt von Kriegsbefürwortung und -propaganda, vermehrten Waffenlieferungen, Feindbilddenken, Russenfurcht und Schwertglauben. Ein offener Diskurs, der die unterschiedlichen Auffassungen und gegensätzlichen Argumente gleichberichtigt nebeneinander zur Sprache bringt, findet nicht statt. In den großen Zeitungen, im Rundfunk und im Fernsehen sind nur selten Standpunkte vertreten, die dem Mainstream widersprechen und der Haltung großer Bevölkerungskreise eine Stimme geben.

Insgesamt 57 Autorinnen und Autoren (u. a Franz Alt, Detlef Bald, Peter Brandt, Maria Buchwitz, Peter Bürger, Christoph Butterwegge, Jochen Cornelius-Bundschuh, Wolfgang Däubler, Eugen Drewermann, Leo Ensel, Ute Finckh-Krämer, Guide Grünewald, Tessa Hofmann, Margot Käßmann, Jutta Kausch-Henken, Elmar Klink, Dietmar Köster, Gabriele Krone-Schmalz, Ekkehard Lentz, Klaus Moegling, Michael Müller, Heribert Prantl, Clemens Ronnefeldt, Jürgen Rose, Walter Ruffler, Hans-Eberhard Scherer, Michael Schmid, Michael von der Schulenburg, Joachim Schuster, Peter Sörgel, Heike Springhart, Johano Strasser, Günter Verheugen, Hermann Vinke, Kathrin Vogler, Sahra Wagenknecht, Max Weber, Wolfram Wette, Angelika Wilmen, Andreas Zumach) verdeutlichen, was sich im bisherigen Diskurs kaum artikulieren ließ. Dazu gehört, dass es in dem Meinungsstreit, von alten wie neuen Kalten Kriegern forciert, um eine Militarisierung der Gesellschaft geht und dass es, um weiteres Blutvergießen und Elend zu verhindern, darauf ankommt, den Krieg durch Verhandlungen zu beenden, jedweden „Siegfrieden“-Parolen eine Absage zu erteilen und zu einer Politik der Entspannung zurückzukehren, die nicht den Krieg, sondern den Frieden als „Ernstfall“ begreift. 

Fußnoten

Veröffentlicht am

10. Januar 2024

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