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Leo N. Tolstoi: Der einfältige Iwan und die Soldaten

Auszug aus dem "Märchen von Iwan dem Dummkopf" von Leo N. Tolstoi (1885/86, übersetzt von Raphael Löwenfeld) - www.tolstoi-friedensbibliothek.de

Im Jahr 1885 schrieb Leo N. Tolstoi "Das Märchen von Iwan dem Dummkopf", eine verdeckte Kritik an Zarenherrschaft, Militarismus und Weltgefüge im Dienste der Reichen. Dieses ‚politische Märchen’ wider die Symbiose von Münze, Macht und Militär, das - aufgrund eines klugen Vorgehens - 1886 unerwartet die russische Zensur passieren konnte und erst 1892 den Behörden mit Blick auf die populäre Verbreitung missliebig war, erzählt die Geschichte der drei Söhne eines durchaus begüterten Bauern: Der Krieger Semjon und der wohlhabende Kaufmann ‚Dickwanst Taras’, die im weltlichen Sinn als erfolgreich gelten, handeln so rücksichtslos, dass der Familienfrieden leicht zerbrechen könnte. Doch Iwan, der als einfältig geltende dritte Sohn, hindert dies. Er bestellt mit Zähigkeit den elterlichen Bauernhof, versorgt den Vater sowie eine stumme Schwester und fügt sich gutmütig gar den ungerechten Ansprüchen der gierigen Brüder. Diesen Familienfrieden wider alle Erwartung kann ein alter Satan nicht ertragen. Er schickt zunächst drei nur bedingt erfolgreiche Unterteufel, um die Brüder zu entzweien. Sodann geht der Oberteufel selbst ans Werk. Am Ende werden Semjon (Militär, Waffenindustrie) und Taras (Kapital), die im Zusammenspiel beide zum Zarenstatus (politische Macht) aufgestiegen sind, zugrunde gerichtet sein. Der dritte Sohn Iwan erweist sich jedoch durchgehend als immun gegenüber den zerstörerischen Verführungen der Teufel. Soldaten sind in seinen Augen allein nützlich, wenn sie den Menschen lustig zur Musik aufspielen (danach muss man sie sofort wieder zurück in ‚Stroh’ verwandeln). Goldmünzen verschaffen ihm nur ein Gaudi, wenn er sie in die Luft werfen und unter die Leute verschenken kann (sobald das Geldsystem den Leuten Not bringt, muss man es sabotieren). Seine allerletzte, von einem der Unterteufel überlassene Heilwurzel gebraucht der ehrliche "Dummkopf", der sich nicht korrumpieren lässt, zugunsten eines kranken Bettelweibs. Die Königstochter kann er merkwürdigerweise auch ohne das Zaubermittel heilen, was ihm den Königsthron einbringt. Der folgende Auszug aus dem Märchen handelt davon, wie der alte Satan erfolglos versucht, endlich auch den ebenfalls zur Königswürde gelangten Bauern Iwan zu ruinieren.

Von Leo N. Tolstoi

[…] Mit zwei Brüdern war der alte Teufel fertig und ging nun zu Iwan. Der Teufel verwandelte sich in einen Feldherrn, kam zu Iwan und beredete ihn, ein Heer zu bilden. Ein König, sagt er, kann nicht ohne Soldaten leben. Gib du mir den Befehl, so nehme ich aus deinem Volk Soldaten und bilde ein Heer.

Iwan hörte ihm ruhig zu. Schon recht, sagt er, bilde nur eins und laß die Soldaten hübsche Musik machen. Das hab’ ich gern.

Da ging der alte Teufel in Iwans Reich umher und berief Freiwillige. Er verkündete, alle sollten sich die Stirn rasieren lassen - dann bekäme jeder ein Maß Branntwein und eine rote Mütze.

Da lachten die Narren. Branntwein, sagen sie, ist bei uns frei, wir brennen selbst welchen, und Mützen nähen uns unsere Frauen alle möglichen, sogar bunte und noch dazu mit Fransen.

So kam denn niemand. Geht der alte Teufel zu Iwan.

Deine Narren, sagt er, kommen nicht freiwillig, muß sie mit Gewalt zusammentreiben.

Schon recht, meint Iwan, so treib sie mit Gewalt zusammen.

Und der alte Teufel verkündete, alle Narren sollten sich in die Stammrolle eintragen lassen; wer aber nicht käme, den würde Iwan hinrichten lassen.

Da kamen die Narren zum Feldherrn und sprachen: Du sagst uns, wenn wir keine Soldaten werden, so wird uns der König hinrichten lassen; du sagst uns aber nicht, was geschieht, wenn wir Soldaten werden. Es heißt, auch Soldaten werden getötet.

Ja, ohne dem geht’s nicht ab.

Als die Narren das vernahmen, widersetzten sie sich. Wir kommen nicht, sagen sie. Mag man uns schon lieber zu Hause töten. Dem Tode entrinnen wir ja doch nicht.

Narren seid ihr, Narren! sagt der alte Teufel. Ein Soldat wird entweder getötet oder aber nicht getötet; wenn ihr euch aber nicht stellt, so überliefert euch König Iwan sicherlich dem Tode.

Da überlegten die Narren, kamen zu dem einfältigen Iwan und fragten:

Da ist ein Feldherr erschienen, sagen sie, der befiehlt uns allen, wir sollen Soldaten werden. Wenn ihr Soldaten werdet, sagt er, so werdet ihr entweder getötet oder werdet nicht getötet; wenn ihr aber nicht kommt, so überliefert euch König Iwan sicherlich dem Tode.

Da lachte Iwan. Wie kann ich allein, sagt er, euch alle dem Tode überliefern? Wäre ich nicht zu einfältig, so würde ich euch das erklären, so aber versteh’ ich’s selber nicht.

So gehen wir also nicht zu den Soldaten, sagen sie. Schon recht, meinte Iwan, geht nicht.

Da gingen die Narren zum Feldherrn und weigerten sich, Soldaten zu werden.

Der alte Teufel sieht ein, daß die Sache so nicht geht; er zieht also zum König von Tarakan und beredet den.

Laß uns in den Krieg ziehen, sagt er, König Iwan bekriegen. Er hat zwar kein Geld, aber Korn und Vieh und alle Güter in Hülle und Fülle.

Da zog der König von Tarakan in den Krieg. Er sammelte ein großes Heer, setzte Flinten und Kanonen in stand, zog an die Grenze und brach in Iwans Reich ein.

Kommen Boten zu Iwan und melden: Der König von Tarakan überzieht uns mit Krieg.

Ei was, meint Iwan, laß ihn nur kommen.

Der König von Tarakan überschritt mit seinem Heere die Grenze und schickte Kundschafter aus, um Iwans Heer aufzuspüren. Man suchte und suchte - da war kein Heer. Man wartete und wartete, ob es sich nicht irgendwo zeigen würde. Aber es fand sich keine Spur von einem Heer, und war niemand da, um Krieg zu führen. Da schickte der König von Tarakan Soldaten aus, Dörfer zu besetzen. Als die Soldaten im ersten Dorf ankommen, springen die Narren und ihre Frauen heraus und schauen die Soldaten verwundert an. Die Soldaten nehmen den Narren Getreide und Vieh; die Narren geben es her, und niemand verteidigt sich. Zogen die Soldaten in das nächste Dorf - genau das selbe. So zogen die Soldaten einen Tag und noch einen umher - überall dasselbe. Man gibt alles her, niemand verteidigt sich, die Narren laden die Soldaten sogar ein, bei ihnen zu wohnen. Ihr lieben Freunde, sagen sie, wenn ihr in eurem Lande ein schlechtes Leben führt, kommt doch ganz zu uns. Die Soldaten marschierten und marschierten - nirgends waren Truppen; dabei führt das ganze Volk ein gutes Leben, ernährt sich und andere, verteidigt sich nicht, sondern ruft noch Fremde ins Land.

Das wurde den Soldaten langweilig, und sie zogen zu ihrem König von Tarakan.

Wir können keinen Krieg führen, sagen sie, führ uns an einen anderen Ort; Krieg führen ist eine schöne Sache, aber das ist ja hier gerade als wenn man Brei schneidet. Hier können wir nicht länger bleiben.

Da wurde der König von Tarakan böse und befahl den Soldaten durchs ganze Land zu ziehen, die Dörfer, Häuser und das Korn zu verbrennen und das Vieh zu schlachten. Hört ihr nicht auf meinen Befehl, sagt er, so lasse ich euch alle hinrichten.

Die Soldaten erschraken und begannen nach dem Befehl des Königs zu handeln. Sie verbrannten die Häuser und das Korn und schlachteten das Vieh. Die Narren wehrten sich noch immer nicht, sondern weinten nur. Es weinten die alten Männer und alten Weiber, es weinten auch die kleinen Kinder.

Warum, sagen sie, tut ihr uns weh? Warum, sagen sie, verderbt ihr mutwillig unser Hab und Gut? Wenn ihr etwas braucht, so nehmt es euch doch lieber. Da merkten die Soldaten, wie abscheulich sie handelten. Sie zogen nicht weiter, und das ganze Heer lief auseinander. […]

Das Buch zum Thema:

Leo N. Tolstoi: Das Töten verweigern. Texte über die Schönheit der Menschen des Friedens und den Ungehorsam. Neu ediert von Peter Bürger und Katrin Warnatzsch. Tolstoi-Friedensbibliothek: Reihe B, Band 3. Norderstedt: BoD 2023. ISBN 978-3-7519-1925-8; Paperback; 292 Seiten; 12,90 Euro.

Leseprobe und Bestellmöglichkeit hier beim Verlag: https://www.bod.de/buchshop/das-toeten-verweigern-leo-n-tolstoi-9783751919258

Projektseite des pazifistischen Editionsprojektes: www.tolstoi-friedensbibliothek.de . In der Tolstoi-Friedensbibliothek sind 2023 inzwischen 28 Bände eingestellt worden, währenddessen der russisch-deutsche Kulturaustausch fast ganz in einer Eiszeit erstarrt. Die dort veröffentlichten Publikationen der in digitaler (kostenfreier) und gedruckter Form edierten Bibliotheksreihen werden ergänzt durch einen Offenen Lesesaal: https://www.tolstoi-friedensbibliothek.de/lesesaal/ .

 

Veröffentlicht am

09. Dezember 2023

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