Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

40 Jahre nach der “Prominentenblockade”: Gedanken zu Mutlangen

Von Michael Schmid (aus: Lebenshaus Schwäbische Alb, Rundbrief Nr. 117, Juni 2023 Der gesamte Rundbrief Nr. 117 kann hier heruntergeladen werden: PDF-Datei , 669 KB. Den gedruckten Rundbrief schicken wir Ihnen/Dir gerne kostenlos zu. Bitte einfach per Mail abonnieren )

Kürzlich ergab sich die Gelegenheit zu einem Besuch in Mutlangen, jener Gemeinde, die in den 1980er-Jahren als Stationierungsort der Pershing II-Atomraketen und als Symbol des gewaltfreien Widerstandes gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen Weltgeschichte schrieb. Beim Gang über die Mutlanger Heide schweiften meine Gedanken zurück in die Zeit vor nunmehr ziemlich genau 40 Jahren, als ich zum ersten Mal dort war. Damals wurden vom 1.-3. September 1983 die Zugänge zum US-Airfield in Mutlangen blockiert. Dies erregte weltweites Aufsehen. Rund 1.000 Menschen nahmen daran teil. Darunter befanden sich bekannte Persönlichkeiten wie Heinrich Albertz, Heinrich Böll, Günter Grass, Dietmar Schönherr, Oskar Lafontaine, Erhard Eppler, Bernt Engelmann, Walter und Inge Jens, Petra Kelly und Gert Bastian. Weil weit über 100 "Promis" an der Aktion teilnahmen, ging diese dann als "Prominentenblockade" in die Geschichtsbücher ein. Trotz dieser und weiterer beeindruckender Aktionen und heftiger Proteste der Friedensbewegung im Herbst 1983 billigte der Deutsche Bundestag am 22.11.1983 den sogenannten NATO-Doppelbeschluss und genehmigte die Stationierung von Pershing II-Raketen und Cruise Missiles der USA. Nur wenige Tage später, am 25. November 1983, trafen die ersten Atomraketen in Mutlangen ein.

Nun folgten zwischen 1983 und 1987 viele Aktionen des gewaltfreien zivilen Ungehorsams. Die Zufahrt zu dem Mutlanger Pershing-Depot wurde regelmäßig blockiert - und von der Polizei ebenso regelmäßig geräumt. Viele tausend Menschen beteiligten sich an Aktionen, ab 1984 dann im Rahmen der "Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung". 1987 wurde durch den INF-Vertrag zwischen den USA und der Sowjetunion die Verschrottung der umstrittenen atomaren Mittelstreckenwaffen besiegelt, die dann 1990 endgültig aus Mutlangen abgezogen wurden.

Biografische Bezugspunkte zu Mutlangen

Auch wenn meine hauptsächliche Friedensarbeit in den vergangenen Jahrzehnten an anderen Orten und in verschiedenen Organisationen stattfand, so habe ich mich in den Jahren ab 1983 an einigen Demonstrationen und mehrmals an gewaltfreien Blockadeaktionen in Mutlangen beteiligt. Ab Februar 1984 folgte parallel zu den Aktionen des Zivilen Ungehorsams eine regelrechte Prozesswelle vor dem Amtsgericht Schwäbisch Gmünd und anderen Gerichten. Auch ich bin einige Male mit dem Straftatvorwurf "Nötigung" vor Gericht gelandet. Erstmals stand ich im Sommer 1984 vor Richter Krumhard. Er war jemand, der schnell ruppig werden konnte und mit der Haltung vorging: "Wer vor mich kommt, wird so oder so verurteilt". Und so befand er mich im Schnellverfahren für schuldig und verhängte eine Strafe gegen mich. Damit verhielt er sich nicht anders als seine fünf Kollegen am Amtsgericht Schwäbisch Gmünd, die uns wie am Fließband verurteilten. Bei mir blieb ein schales Gefühl: ich hatte mir durch Krumhards autoritäres Auftreten den Wind aus den Segeln nehmen lassen. So konnte er im wahrsten Sinne des Wortes "kurzen Prozess" mit mir machen.

Das nächste Mal sollte dies anders laufen. Zweieinhalb Jahre später war es soweit. Richter Krumhard war in einem weiteren Verfahren wegen einer späteren Blockadeaktion erneut zuständig. Im Dezember 1986 erhielt ich von ihm schriftlich das überraschende Angebot, dann das Verfahren gegen mich einzustellen, wenn ich zukünftig meine "Demonstration auf der Fahrbahn für den Zeitraum unterbreche, in welchem Fahrzeuge die Straße passieren wollen". Wenn ich darauf eingegangen wäre, hätte ich eine Geldbuße in Höhe der im Strafbefehl vorgesehenen Geldstrafe bezahlen müssen. Zu diesem Zeitpunkt war Richter Krumhard also immer noch entschlossen, Blockaden als "verwerfliche Gewalt" zu bestrafen, es sei denn, ich hätte das Versprechen abgelegt, zukünftig Fahrzeuge passieren zu lassen. In einer Antwort an ihn führte ich aus, dass die Situation mit den stationierten Atomwaffen unverändert sei und ich es deshalb grundsätzlich für geboten hielte, mich vor das Massenvernichtungslager in Mutlangen zu setzen. Solange also die Situation mit dem fortgesetzten Atomwaffen-Wahnsinn so bleibe, könne ich mir nicht das Versprechen abkaufen lassen, in Zukunft die Straße für Fahrzeuge freizugeben. Ich wolle ihm dann bei einem Prozess meine Motive darlegen. "Und da gehe ich natürlich davon aus, dass meine Motive allemal ausreichen müssten, mich von der Anklage der Nötigung freizusprechen", schrieb ich. "Darauf hoffe ich, obwohl ich von Ihnen, Herr Krumhard, in einem früheren Prozess schon einmal anderes bescheinigt bekommen habe und von Ihnen verurteilt wurde. Aber jeder Mensch kann sich und damit seine Urteile ändern. Davon bin ich fest überzeugt!"

Dass sich allerdings ein solcher Meinungswandel innerhalb weniger Wochen vollziehen sollte, damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Mit dem festen Vorsatz, es dem Richter nicht mehr so leicht wie beim letzten Mal zu machen, bereitete ich mich gründlich auf den Prozess vor und nahm mir mit Jürgen Hemeyer aus Tübingen einen erfahrenen Anwalt. Und dann geschah bei der Hauptverhandlung am 15. Januar 1987 genau das Unvorstellbare und allenfalls für eine ferne Zukunft Erhoffte: Nach weit mehr als 1.000 Verurteilungen am Amtsgericht Schwäbisch Gmünd wurde ich von Richter Krumhard als erster Mutlangen-Blockierer völlig überraschend freigesprochen. Das hat bundesweit in Medien Schlagzeilen nach sich gezogen und auch zu öffentlichen Kontroversen geführt. Die Staatsanwaltschaft nahm diesen Freispruch nicht hin und legte Berufung gegen das Urteil ein.

Für die Verhandlung einer weiteren Blockadeaktion war dann Richter Dr. Offenloch zuständig, durch seine Urteilspraxis bundesweit bekannt geworden, der mich erwartungsgemäß verurteilte, nachdem wir einen Tag lang unsere Argumente ausgetauscht hatten. Gegen diese Verurteilung ließ ich meinen Anwalt Berufung einlegen. In der Berufungsinstanz vor dem Landgericht Ellwangen zwei Jahre später wurde die Verhandlung nach einigen Stunden vertagt, weil sie aufgrund unserer ausführlicher Argumentationen an diesem Tag nicht beendet werden konnte. Eine Fortsetzung gab es dann nie mehr. Nach Jahren erhielt ich eine Mitteilung, dass das Verfahren eingestellt worden sei. 1995 schließlich erklärte das Bundesverfassungsgericht unsere Verurteilungen wegen Nötigung für verfassungswidrig. Auf dieser Grundlage erhielt ich dann nachträgliche Freisprüche für alle meine vorherigen Verurteilungen.

Insgesamt waren 2.999 Menschen aufgrund von Blockaden in Mutlangen wegen Nötigung angeklagt und noch bis in die 90er Jahre hinein fanden Gerichtsprozesse statt.

All das - die Aktionen des Zivilen Ungehorsams in Mutlangen und anderswo sowie die gerichtlichen Auseinandersetzungen - waren natürlich wichtige und prägende Erfahrungen in meinem Leben. Dazu kommt, dass ich vom November 1988 bis März 1991 bei der "Friedens- und Begegnungsstätte Mutlangen e.V." als Geschäftsführer und Friedensarbeiter angestellt war. Da dies bereits in die Zeit nach Unterzeichnung des INF-Vertrags fiel, gab es während dieser Zeit keine Blockadeaktionen mehr. Doch an unzähligen Mahnwachen am Tor zur Raketenbasis habe ich teilgenommen, morgens um 7 Uhr und abends um 18 Uhr, manches Mal mit einer größeren Gruppe, öfter auch zu zweit. Die Atmosphäre in Mutlangen erlebte ich zu jener Zeit als sehr bedrückend. Ich möchte aus einem Artikel zitieren, den ich drei Monate nach meinem Arbeitsbeginn in Mutlangen schrieb. Es heißt dort: "Beginnen möchte ich mit dem, was ich nach wie vor am Bedrückendsten finde: den Pershing II-Atomraketen. Wer annimmt, nach Abschluss des INF-Vertrags sei in Mutlangen alles ganz anders geworden, der irrt vor allem in einer Hinsicht. Denn noch immer ist auch heute in geradezu beklemmender Weise hautnah erfahrbar, dass es sich als eine vielleicht tödliche Illusion erweisen könnte, darauf zu bauen, die führenden Politiker würden das Geschäft mit der Abrüstung schon für uns machen oder hätten die atomaren Mittelstreckenraketen gar schon verschrottet. Bei den Mahnwachen und von der ‚Pressehütte’ aus muss ich häufig mitansehen, wie ganze Pershing-Konvois hinaus in ihre Stellungen fahren, um dort ihre Raketen auf das östliche Europa zu richten und die Massenvernichtung zu erproben. Diese Massenmordinstrumente, oft in greifbarer Nähe, vermitteln mir immer wieder das nachhaltige Gefühl - und dann auch die tiefe Einsicht: Es ist wichtig, gegen diesen Wahnsinn zu arbeiten. Es ist wichtig, sich von der öffentlichen Abrüstungseuphorie nicht in die Irre leiten zu lassen: Das Kriegführen wird täglich eingeübt - in Mutlangen und anderswo!"

Im November 1990 wurden schließlich die letzten Atomraketen aus Mutlangen abgezogen und verschrottet. Haben wir als Friedensbewegung dazu beigetragen? Auf diese Frage antwortet beispielsweise der Journalist Andreas Zumach: "Damals demonstrierten in der größten Friedensbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg Millionen von Menschen in Europa und auch in den USA gegen ‚Geist, Logik und Politik der atomaren Aufrüstung und Abschreckung’ und blockierten die Stationierungsorte für Atomraketen. Diese Friedensbewegung trug wesentlich zur Vereinbarung des INF-Vertrages im Dezember 1987 bei."

Immer wieder wird behauptet, die Friedensbewegung habe keine Rolle für die Abrüstung gespielt, vielmehr habe das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den Supermächten den Weltfrieden gesichert. Doch diese Behauptung hält einer kritischen Prüfung nicht stand. Das belegt zum Beispiel die Einschätzung des Oberkommandierenden der amerikanischen Atomstreitkräfte in den Jahren 1992-94, General George Lee Butler, der sein Urteil über das atomare Abschreckungssystem in einem Vortrag im Jahr 1999 in dem Satz zusammenfasst: "Wir sind im Kalten Krieg dem nuklearen Holocaust nur durch eine Mischung aus Sachverstand, Glück und göttlicher Fügung entgangen, und ich fürchte, das Letztgenannte hatte den größten Anteil daran." (Frankfurter Rundschau, 1.9.1999)

Tolles Konversionsprojekt, nie dagewesene Gefahr

Die Mutlanger Heide konnte später zum friedlichen und zivilen Zweck genutzt werden. Die dort in den Jahren 1985 bis 1989 mit einem beträchtlichen Kostenaufwand erstellten Militärgebäude und sonstigen Infrastrukturanlagen wurden im Jahre 1999 nahezu restlos abgebrochen und beseitigt. Im Frühjahr 2000 wurde mit der Erschließung des Wohngebiets "Wohnpark Mutlanger Heide" und anschließend mit der Bebauung begonnen. Jetzt erinnern nur noch wenige Bauwerke in und an der heutigen Wohnsiedlung an die militärische Vergangenheit. Zudem wurde am 8. Dezember 2007, also genau am 20. Jahrestag der Unterzeichnung des INF-Vertrags, der Geschichtslehrpfad Mutlanger Heide eröffnet. Auf sieben Tafeln wird über die Nutzung der Mutlanger Heide informiert, u.a. auch an die Aktionen der Friedensbewegung gegen die Pershing II-Stationierung in den 1980er Jahren. Auf dem südlichen Teil des ehemaligen Flugplatzes der US-Army ist inzwischen ein großer Solarpark entstanden.

Doch leider wissen wir, dass trotz diesem und zahlreichen weiteren großartigen Konversionsprojekten die atomare Bedrohung heute geradezu dramatisch ist. Standen die Zeiger der symbolischen "Weltuntergangsuhr", welche die Gefährdung der Menschheit und des gesamten Planeten signalisiert, Mitte der Achtzigerjahre bei drei Minuten, so wurden sie im Januar 2023 auf 90 Sekunden vor Mitternacht vorgerückt. Die zuständigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind der festen Überzeugung, dass die Menschheit derzeit in einer "noch nie dagewesenen Gefahr" lebe.

Das beklemmende Gefühl, das ich in Mutlangen angesichts der Pershing-Raketen hatte, ist bei mir nie vollständig gewichen. Mir war stets die weiterhin drohende atomare Vernichtungsgefahr bewusst. Und seit dem Ukraine-Krieg haben sich meine Beklemmungen und Sorgen nochmals verstärkt. Beängstigend und für mich überhaupt nicht nachvollziehbar ist, wie leichtfertig viele Politikerinnen und Politiker sowie Medienleute die atomare Gefahr herunterspielen. Für mich gilt weiterhin: Es ist wichtig, gegen den atomaren Wahnsinn zu arbeiten!

Fußnoten

Veröffentlicht am

19. Juni 2023

Artikel ausdrucken

Weitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von