Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Erschöpfung

Von Georg Rammer

"Umfrage: Mehrheit der Deutschen findet alle Parteien inkompetent", titelten Zeitungen im Juli. Der FDP trauten drei Prozent kompetenten Umgang mit den drängenden Problemen des Landes zu, Grüne und AfD lagen bei acht Prozent, SPD bei zehn; die CDU als stärkste Partei kam gerade mal auf zwölf Prozent. Inkompetent? Nein. Die "Volksvertreter" ignorieren, wer ihr Auftraggeber ist und wessen Interessen sie zu vertreten haben.

Wenn das Volk seinen Politikerinnen und Politikern - ob Baerbock, Scholz, Merz oder Lindner - "aufs Maul schaut" und sie nach ihren Taten beurteilt, erkennt es, dass diese sich nicht den Bedürfnissen und Interessen der Menschen, die arbeiten, um Geld zum Leben zu haben, verpflichtet fühlen: "Menschen, die keine Unternehmensanteile halten, über keine Mietshäuser verfügen, keine Erbschaften erwarten. Menschen, für die es heißt: Nettoeinkommen gleich Monatsbudget" (Julia Friedrichs). Und auch nicht dem Willen der Bürger, die Friedensverhandlungen statt Leopard 2, Streubomben, F-16-Kampfflugzeugen, Marschflugkörpern oder anderen "Gamechangern" (um wessen Spiel geht es eigentlich?) für die Ukraine fordern. Störende Friedensaktivisten nannte Bundeskanzler Scholz bei einem Auftritt auf dem Münchner Marienplatz mit abfälligem Sarkasmus "gefallene Engel, die aus der Hölle kommen".

Für die Politfunktionäre wird Willfährigkeit gegenüber Kapitalinteressen der USA zur Staatsräson. Sie erklären teures US-Frackinggas ebenso zum notwendigen Teil des Kampfes für Klimaschutz wie Blutkohle aus Kolumbien; die Ermittlungen zum Terrorakt gegen Nord Stream 2 bleiben Staatsgeheimnis. China mutiert von unserer verlängerten Werkbank zum Hauptfeind, also schicken sie deutsche Kriegsschiffe dorthin. In wessen Interesse, in wessen Auftrag? Diese Politiker haben es nicht nötig zu erklären, warum Deutschland Kriegspartei sein und warum "die Ukraine diesen Krieg gewinnen muss" (Finanzminister Lindner) - das besorgt unsere fünfte Waffengattung, die Kriegspropaganda der freien Leitmedien in ihrer "freiwilligen Selbstgleichschaltung" (Andreas Zumach).

Ist das Polemik? Laut Deutschlandtrend forderten im Juli nur 14 Prozent der Deutschen mehr Waffen für die Ukraine. Sie sagen, die wichtigste Aufgabe des Staates sei die soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Nach einer Forsa-Umfrage für den Deutschen Beamtenbund halten nur 27 Prozent der Befragten den Staat für fähig, seine Aufgaben zu erfüllen. Das Ansehen der PolitikerInnen erreicht mit 14 Prozent Zustimmung einen Tiefpunkt. Sogar im reichen Baden-Württemberg meint nur ein knappes Viertel der Bevölkerung, dass die grün-schwarze Landesregierung ihrer Aufgabe gerecht wird. Das Vertrauen in die "Zukunftskompetenz" aller im Landtag vertretenen Parteien dümpelt zwischen 19 (Grüne) und sechs Prozent (FDP).

In wessen Namen handelt also die Politelite? Die Zuversicht, dass Bundesregierung und Parteien drängende, existenzielle Probleme im Interesse der Bevölkerung lösen, strebt einem gefährlichen Minimum zu. Ob Gesundheitsversorgung, bezahlbare Wohnungen, sichere Rente, soziale Gerechtigkeit oder Kriegsgefahr und Klimakatastrophe - bei keinem Thema ist bei den Menschen Optimismus festzustellen. Sozialer Zusammenhalt, Zukunftsperspektive junger Leute? So gut wie keine Zuversicht zu spüren. Was macht der Krieg, die propagandistische Berichterstattung, die Verweigerung und Desavouierung jeder Friedensinitiative mit uns? In Verbindung mit der eigenen politischen Ohnmacht entsteht bei einer breiten Mehrheit nicht nur Angst wegen der zunehmend prekären wirtschaftlichen Lage, sondern auch eine Stimmung, die von Sozialwissenschaften als "Erschöpfung" beschrieben wird.

Für diese Diagnose häufen sich die Hinweise. Ein "diffuses Grundgefühl der Bedrohung und Endzeitstimmung" stellt eine repräsentative Studie des Rheingold-Instituts fest. Denn die Bedrohung ist ja durchaus real, und wenn man die Tagesnachrichten verfolgt, verspürt trotz kraftraubender Verdrängungsversuche kaum jemand Zuversicht - zumal kein Licht am Ende des Tunnels aufscheint. Laut einer Befragung junger Leute in sieben großen europäischen Ländern glauben nur 22 Prozent, dass es ihnen einmal besser gehen könnte als ihren Eltern. Corona, Krieg, wirtschaftlicher Abstieg, verbunden mit Ohnmachtsgefühl: Man hat keinen Einfluss auf die Politik und den Marsch in die Katastrophen. Der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann meint, die ganze Gesellschaft leide gleichsam an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Es scheint, als hätte die Empfehlung der US-amerikanischen Denkfabrik Rand Corporation von 2019, Russland durch "Overextending and Unbalancing" zu ruinieren und in die Knie zu zwingen, in einem ganz anderen Sinn Deutschland und die EU getroffen: Viele Menschen sind erschöpft und seelisch destabilisiert und damit offen für radikale (Schein)Lösungen von rechts.

Bei jungen Leuten stellen Fachuntersuchungen eine massive Zunahme von schweren Ängsten und Depressionen fest. Die Grundlagen dafür wurden schon in der Corona-Zeit gelegt, durch Schulschließungen und Isolation unter totaler Vernachlässigung der psychosozialen Konsequenzen. Und es ist überhaupt nicht abzusehen, dass die Koalition bereit und in der Lage wäre, statt Aktienrente, Entlastung für Konzerne und irrsinnigen Summen für Aufrüstung Perspektiven für Frieden und zufriedenstellende Lebensbedingungen für alle zu schaffen.

Weiß die Wissenschaft die Lösung? Hilflos anmutende Empfehlungen von Psychologen vermitteln mitnichten Grund zu Optimismus: Mehr gemeinsame, positive Ziele definieren, mehr Wir-Gefühl entwickeln, große Erzählungen finden. Das klingt so substanzlos wie die Rede des Bundespräsidenten in Herrenchiemsee oder die Wumms- und Ruck-Appelle der Politkader. Aber auch auf Analysen basierende Vorschläge zur Verbesserung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage lassen keine Lösung erkennen. Bloße Mahnungen und Forderungen an die Koalition: dem Ochsen ins Horn gepfetzt. Diese Politik leidet nicht an Ideenlosigkeit und Mangel an Vorstellungen, sondern am fehlenden Willen, etwas für die Leute zu tun, deren Wohl zu fördern sie geschworen haben.

Wer vorgibt, schnelle Lösungen für die drohenden Katastrophen zu bieten, ist ein Scharlatan. Dennoch sollten wir wenigstens Orientierungspunkte zur Schaffung einer Weltordnung entwickeln, in der ein gutes Leben für alle möglich ist. Vielleicht könnten folgende Grundsätze eine Basis für gemeinsame, solidarische Aktionen bieten:

Krieg ist nie die Lösung und nie alternativlos.

Die UN-Charta gilt es umzusetzen, nicht die "regelbasierte Weltordnung" als Vorherrschaft des Westens.

Europa muss sich demokratisieren und vom Weltherrscher USA emanzipieren.

Statt Politik im Interesse des Kapitals muss eine neue außerparlamentarische Opposition eine für die Bevölkerung durchsetzen.

BRICS und Länder des globalen Südens sind in diesem Prozess Verbündete.

Quelle: Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft , 18/2023. Wir veröffentlichen den Artikel mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

24. Oktober 2023

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