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“Stoppt das Töten in der Ukraine” - Margot Käßmann bei Kundgebung in Stuttgart

Vor knapp 1.000 Menschen sprach die Theologin Margot Käßmann am 10. September 2023 bei der Kundgebung "Stoppt das Töten in der Ukraine" auf dem Stuttgarter Schlossplatz. Sie beklagte, der Ukraine-Krieg werde zu einem Stellungskrieg wie im Ersten Weltkrieg.

Von Dr. Margot Käßmann

Ich stehe heute hier aus drei Motiven:

Zum einen bin ich Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft.

Im vergangenen Jahr hat die russische Armee die Ukraine brutal überfallen. Niemand in der Friedensbewegung leugnet, dass Putin Täter und die Ukraine Opfer ist, wie jetzt immer wieder mit dem Vorwurf der Täter-Opfer-Umkehr unterstellt wird. Aber wir sehen mit Sorge eine beispiellose Militarisierung in Denken, Politik und Sprache. "Tapferkeit", "Heldenmut", "Erhöhen von Blutzoll", "totaler Sieg". Hinter diesen Begriffen aber verbergen sich Menschen und unermessliches Leid!

Bertha von Suttner, Friedensnobelpreisträgerin 1905 und eine der Gründerinnen der Friedensgesellschaft hat in ihrem Roman "Die Waffen nieder" vor mehr als hundert Jahren die ganze Absurdität des Krieges beschrieben. Wer kämpft eigentlich für was? Und welches entsetzliche Sterben von Soldaten wird dann einfach mit "Er ist gefallen" umschrieben? Gefallen? Nein: Getötet! Ermordet! Elendiglich verreckt, Soldaten doch ebenso wie Zivilisten. Da wird der Film "Im Westen nichts Neues", der dieses ganze Elend zeigt, mit Oscars ausgezeichnet. In diesen Tagen gibt es in der Ukraine einen Stellungskrieg ähnlich wie damals Verdun. Dort kamen mehr als 300.000 junge Männer sinnlos ums Leben. Im Film wird das angeschaut, aber was ganz konkret die Waffen, die wir heute liefern, anrichten, darüber wird geschwiegen.

Es gibt im Krieg keine guten und schlechten Waffen. Außenministerin Baerbock erklärt, "unsere Waffen schützen Leben". Das mag sein. Aber sie töten eben auch! Es gibt - geschätzt - inzwischen 120.000 getötete russische und 70.000 getötete ukrainische Soldaten. Die Verletzten werden auf fast 300.000 geschätzt (HAZ 21.8.23). Der Stellungskrieg erinnert an Verdun. Wann ist Schluss mit diesem Wahnsinn? Bei einer Millionen? Wann ist eine angemessene Verhandlungsposition erreicht? Ich denke: JETZT! SOFORT!

Ständig ist das Gegenargument: Putin will doch nicht verhandeln. Aber sollen Verhandlungen nur durch noch mehr Tote möglich werden? Verhandlungsbereitschaft, so Heribert Prantl, kann auch herbeiverhandelt werden. Waffenstillstand heißt nicht Kapitulation, sondern schafft die Möglichkeit zu sondieren, wie verhandelt werden kann. Wo sind denn neben all den Militärstrategen, die kundigen Diplomatiestrategen? Wo bleibt die große internationale Friedensinitiative?

Wir wollen nicht, dass die Eskalation weitergetrieben wird, noch mehr Waffen in das Kriegsgebiet geliefert werden. Denn mit diesen Waffenlieferungen, so hat es der Philosoph Jürgen Habermas eindrücklich herausgearbeitet, werden wir mitverantwortlich für all die Toten.

Zudem: Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht. 300.000 junge Männer haben Russland verlassen. Sie werden zum Teil als Feiglinge diffamiert. Nein, sie verweigern auf ihre Weise. Und sie sollten als politisch Verfolgte bei uns Asyl erhalten. Männer in der Ukraine zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen. Stimmt das mit europäischen Werten überein, frage ich mich. Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht.

Wir dürfen uns nicht von Feindbildern verführen lassen: Hier die Guten, da die Bösen. Wladimir Putin ist glasklar schuldig, er hat diesen sinnlosen, desaströsen, völkerrechtswidrigen Krieg begonnen, er könnte ihn sofort beenden. Ich wünsche mir, dass er für sein Handeln zur Rechenschaft gezogen wird. Und wir fordern, dass die russische Armee sich zurückzieht. Aber ich mache nicht jeden jungen russischen Soldaten dafür verantwortlich. Mein Vater war 18 als der Zweite Weltkrieg begann, wurde sofort eingezogen und blieb Soldat, bis er mit 25 in amerikanische Kriegsgefangenschaft kam. Er war in der Armee der Täter. Aber er war auch Opfer. Und er hat den Krieg bis zum Ende seines Lebens gehasst.

Wir befinden uns in einer Spirale der Eskalation, die auch durch Waffenlieferungen aus dem Westen an die Ukraine angeheizt wird. Erst hieß es: Helme, dann: ausschließlich Verteidigungswaffen, dann: keine letalen Waffen. Jetzt: Angriffspanzer. Die Liste der Bundesregierung über militärische Unterstützungsleistungen an die Ukraine ist endlos lang: Kampfpanzer, Schützenpanzer, Panzerhaubitzen, Munition. Die USA liefert inzwischen sogar Streumunition an die Ukraine. Die Reaktion in Deutschland wirkt wie ein achselzuckendes "Na und?" Wenn hier nicht ein glasklares Stoppschild gesetzt wird, werden die Nato-Staaten zur Kriegspartei.

Die Konvention aus dem Jahr 2008 ächtet Streubomben. Denn so eine Bombe verstreut im wahrsten Sine des Wortes nach Abschuss oder Abwurf je nach Größe über hundert kleine Bomben, die noch Jahrzehnte später explodieren können. Kinder halten sie oft für Spielzeug und werden zerfetzt. In vielen Ländern sind die grauenvollen Folgen dokumentiert. Die Osloer Konvention wurde von 110 Staaten unterzeichnet, nicht aber von den USA, Russland und der Ukraine. Daher das Achselzucken: Was geht uns das an?

Ich finde, es geht uns etwas an. Denn inzwischen scheint der Zweck alle Mittel zu heiligen. Rückfragen zu Waffenlieferungen sind nicht mehr erlaubt. Der Kurs muss gehalten werden. Deutsche Panzer, F16 Kampfflugzeuge, Streubomben - es gibt kein Limit mehr, allenfalls bei Atombomben vielleicht. Der Zweck lautet: Die Ukraine muss um jeden Preis gegen den Aggressor Putin siegen. Der setzt schließlich auch Streubomben ein. Das gleicht der Argumentation von Kindern: Er hat mich gehauen, also haue ich zurück. Aber Erwachsene wissen eigentlich: Irgendjemand muss die Eskalationsspirale unterbrechen!

Wir lehnen Waffenlieferungen ab! Noch schwerere Geschütze, Kampfjets und U-Boote werden diesen Krieg nicht beenden. Wir brauchen einen Stillstand der Waffen! Deshalb fordern wir fordern wir die Bundesregierung auf, alle Kraft einzusetzen, damit massive internationale diplomatische Kraftanstrengungen zu einem Waffenstillstand und anschließenden Verhandlungen führen. Nur so findet das Elend der Menschen in der Ukraine schnell ein Ende.

Zum anderen stehe ich hier als evangelische Christin.

Jahrhundertelang wurden Waffen durch Kirchenvertreter gesegnet. Und auch heute sehen wir wieder Bilder davon. Patriarch Kyrill rechtfertigt den russischen Angriff auf die Ukraine als sei Russland angegriffen durch westliche Werte wie Freiheit, Gleichberechtigung, Anerkennung homosexueller Lebenspartnerschaften. Das ist für mich Gotteslästerung, Blasphemie.

Die Kirchen der Welt sind immer in die Irre gegangen, wenn sie Gewalt legitimiert haben. Denn im Evangelium findet sich dafür keinerlei Grundlage. Jesus hat gesagt "Steck das Schwert an seinen Ort" und noch mehr: "Liebet Eure Feinde". Der Friedensnobelpreisträger Martin Luther King hat erklärt, das sei das Schwerste, was Jesus uns hinterlassen hat. Das stimmt. Aber es ist zuallererst eine bleibende Mahnung, sich nicht in Feindbilder hineintreiben zu lassen. Und genau das geschieht zurzeit massiv: Da die bösen, ja barbarischen Russen. Hier die guten und tapferen Ukrainer. Es geht um Menschen, die getötet werden! Soll ich mich mitfreuen, wenn in so genannten sozialen Netzwerken gefeiert wird, dass mehr als 400 junge russische Soldaten ums Leben kamen, weil sie aus Heimweh am 1. Januar Nachrichten vom Handy zu ihren Familien geschickt haben und dadurch geortet werden konnten? Nein! Alle Toten im Krieg haben mein Mitgefühl, denn sie sind alle Opfer. Zuallererst ukrainische Zivilistinnen und Zivilisten, deren Heimat sinnlos zerstört wird, die Vertreibung, Folter, Vergewaltigung und Verschleppung von Kindern ausgesetzt sind. Diese Bilder zeigen: Der Krieg verroht die Menschen auf unfassbare Weise. Aber auch ukrainische Soldaten und russische Soldaten haben Mitgefühl verdient.

"Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein", haben die Kirchen der Welt 1948 gemeinsam proklamiert. Darum geht es. Mir ist bewusst, dass wir schuldig werden können, wenn wir gegen Waffenlieferungen plädieren, die Menschen in der Ukraine zu ihrer Verteidigung anfordern. Es gehört zur Demut eines Menschen einzugestehen, dass das der Fall ist. Aber schuldig kann auch werden, wer für Waffen plädiert. Denn Waffen töten. Dafür werden sie produziert. Und daran wird sehr gut verdient. Allein der Kurs für eine Aktie von Rheinmetall ist seit dem 24. Februar letzten Jahres von 90 auf 276 Euro gestiegen.

Als ich mit einer Freundin den Nachlass ihres Vaters sortiert habe, fanden wir ein "Gebetbuch für den deutschen Soldaten im Felde". Dort waren auch die Zehn Gebote aufgeführt. Unter dem fünften, "Du sollst nicht töten", stand in Klammern: "Gilt nicht im Kriegsfall". So einfach können wir es uns nicht machen!

Ich wünsche mir einen Aufschrei, der erklärt: Die Gewaltspirale muss durchbrochen werden! Jesus hat uns dazu ermutigt. Die andere Wange hinhalten, die zweite Meile mitgehen bedeutet nicht, passiv zu sein. Es ist ein enormer Kraftakt, der Frieden möglich machen kann. Und um das klarzustellen: Als Deutsche formuliere ich keine Forderungen an die Ukraine. Aber ich erwarte Friedensinitiativen von meinem Land.

Christinnen und Christen leben in Deutschland ebenso wie in Russland, der Ukraine, den USA. Ich wünsche mir, dass die Kirchen der Welt mit ihren Oberhäuptern wie ihren Mitgliedern sich energisch für ein sofortiges Schweigen der Waffen einsetzen.

Und drittens stehe ich hier als Großmutter von sieben Enkelkindern.

Wenn ich an diese Kinder denke, an all die Kinder in der Ukraine, in Russland, in Syrien, im Jemen, dann sind 100 Milliarden Euro für Rüstung zusätzlich zum Bundeswehretat von schon mehr als 50 Milliarden Euro allein in unserem Land doch keine Investition in ihre Zukunft. Was sie brauchen, ist eine Investition zur Verhinderung der Klimakatastrophe. Ihre Zukunft wird lebenswert durch Milliarden Euro, die in Bildung und Entwicklung investiert werden. Unsere Erde ist bedroht durch die rücksichtslose Ausbeutung aller Ressourcen. Und Krieg ist eine der schlimmsten Zerstörungskräfte. Inzwischen hat Deutschland - die Verpflichtungen im Rahmen der EU und die Leistungen für Geflüchtete in unserem Land nicht eingerechnet - 22 Milliarden Euro an Hilfsleistungen für die Ukraine gezahlt. Wenn es all diese Mittel plus 100 Milliarden Euro für Aufrüstung gibt, aber nur 2,4 Milliarden für Kindergrundsicherung, zeigt sich brutal, wo die Prioritäten liegen…

Ich kann den Ruf nach Waffen durchaus nachvollziehen. Aber in einer Demokratie nehme ich mir das Recht heraus, eine andere Haltung einzunehmen. Und den Respekt, dass es auch diese Position geben kann, vermisse ich in der jetzigen Debatte. Wer Waffenlieferungen ablehnt, wird gnadenlos diffamiert als Putinversteherin und Lumpenpazifist, als naiv, dumm und ahnungslos hingestellt. Und der Bundeskanzler erklärt, die für den Frieden eintreten, seien "gefallene Engel aus der Hölle", die einem Kriegstreiber das Wort reden.

Das ist für einen demokratischen Diskurs unwürdig. Und wir führen diese Debatte nicht stellvertretend für die Ukraine, sondern in Deutschland.

Gewiss gibt im ersten Affekt ein Selbstverteidigungsrecht. Aber nach der akuten Reaktion auf die Bedrohung muss mit Vernunft eine für beide Seiten akzeptable Lösung gefunden werden. Niemandem werde ich meine Haltung aufzuzwingen versuchen, denn niemand kann für andere Position beziehen. Aber in Verantwortung auch mit Blick auf die deutsche Geschichte und mit Blick auf die Zukunft unseres Landes, halte ich es als Deutsche für richtig, keine Waffen in ein Kriegsgebiet zu liefern. Bis Anfang letzten Jahres war das übrigens auch Konsens…

Wer sich gegen Waffenlieferungen äußert wird in letzter Zeit auch mit dem äußerst rechten politischen Spektrum in Verbindung gebracht. Dagegen verwahren wir uns! Wir lassen uns nicht instrumentalisieren. Deshalb haben wir gesagt: "Für Menschen und Gruppen aus dem nationalistischen und antidemokratischen Spektrum ist auf unseren Aktionen kein Platz." Wir treten ein für eine Überwindung von Nationalismus und Rassismus, die Menschlichkeit und Gemeinschaft möglich macht. Wer Unfrieden gegen andere Menschen sät, kann nicht für Frieden eintreten.

Wir brauchen für die Zukunft dieser Welt keine Aufrüstungsprogramme, sondern dringend Abrüstung und ein Ende der atomaren Bedrohung durch Verzicht auf Atomwaffen in allen Staaten. Es müssen nicht ständig noch mehr und "bessere" Waffen produziert werden. Sondern wir wollen diese Welt endlich, endlich entwaffnen.

Dafür treten Pazifistinnen und Pazifisten in aller Welt ein. Sie tun das wie heute hier in Stuttgart und auch in Ostermärschen schon seit dem Jahr meiner Geburt 1958. Das passt. Denn Ostern bringt die Hoffnung mit sich, dass Gewalt und Tod nicht das letzte Wort haben. Deshalb werden wir gewaltfrei für Frieden und Abrüstung eintreten, solange es nötig ist.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


Reden und  Videos "Stoppt das Töten in der Ukraine"  der Kundgebung vom 10. September in Stuttgart:

Veröffentlicht am

18. September 2023

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