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Gedanken Leo Tolstois über Gewalt, Krieg und Revolution

Aus seinen Schriften, Tagebüchern und Briefen - Broschüre für die "Internationale der Kriegsdienstgegner", 1928

Textwiedergabe nach www.tolstoi-friedensbibliothek.de (Reihe B, Band 9)

1. | Noch vor der christlichen Lehre gelangte unter den verschiedenen Völkern ein höheres, der gesamten Menschheit gemeinsames religiöses Gesetz zum Ausdruck und zur Verkündung: die Lehre, dass die Menschen zu ihrem Wohle nicht jeder für sich leben sollen, sondern jeder für das Wohl aller im Dienste für die Gesamtheit. Dieses Gesetz ist im Buddhismus ausgedrückt, in den Lehren Jesaias’, Konfuzius’, Lao-Tses, der Stoiker. Es wurde verkündet, und diejenigen Menschen, die es kannten, mussten seine ganze Wahrheit und sein wohltätiges Wirken sehen. Aber das Leben, wie es sich gestaltet hat, begründet nicht auf gegenseitigem Dienst, sondern auf Gewalt, hat bis zu solchem Grade alle Einrichtungen und Sitten durchdrungen, dass die Menschen, wenn sie auch die wohltätige Wirkung des gegenseitigen Dienstes erkannten, dennoch fortfuhren, nach den Gesetzen der Gewalt zu leben und diese Tatsache mit der Notwendigkeit der Androhung der Vergeltung rechtfertigten. Ein Gesellschaftsleben ohne Drohung und Vergeltung von Bösem mit Bösem erschien ihnen unmöglich.

Vor 1900 Jahren wurde das Christentum verkündet. Es bestätigte mit neuer Kraft das Gesetz des gegenseitigen Dienstes und legte darüber hinaus die Ursachen dar, aus denen dieses Gesetz nicht erfüllt worden war. Die christliche Lehre zeigte nicht nur die Ungerechtigkeit, sondern auch die Schädlichkeit der Vergeltung, zeigte, dass das einzige Mittel, der Gewalt zu entgehen, ein ergebenes, kampfloses Ertragen ist, ohne dass man Böses dem Bösem entgegenstellt.

Diese Lehre wurde deutlich verkündet und festgesetzt. Aber die unwahre Vorstellung, dass Vergeltung als unumgängliche Bedingung des menschlichen Lebens gerecht sei, ist so eingewurzelt, und so viele Menschen kannten die christliche Lehre nicht oder kannten sie nur in falscher Auslegung, dass die Menschen, die Christi Gesetz angenommen hatten, fortfuhren, nach dem Gesetz der Gewalt zu leben. Die Führer der christlichen Welt glaubten, es sei möglich, die Lehre vom gegenseitigen Dienst anzunehmen ohne das Gebot: "Widerstrebet nicht dem Übel", das (im Sinne eines Gesetzbuches) die Grundlage der gesamten Lehre vom Leben der Menschen unter einander bildet. Aber das Gesetz des gegenseitigen Dienstes anzunehmen und das Gebot, Böses nicht mit Bösem zu vergelten, abzulehnen, bedeutete, dass man Gesetze zusammenfügte, ohne sie dort zu befestigen, wo sie sich naturgemäß aneinanderschließen. Auf diese Weise fuhren die Christen-Menschen fort, nicht nur das zu tun, was die heidnischen Völker taten, sondern sie verübten noch bei weitem schlimmere Dinge. Immer und immer mehr entfernten sie sich vom christlichen Leben. Das Wesen des Christentums entschwand mehr und mehr, weil es nur unvollkommen angenommen worden war, und die christlichen Völker gelangten schließlich in die Lage, in der sie sich jetzt befinden. In feindlichen Truppen stehen sie einander gegenüber, die alle ihre Kräfte daran wenden, sich einer gegen den anderen zu bewaffnen, und zu jeder Minute bereit zu sein, einander gegenseitig zu zerfleischen. Ja, sie bewaffneten sich nicht nur einer gegen den anderen, sondern sie bewaffneten und bewaffnen gegen sich auch nichtchristliche Völker, von denen sie gehasst werden und die sich gegen sie erheben; und was die Hauptsache ist, sie gelangten zu einer vollständigen Leugnung nicht nur des Christentums, sondern jedes höheren Sittengesetzes in ihrem Leben.

2. | "Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt ist: Auge um Auge Zahn um Zahn, aber ich sage euch: Widersetze dich nicht dem Bösen; aber wer dich auf deine rechte Wange schlägt, dem wende auch die andere Wange zu, und wer mit dir zum Richter gehen und dir dein Hemd wegnehmen will, gib ihm auch dein Oberkleid, und wer dich zwingt, mit ihm eine Meile zu gehen, gehe mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wer von dir leihen will, von dem wende dich nicht ab."

Diese Lehre wies darauf hin, dass, solange der Mensch, der selbst Gewalt anwendet, Richter darüber ist, in welchen Fällen sie zulässig ist, der Gewalt keine Grenze gesteckt sein wird. Deshalb ist es zur Überwindung der Gewalt nötig, dass niemand und unter keinem Vorwande Gewalt gebraucht, vor allem nicht unter dem gebräuchlichen Vorwand der Vergeltung. Diese Lehre bestätigte jene einfache aus sich selbst verständliche Wahrheit, dass es unmöglich ist, das Böse mit dem Bösen zu vernichten, dass das einzige Mittel, das Übel der Gewalt zu vermindern die Enthaltung von der Gewalt ist. Wie Feuer das Feuer nicht löscht, so kann Böses das Böse nicht löschen. Nur das Gute, das dem Bösen begegnet und von ihm nicht angesteckt wird, besiegt das Böse. Nur wer sich nicht widersetzt, setzt dem Übel ein Ende, beschränkt es auf sich selbst, neutralisiert es und erlaubt ihm nicht, weiter zu gehen, was wie bei der Übertragung der Bewegung durch elastische Kugeln unausbleiblich geschehen würde, wenn jene neutralisierende Kraft des Guten fehlt. Dass dies so ist, ist in der Welt der menschlichen Seele ein ebenso unabänderliches Gesetz wie das Gesetz Galileis in der Astronomie, nur noch unabänderlicher, klarer und vollständiger.

3. | Patriotismus als Gefühl der ausschließlichen Liebe zum eigenen Volke und als Lehre vom Ruhm, dem man seine Ruhe, sein Vermögen und sogar sein Leben opferte, oder als Lehre der Verteidigung der Schwachen gegen Vernichtung und die Gewalt der Feinde -, dieser Patriotismus war das höchste Ideal einer Zeit, in der jedes Volk es für möglich und gerecht hielt, für sein eigenes Wohl und seine Macht die Angehörigen eines anderen Volkes zu vernichten und zu berauben. Aber schon vor etwa 2000 Jahren fingen die höchsten Vertreter der menschlichen Weisheit an, die höchste Idee der Brüderlichkeit der Menschen zu bekennen, und diese Idee kam ihnen mehr und mehr zum Bewusstsein und erreichte in unserer Zeit die verschiedenartigste Verwirklichung. Dank der Erleichterung der Verkehrsmittel, der Einheit von Industrie, Handel, der Künste und Wissenschaften sind die Menschen unserer Zeit bis zu einem solchen Grade miteinander verbunden, dass die Gefahr der Eroberungen, der Morde, der Gewaltanwendung von Seiten benachbarter Völker schon gänzlich geschwunden ist und alle Völker (Völker, jedoch nicht Regierungen) untereinander in friedlichen, für alle vorteilhaften, freundschaftlichen, handelsmäßigen, industriellen, geistigen Beziehungen leben, die zu stören für sie weder notwendig noch vernünftig ist. Und nun rufen die Regierungen diese feindseligen Beziehungen unter dem Deckmantel des Patriotismus hervor und geben sich dann den Anschein, dass sie die Völker miteinander versöhnen. So etwa wie ein Zigeuner beim Pferdeverkauf seinem Pferde Pfeffer unter den Schwanz streut und es in seinem Stalle peitscht, dann das Pferd am Zügel herausführt und sich stellt, als ob er das aufgeregte Tier nur mit Mühe bändigen könne.

4. | Wir, alle christlichen Völker, die ein und dasselbe geistige Leben leben, sodass jeder gute und fruchtbare Gedanke, der an dem einen Ende der Welt entspringt, sofort der ganzen christlichen Menschheit mitgeteilt wird, die gleichen Gefühle der Freude und des Stolzes hervorruft, unabhängig von der Nationalität; wir, die wir nicht nur die Denker, Wohltäter, Dichter, Gelehrten fremder Völker lieben, wir, die wir stolz sind auf die Tat Damians [Damian de Veuster, 1840-1873; Pfleger der Leprakranken] wie auf unsere eigene; wir, die wir einfach die Menschen fremder Nationalitäten lieben: Franzosen, Deutsche, Amerikaner, Engländer, wir, die wir nicht nur ihre Eigenschaften lieben, sondern uns freuen, wenn wir ihnen begegnen, ihnen freudig zulächeln, den Krieg mit diesen Menschen nicht nur für keine Heldentat halten, sondern nur mit Entsetzen daran denken können, dass zwischen diesen Menschen und uns eine solche Meinungsverschiedenheit entstehen könnte, die durch gegenseitigen Mord entschieden werden muss -, wir alle sind berufen, teilzunehmen an dem Morde, der unausbleiblich, wenn nicht heute dann morgen erfolgen muss. Dieser Widerspruch ist für Menschen unserer Zeit so schrecklich, dass es unmöglich geworden ist zu leben, ohne ihn zu lösen.

5. | Und welcher Nutzen erwächst auch nur irgend jemandem geistig oder körperlich daraus, dass es ein Russland, England, Frankreich gibt? … Das allergrößte, materielle Unheil: Steuern, Kriege, Sklaverei; in geistiger Hinsicht: Stolz, Ehrgeiz, Grausamkeit, Uneinigkeit und Solidarität mit der Gewalt.

Viele grausame und verderbliche Arten von Aberglauben hat es gegeben. Menschenopfer und Inquisition und Scheiterhaufen, aber niemals gab es einen grausameren und verderblicheren als den Aberglauben des Vaterlandes - des Staates. Es besteht das Band einer Sprache, einer und derselben Gebräuche, wie z. B. der Verbindung von Russen mit Russen, wo sie auch sein mögen, in Amerika, in Galizien, in der Türkei, und der Angelsachsen mit Angelsachsen in Amerika, in England, in Australien; und es gibt ein Band, das Menschen verbindet, die auf gemeinsamer Scholle leben: die Landgemeinde oder sogar der Bund der Landgemeinden, verwaltet nach frei von der Bevölkerung festgesetzten Regeln; aber weder das eine noch das andere Band hat irgend etwas gemein mit dem gewaltsamen Band des Staates, der schon bei der Geburt des Menschen seine Unterordnung unter die Gesetze des Staates fordert.

Hierin liegt ein schrecklicher Aberglaube. Dieser Aberglaube besteht darin, dass man den Menschen versichert und die Menschen es sich selbst versichern, dass die künstlich geschaffene und mit Gewalt aufrecht erhaltene Verbindung die notwendige Bedingung für die Existenz der Menschen ist, während diese Verbindung nichts ist als Gewalt, vorteilhaft für diejenigen, die sie ausüben.

6. | In "Tausend und eine Nacht" finden wir eine Erzählung, wie ein auf eine wüste Insel verschlagener Reisender am Ufer eines Baches auf einen auf der Erde kauernden Greis mit abgezehrten Beinen stößt. Der Greis bittet den Reisenden, ihn auf die Schulter zu nehmen und über den Bach zu tragen. Der Reisende willigt ein. Aber wie nun der Greis sich auf den Schultern des Reisenden festgesetzt hat, so umschlingt er sofort dessen Hals mit den Beinen und lässt ihn nicht mehr frei. Nachdem er von dem Reisenden Besitz ergriffen hat, treibt er ihn an, wie er will, reißt Früchte von den Bäumen, isst sie selbst, ohne sie mit demjenigen zu teilen, der ihn trägt und verhöhnt ihn noch in jeder Weise.

Das Gleiche geschieht mit den Völkern, die den Regierungen Soldaten und Geld gegeben haben. Für Geld kaufen die Regierungen Waffen und mieten oder bilden sich durch Erziehung verantwortungslose vertierte Kriegsbefehlshaber heran. Und in künstlichen Methoden der Verdummung, die sie Disziplin nennen und die sie durch Jahrhunderte ausgearbeitet haben, machen sie aus Menschen, die als Soldaten einberufen worden sind - ein diszipliniertes Heer. Die Disziplin aber besteht darin, dass Menschen, die zu dieser Unterweisung gelangt sind und sie eine gewisse Zeit genossen haben, alles dessen verlustig gehen, was für den Menschen wertvoll ist: der hauptsächlichen menschlichen Eigenschaft - der Freiheit der Vernunft. Vielmehr werden sie zu gehorsamen maschinenmäßigen Werkzeugen des Mordes in den Händen ihrer organisierten hierarchischen Obrigkeit.

Nicht umsonst legen alle Könige, Kaiser, Präsidenten soviel Wert auf Disziplin, bestrafen ihre Verletzung und halten für die allerwichtigste Sache: Besichtigungen, Manöver, Paraden, Parademärsche und ähnliche Dummheiten. Sie wissen, dass alles dies die Disziplin stützt; und auf der Disziplin beruht ja nicht nur ihre Macht, sondern auch ihre Existenz. Das disziplinierte Heer ist jenes Werkzeug, durch dessen Hilfe sie mit fremden Händen die größten Verbrechen begehen können, deren Möglichkeit gerade ihnen die Völker unterwirft.

Und gerade in diesem disziplinierten Heer ist das Wesen jenes Betruges begründet, der die Regierungen der Neuzeit zur Herrschaft über die Völker verhilft. Und wenn dieses willenlose Werkzeug der Gewalt und des Mordes sich in der Macht der Regierungen befindet, so ist das ganze Volk in ihrer Hand und sie geben es nicht mehr frei und sie richten es nicht nur zu Grunde, sondern sie verspotten es noch, indem sie ihm mit lügnerisch-religiöser und patriotischer Erziehung Ergebenheit einflößen und sogar Verehrung für sich selbst, d. h. für dieselben Menschen, die das ganze Volk in Sklaverei halten und es quälen.

7. | Wenn zwei Männer, die betrunken im Wirtshaus sitzen, sich beim Kartenspiel prügeln, so kann ich mich nicht entschließen, einen von ihnen zu verurteilen, wie überzeugend auch immer die Beweisgründe des anderen sein mögen. Die Ursache für die abscheulichen Handlungen des einen oder des anderen liegt sicherlich nicht in der Ungerechtigkeit eines von ihnen, sondern darin, dass sie anstatt ruhig zu arbeiten oder auszuruhen, es für nötig hielten, im Wirtshaus Wein zu trinken oder Karten zu spielen. Ebenso wenig kann ich mich je dazu verstehen, in einem Kriege, der irgendwo aufflammt, ausschließlich die eine Partei als schuldig zu betrachten. Man kann zugeben, dass eine der Parteien schlechter verfährt als die andere; aber die Entscheidung darüber lässt unbedingt sogar die allernächste Ursache dafür ungeklärt, weshalb es zu einer so schrecklichen, grausamen und unmenschlichen Erscheinung kommt, wie es der Krieg ist.

Diese Ursachen liegen für jeden Menschen, der nicht seine Augen schließt, ganz deutlich zutage, wie gegenwärtig im Transvaalkriege [1900], ebenso auch in allen anderen Kriegen, die in der letzten Zeit geführt wurden. Dieser Ursachen sind drei: Erstens die ungleiche Verteilung der Güter, d. h. die Beraubung der einen Menschengruppe durch die andere, zweitens das Vorhandensein des Soldatenstandes, d. h. von Menschen, die für den Mord erzogen und vorausbestimmt sind, und drittens die lügnerische[n] größtenteils bewußt betrügerische[n] religiöse[n] Lehre[n], in welchen die jungen Generationen mit Gewalt erzogen werden.

Und deswegen denke ich, dass es nicht nur zwecklos, sondern auch schädlich ist, die Ursache für den Krieg in den Chamberlains, den Wilhelms u. a. zu sehen, wenn man damit vor sich selbst die wirklichen Ursachen verbirgt, die bei weitem näher liegen und an denen wir selbst Anteil haben. Über die Chamberlains und Wilhelms können wir nur aufgebracht sein und sie tadeln; aber unser Zorn und unser Schelten verderben uns nur das Blut, aber ändern nicht den Gang der Dinge; die Chamberlains und Wilhelms sind blinde Werkzeuge von Kräften, die weit hinter ihnen liegen. Sie verfahren so, wie sie verfahren müssen, und wie sie anders nicht verfahren können. Die ganze Geschichte ist eine Reihenfolge ganz derselben Handlungen aller Politiker wie der Transvaalkrieg; und deswegen ist es gänzlich zwecklos und sogar unmöglich, zornig auf sie zu werden und sie zu verurteilen, wenn wir die innersten Ursachen ihrer Tätigkeit sehen und wenn wir fühlen, dass wir selbst schuldig sind an den Taten des einen oder des anderen, je nachdem wir uns selbst zu den drei grundlegenden Ursachen verhalten, die ich erwähnt habe.

Solange wie wir außerordentliche Reichtümer genießen, während große Volksmassen erdrückt sind von der Arbeit, solange wird es immer Kriege um Märkte geben, um Goldvorkommen und ähnliche Dinge, die wir dazu benötigen, um unseren ausschließlichen Reichtum zu schützen. Und solange werden Kriege unausbleiblich sein, wie wir am Soldatenstande teilhaben, seine Existenz zulassen statt ihn mit allen Kräften zu bekämpfen. Wir selbst leisten entweder Militärdienst oder sehen ihn nicht nur als notwendig, sondern auch als ruhmreich an, und dann, wenn der Krieg ausbricht, schieben wir die Schuld auf irgend einen Chamberlain und andere. Die Hauptsache ist: es wird solange Kriege geben, wie wir ohne Unwillen und Entrüstung jene Entstellung des Christentums, die kirchliches Christentum genannt wird, zulassen oder sogar predigen, ein Christentum, bei dem "christusliebende Truppen", Einsegnung der Kanonen und Anerkennung des Krieges als einer christlich gerechten Sache möglich sind. In dieser Religion unterrichten wir unsere Kinder, bekennen uns selbst zu ihr und sprechen dann, die einen, dass Chamberlain und die anderen, dass Krüger daran schuld ist, dass die Menschen einander totschlagen.

8. | Krieg und Christentum sind unvereinbar.

9. | Der Krieg ist ein Zustand der Gesellschaft, in dem die niedrigsten und lasterhaftesten Menschen Macht und Ruhm erlangen.

10. Das Elend der Kriege und der Kriegsvorbereitungen entspricht nicht nur nicht jenen Ursachen, die zu ihrer Rechtfertigung angeführt werden, sondern ihre Gründe sind größtenteils so nichtig, dass sie der Beachtung nicht wert und dabei denjenigen, die in den Kriegen zugrunde gehen, gänzlich unbekannt sind.

11. | Der Krieg ist kein elementares Ereignis, sondern ein rein menschliches. Es gibt keine Schrecken, die der Mensch nicht begehen würde, der in seiner Seele entschieden hat, dass das, was er tut, eine elementare, von seinem Willen unabhängige Erscheinung ist. Ein solcher Mensch ist krank; man muss vor ihm auf der Hut sein und ihn heilen. Und auch vor Menschen, die vom Kriege behaupten, dass er eine elementare Erscheinung ist, muss man sich hüten und versuchen, sie zu heilen.

12. | Der Mensch braucht sich von einer schlechten Tat nur zu sagen, dass, obwohl er weiß, dass es eine schlechte Tat ist, es unmöglich ist, sie nicht zu begehen - und er wird die schrecklichsten Taten verüben und nicht nur denken, dass solche Taten möglich sind, sondern noch stolz auf sie sein. Eine solche schreckliche Tat ist der Krieg.

13. | An keiner menschlichen Handlung wird die Macht der Überredung so deutlich bemerkbar, die Unterwerfung des Einzelnen nicht nur unter den Verstand, sondern unter die Überlieferung, die Autorität, so vollständig wie beim Kriege. Menschen, Millionen von Menschen begehen mit Begeisterung, mit Stolz eine Tat, die sie alle als dumm, widerwärtig, schädlich, gefährlich, verderblich, qualvoll, verbrecherisch und zu nichts gut erkennen. Sie kennen und wiederholen alle Beweisgründe gegen diese Tat - und sie fahren fort, sie zu begehen.

14. | Was bedeutet der Kriegsdienst? Er bedeutet folgendes: Sobald ein junger Mensch herangewachsen und stark geworden ist, und seinen Eltern behilflich sein kann, wird er in einen Aufnahmeraum geführt, man befiehlt ihm, sich zu entkleiden, man untersucht ihn, und dann befiehlt man ihm, auf Kreuz und Evangelium zu schwören, dass er in allem seinen Vorgesetzten folgen und alle diejenigen töten wird, die zu töten man ihm befiehlt. Wenn er dann diesen, sowohl der Vernunft und dem Gewissen, als auch dem Buchstaben des Gesetzes Christi gemäß dem Evangelium widersprechenden Befehl ausgeführt hat, kleidet man ihn in eine Uniform, gibt ihm ein Gewehr, unterrichtet ihn im Schießen und schickt ihn hinaus, um Menschen - seine Brüder - zu töten. Die Menschen, die er töten muss, haben ihm nichts Böses getan; er hat sie niemals gesehen; aber er schießt und sticht auf sie ein, denn er hat beim Evangelium geschworen, es zu tun, bei demselben Evangelium, in dem gesagt ist: du sollst nicht schwören und du sollst nicht nur nicht töten, sondern deinem Bruder auch nicht zürnen.

15. | Keinerlei Umstände können eintreten, die dazu führen, dass Mord aufhört, die allergröbste und offenkundigste Verletzung des Wortes Gottes zu sein, das sowohl in allen religiösen Lehren als auch im Gewissen der Menschen seinen Ausdruck gefunden hat.

16. | Das Verbrechen des Mordes ist immer ein Verbrechen, wer auch immer es genehmigt und welche Rechtfertigung auch dafür versucht wird, und deswegen sind Mörder, die im Kriege Morde begehen oder sich für sie vorbereiten, Verbrecher und in Bezug auf sie nicht Achtung, Billigung und Bewunderung, sondern Bedauern, Besserung und Ermahnung am Platz.

17. | Menschen ohne Religion sind im Besitze ihrer ungeheuren Macht über die Naturkräfte wie die Kinder, denen man zum Spielen Pulver oder Knallgas gäbe. Sieht man die Macht, die unsere Mitmenschen genießen und darauf, wie sie sie verwenden, so fühlt man, dass nach dem Grade ihrer sittlichen Entwicklung die Menschen nicht das Recht haben, Eisenbahnen, Dampf, Elektrizität, Telephon, Photographie und drahtlose Telegraphen zu benutzen, ja nicht einmal dazu, von der einfachen Kunst der Verarbeitung von Eisen und Stahl Gebrauch zu machen; denn alle Errungenschaften und Künste verwenden sie nur zur Befriedigung ihrer Gelüste, auf Vergnügungen oder gar zur Verderbnis und gegenseitigen Ausrottung.

18. | Die eigentlichen Kriegsgräuel, wie ungeheuer sie auch sind, bedeuten wenig im Vergleich mit jenem Unheil der Verwirrung der Begriffe von Gut und Böse, die der Krieg in den Seelen einfacher, wenig denkender Menschen aus dem Arbeitsvolke anrichtet.

19. | Der Mensch überhaupt, besonders aber der Christ, ist verpflichtet, am Kriege und an den Vorbereitungen zum Kriege nicht teilzunehmen, weder persönlich, noch mit Geld, noch durch mitfühlende Betrachtungen über den Krieg.

20. | Der Krieg - und nun beginnen Hunderte von Betrachtungen darüber, weshalb es Krieg gibt, was er bedeutet, was aus ihm wird usw. Alle sind denkende Menschen, vom Zaren bis zum letzten Soldaten. Und allen steht bevor, außer Betrachtungen darüber, was der Krieg für die ganze Welt bedeutet, noch darüber nachzudenken, wie ich, ich, ich mich zum Kriege verhalten soll. Aber niemand stellt diese Betrachtung an. Man glaubt sogar, es sei unwichtig oder ungehörig. Aber fasse den Menschen an die Kehle und fange an, ihn zu würgen, und er wird fühlen, dass für ihn wichtiger als alles sein Leben ist: und dieses Leben ist sein "Ich". Und wenn dieses Leben, sein Ich, wichtiger als alles ist, sei er nun Journalist, Zar, Offizier, Soldat, dann ist er - ein Mensch, der auf kurze Frist ins Leben getreten ist und es verlassen muss, nach dem Willen desjenigen, der ihn gesandt hat; was also wäre für ihn wichtiger als die Frage, was er in dieser Welt tun soll? Offenbar ist dies wichtiger als alle Betrachtungen darüber, ob ein Krieg notwendig ist und wozu er führen wird. Und deshalb muß er in Bezug auf den Krieg offenbar so handeln: Keinen Krieg führen und anderen nicht helfen, Krieg zu führen, wenn sie schon nicht zurückgehalten werden können.

21. | Die auf Gewalt gegründete Lebensgemeinschaft ist den Menschen bis zu solchem Grade Gewohnheit geworden, dass sie sich ein gemeinsames Leben ohne Regierungsgewalt gar nicht mehr vorstellen können, und sogar die Ideale eines vernünftigen, freien, brüderlichen Lebens wollen sie durch die Macht der Regierung, d. h. durch Gewalt verwirklichen. Ist doch eine zwangsmäßig ausgeübte Gewalt, wie man sie auch umstellen und zusammensetzen möge, immer ein von dem einen Teil der Menschen angemaßtes Recht, über den anderen Teil zu verfügen und, im Falle des Widerstandes, Zwang auszuüben mit dem äußersten Mittel - dem Mord. Man denke: durch das Mittel des Mordes die Ideale des menschlichen Wohles zu verwirklichen! Die große französische Revolution war in dieser Hinsicht ein enfant terrible, das in seiner das ganze Volk ergreifenden Begeisterung bei aller Anerkennung der großen von ihr entdeckten Wahrheiten und bei dem Beharrungsvermögen der Gewalt in der allernaivsten Form die ganze Ungereimtheit jenes Widerspruches klar zum Ausdruck brachte, in dem schon damals sich die Menschheit wand und sich heute noch windet: Liberté, égalité, fraternité ou la mort. Die Männer der Revolution proklamierten deutlich jene Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, in deren Namen sie die Gesellschaft umbauen wollten. Aus diesen Grundsätzen entsprangen als praktische Maßnahmen: Beseitigung der Stände, Ausgleichung der Vermögen, Aufhebung von Rang und Titeln, Beseitigung des Landbesitzes, Entlassung des stehenden Heeres, Einkommensteuer, soziale Fürsorge für die Arbeiterschaft, Trennung der Kirche vom Staat, sogar die Anordnung einer allen gemeinsamen vernünftigen religiösen Lehre. Alles dies waren vernünftige gute Maßnahmen, entsprungen aus den von der Revolution aufgestellten, gültigen wahren Grundsätzen der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Aber diese Ideale konnten niemals mit Gewalt erreicht werden.

22. | Jener Widerspruch, der so grob und deutlich in der großen französischen Revolution zutage trat und statt zum Heil zum größten Unheile führte, besteht fort. Auch jetzt durchdringt er alle modernen Versuche, den Bau der Gesellschaft zu verbessern. In Spanien, in den südamerikanischen Republiken, in Russland ereigneten und ereignen sich Revolutionen; aber ob sie gelingen oder nicht: nach ihnen, wie eine zurückgeschlagene Welle, kehrt immer von neuem der gleiche Zustand zurück, manchmal sogar noch schlimmer als früher. Ob nun die Menschen die frühere Regierungsgewalt beibehalten oder sie abändern: die Feindschaft unter den Menschen und die Beschränkungen der Freiheit bleiben dieselbe.

Die gleichen Hinrichtungen, Gefängnisse, Verbannungen, dieselben Verbote, ohne Zölle das zu kaufen, was jenseits willkürlicher Grenzen produziert wird, die gleiche allgemeine Rechtlosigkeit des arbeitenden Menschen, das Land auszunützen, auf dem er geboren ist, die gleiche Feindschaft der Völker untereinander, die gleichen Überfälle auf wehrlose Völker Afrikas und Asiens wie unter Tschingis-Chan, die gleichen gegenseitigen Überfälle, dieselben Grausamkeiten, dieselben Foltern der Einzelhaft und der Strafbataillone, ganz wie zur Zeit der Inquisition, die gleichen stehenden Heere und Militärsklaverei, dieselbe Ungleichheit, wie sie zwischen Pharao und seinen Sklaven bestand, besteht auch jetzt zwischen den Rockefellers, Rothschilds und ihren Sklaven.

Die Formen ändern sich, aber das Wesen der menschlichen Beziehungen ändert sich nicht.

23. | Die große französische Revolution hat unzweifelhafte Wahrheiten verkündet, aber alle wurden sie zur Lüge, als man begann, sie mit Gewalt einzuführen.

24. | Die Revolution, die jetzt der Menschheit bevorsteht, besteht in der Selbstbefreiung von der Unterwerfung unter menschliche Gewalt, und da das Wesen dieser Umwälzung gänzlich anders ist als das Wesen aller früheren Revolutionen in der christlichen Welt, so muss auch die Tätigkeit der Menschen, die an dieser Umwälzung teilnehmen, unbedingt gänzlich anders sein, als die Tätigkeit der an früheren Revolutionen Beteiligten. Die Tätigkeit früherer Revolutionäre bestand in der gewaltsamen Niederwerfung der Herrschaft und ihrer Besitzergreifung. Die Tätigkeit heutiger Revolutionäre kann nur darin bestehen, dass sie sich jeder sinnlosen Unterwerfung unter irgend eine gewaltsame Macht entziehen und ihr eigenes Leben in Unabhängigkeit von der Regierung aufbauen.

Damit diese große Umwälzung durchgeführt wird, ist es nur nötig, dass die Menschen es lernen, die Begriffe Staat und Vaterland als Fiktionen zu erkennen, Leben und wahre Freiheit aber als Wirklichkeiten. Deshalb dürfen wir Leben und Freiheit nicht für jenes künstliche Gebilde, Staat genannt, opfern, sondern nur um des wahren Lebens und der wahren Freiheit willen. Befreien müssen wir uns von dem Aberglauben des Staates und der hieraus entspringenden verbrecherischen Unterwerfung unter Menschen.

25. | Das Christentum und nur das Christentum kann die Menschen von jener Sklaverei befreien, in welcher sie sich gegenwärtig befinden. Der Mensch muss nur sein Leben so auffassen, wie es ihn das Christentum lehrt, d. h. begreifen, dass sein Leben nicht ihm gehört, nicht seiner Persönlichkeit, nicht der Familie oder dem Staate, sondern demjenigen, der ihn ins Leben entsandt hat -, begreifen, dass er deshalb nicht das Gesetz seiner Persönlichkeit, seiner Familie oder des Staates erfüllen soll, sondern das durch nichts eingeschränkte Gesetz desjenigen, von dem er ausgegangen ist -, um sich nicht nur gänzlich frei zu fühlen von jeder menschlichen Macht, sondern sogar aufzuhören, diese Macht als etwas zu betrachten, das irgend jemand anderen beschränken könne. Der Mensch muss nur begreifen, dass der Zweck seines Lebens in der Erkennung des Gesetzes Gottes besteht, damit dieses Gesetz für ihn alle anderen Gesetze ersetzt und sie sich unterwirft und durch diese Unterwerfung in seinen Augen alle Gesetze ihrer Verbindlichkeit beraubt. Entbehrung und Leiden, die den Menschen weltlicher Lebensauffassung alles nehmen, wofür sie leben, können nicht nur das Glück des Christen nicht verletzen, das in der Erkenntnis des Willen Gottes besteht, sondern stärken ihn nur, wenn er sie um der Erfüllung dieses Willen wegen erfüllen muss.

26. | Die Aufgabe meines Lebens besteht darin, den Willen dessen zu erfüllen, der mich in dieses Leben entsandt hat, und dieser Wille ist mir bekannt. Dieser Wille will, dass ich den Nächsten liebe und ihm diene.

27. | Auf die Frage, was man tun soll, wenn der Krieg begonnen hat, kann für mich, einen Menschen, der seine wahre Bestimmung begreift, welche Stellung ich auch immer einnehme, keine andere Antwort sein als diejenige, dass, welche Verhältnisse auch immer vorliegen mögen - ob der Krieg begonnen oder nicht begonnen ist, ob Tausende von Japanern oder Russen getötet sind, ob nicht nur Port Arthur, sondern auch Petersburg und Moskau genommen ist -, ich nicht anders handeln kann, als Gott es von mir fordert. Deswegen kann ich als Mensch weder direkt noch indirekt, weder durch Anordnungen noch durch Beihilfe, noch durch Antreiben dazu am Kriege teilnehmen: ich kann nicht, ich will nicht und ich werde nicht.

28. | Nur "wer ausharret, wird erlöst" steht in der christlichen Lehre, und dies ist eine nicht zu bezweifelnde, wenn auch für die Menschen schwer verständliche Wahrheit. Böses nicht mit Bösem zu vergelten und am Bösen nicht teilzunehmen, ist das sicherste Mittel, nicht nur der Errettung, sondern auch des Sieges über diejenigen die Böses schaffen. So verfährt jeder religiöse Mensch, denn die von der Religion erleuchtete Seele des Menschen lebt schon das ewige unendliche Leben, für welches Leiden und Tod in diesem Leben ebenso nichtig sind, wie für den Arbeiter, der das Feld pflügt, mit Schwielen an den Händen und Müdigkeit in den Gliedern.

Und gerade diese Menschen werden die Fesseln des Wahnes zersprengen, in die jetzt die Menschen geschmiedet sind. Wie wenige es solcher Menschen auch gibt, wie niedrig auch ihre gesellschaftliche Stellung ist, wie schwach sie auch an Bildung und Geist sein mögen: wie das Feuer die ausgetrocknete Steppe entflammt, so werden diese wenigen die ganze Welt - alle jene vom langem gottlosen Leben verdorrten Menschenherzen, die nach Erneuerung dürsten, in Brand setzen.


In der Tolstoi-Friedensbibliothek sind bislang schon über 20 Bände erschienen; der Frage nach Krieg und Gewalt widmen sich insbesondere: Reihe A, Band 9; Reihe B, Bände 1-5.

Gesamtüberblick auf: https://www.tolstoi-friedensbibliothek.de/buchreihe/

Veröffentlicht am

29. August 2023

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