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Berg-Karabach: “Hunger ist diesmal die unsichtbare Waffe eines Völkermords”

Von Amalia van Gent

Türkische Intellektuelle fordern die Weltgemeinschaft auf, zugunsten der bedrohten Menschen in Berg-Karabach zu intervenieren – oder die nächste große humanitäre Katastrophe offenen Auges in Kauf zu nehmen. Da Aserbaidschan reich an Erdöl und Erdgas ist, wollen es viele Länder aber mit der jetzigen Regierung in Baku nicht verderben und überlassen die armenischen Menschen in Berg-Karabach ihrem Schicksal – ganz vorne dabei auch die EU, die infolge ihrer Sanktionen gegen Russland vor allem auf Erdgas aus anderen Ländern angewiesen zu sein vorgibt. (Redaktion Globalbridge)

Der Appell türkischer Intellektueller am 16. August richtete sich in erster Linie an ihre internationalen Kollegen: Die Blockade, die "das Regime in Baku mit der Unterstützung Ankaras seit Monaten gegen das armenische Volk von Berg-Karabach" verhängt habe, "beschwört die Gefahr eines Völkermords herauf", heißt es in ihrem Aufruf. Seit Monaten ignoriere das Regime in Baku jede Aufforderung der Vereinten Nationen, der Institutionen der Europäischen Union und des Europarats nach einer Aufhebung seiner Blockade, bestreitet gar, dass es überhaupt eine Blockade gebe. "Dabei weiß jeder, dass seit Monaten keine lebenswichtigen Güter mehr nach Berg-Karabach gelangen".

Die Intellektuellen aus der Türkei sind empört darüber, dass die internationale Öffentlichkeit auf die alarmierende Notlage in Berg-Karabach bislang nicht "sensibel genug" reagiert hat; sie mahnen die Weltgemeinde,  in Berg-Karabach "unmittelbar mit aktiven Initiativen" zu intervenieren – oder aber einen neuen Völkermord in Kauf zu nehmen. Aufgabe der internationalen Gemeinschaft sei es schließlich, "Völkermorde zu verhindern; und nicht solange zuzuwarten, bis ein solch grauenhaftes Verbrechen passiert, um erst dann zu intervenieren".

Zahlreiche Schriftsteller, Politiker, Rechtswissenschaftler und Menschenrechtsaktivisten der Türkei haben den Aufruf für Karabach unterzeichnet. Viele von ihnen sind bekannte Wissenschaftler und wissen, wovon sie reden: der Historiker Taner Akçam etwa ist einer der ersten türkischen Akademiker, die den  Genozid an den Armeniern  durch die Osmanen 1915 eingehend erforscht und öffentlich thematisiert hat. Er gilt nicht nur in seiner Heimat als Autorität in dieser Frage. Der renommierte Politologe Baskin Oran war Berater der ersten Regierungen Erdogans in Fragen ethnischer und religiöser Minderheiten in der Türkei und als solcher ein guter Kenner dieser Materie. Und die in der Türkei verfolgte Autorin Aslı Erdoğan dürfte instinktiv spüren, wie die seit Jahren von der Regierung bewusst angeheizte, ultranationalistische Stimmung die Gesellschaft mittlerweile empfänglich gemacht hat für jede Art von Gewalt gegenüber den "Anderen". Die Furcht, dass sich in Berg-Karabach die Geschichte, wenn auch in kleinerem Maß, wiederholen könnte, verbindet sie alle. Zwischen 1915 und 1917 sind weit über eine Million Armenier auf den von den damals regierenden Jungtürken verordneten Todesmärschen verendet und die jahrtausendealte armenische Kultur Anatoliens wurde mit einem Schlag ausgelöscht.

Wie mit der drohenden humanitären Krise umgehen?

Alarmierend hört sich auch der Völkerrechtsexperte Luis Moreno Ocampo an. Der Argentinier, der Anfang der 2000er Jahre für ein Jahrzehnt Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs war, spricht von einem "anhaltenden Genozid an den 120.000 Armeniern von Berg-Karabach". Nicht Krematorien und auch keine Macheten seien im Einsatz, schreibt er in seinem Expertenbericht, der am 7. August veröffentlicht wurde. "Hunger ist diesmal die unsichtbare Waffe eines Völkermords".

Wie Luis Moreno Ocampo in seinem Bericht ausführt, habe der Internationale Gerichtshof im Fall Srebrenica während des Bosnienkriegs den "Entzug von Nahrung, medizinischer Versorgung, Unterkunft oder Kleidung" als Akt eines Genozids im Sinne von Artikel II (c) der Völkermordkonvention definiert. Auch er mahnt die Weltgemeinschaft, dringend Maßnahmen zu ergreifen. "Wenn sich in Berg-Karabach nicht sofort etwas ganz dramatisch ändert, wird diese Volksgruppe von Armeniern in wenigen Wochen vernichtet sein."

Am 8. August forderte eine Gruppe von Experten der Vereinten Nationen (UN) Aserbeidschan nachdrücklich auf, den uneingeschränkten und sicheren Personen-, Fahrzeug- und Warenverkehr entlang des Latschin-Korridors in beiden Richtungen wieder herzustellen. "Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Sicherheit, die Würde und das Wohlergehen aller Menschen in dieser kritischen Zeit gewährleistet werden", so die Experten.

Worum geht es?

Seit dem 12. Dezember 2022 hat Aserbeidschan die Hauptverkehrsachse über den sogenannten Latschin-Korridor, die Berg-Karabach mit Armenien und der Außenwelt verbindet, blockieren lassen. Ein akuter Mangel an Grundnahrungsmitteln, Medikamenten und Hygieneartikeln machte sich in diesem geographisch isolierten Gebiet breit. Noch konnten, wenn auch vereinzelt, russische Friedenstruppen und das IKRK das Gebiet zumindest mit Medizin versorgen. Seit dem 15. Juni wurde diese Lebensader für Berg-Karabach aber vollständig abgeriegelt. Seither kommt kein Kilogramm von Nahrungsmitteln, Medikamenten oder Treibstoff durch. Die Armenier sprechen von einer "totalen Belagerung".

Nach einer achtmonatigen Blockade ist die Zivilbevölkerung erschöpft. Augenzeugen berichten, dass die Versorgung mit Gas, Wasser und Strom regelmäßig ausfalle. Täglich komme es zu stundenlangen Stromausfällen. Damit werde auch die begrenzte lokale Produktion Berg-Karabachs lahmgelegt. Die Fehlgeburten hätten sich vervielfacht, weil die Mütter unterernährt seien, bestätigen Ärzte vor Ort. "Schlimm ist das Gefühl von Hunger", sagt im Telefongespräch die 69-jährige Pensionierte Amalia Arakelyan aus der Hauptstadt Bergkarabachs Stepanakert. "Mitansehen zu müssen, wie unsere Kinder und Enkelkinder an Hunger leiden, ohne dass wir etwas dagegen tun können, das ist weitaus schlimmer." Sie berichtete von langen Menschenschlangen, die täglich Stunden lang um einen Laib Brot anstehen müssen und nun nicht mal das mit nach Hause bringen können.

Aserbaidschans Herrschaft akzeptieren oder gehen

Am 14. August hat die armenische Regierung den UN-Sicherheitsrat um eine Dringlichkeitssitzung im Bezug auf die humanitäre Krise in Berg-Karabach ersucht. Armenien ist nach dem letzten Krieg um Berg-Karabach 2020 das geopolitisch schwächste Glied im Südkaukasus. Seine Armee ist dezimiert worden und Russland, das die Armenier seit je für ihren "strategischen Partner" hielten, hat längst die Seiten gewechselt. Die Debatte im UN-Sicherheitsrat, die zwei Tage später begann, setzt sich noch fort, ohne Resultate, ohne Eile.

"Was Armenien als humanitäres Problem darzustellen versucht, ist in Wirklichkeit eine provokative und unverantwortliche politische Kampagne, die darauf abzielt, die Souveränität und territoriale Integrität Aserbaidschans anzugreifen", sagte Aserbaidschans Delegierter. Und wurde dabei vom Gesandten der Türkei vorbehaltlos unterstützt. Beide Länder, die die türkische Sprache und Kultur gemeinsam haben und sich neuerdings als "zwei Staaten, eine Nation" verstehen, räumen den Karabach-Armeniern zwei Möglichkeiten ein: "Die Menschen, die in Karabach leben … leben in Aserbaidschan", wiederholte zum x-ten Mal Aserbaidschans Autokrat Ilham Aliyew in einem Interview mit Euronews am 2. August: "Sie haben die Wahl, als Bürger einer ethnischen Minderheit Aserbaidschans zu leben oder zu gehen. Das ist ihre Entscheidung". Bis es soweit ist, lässt er unbestraft 120.000 Menschen aushungern, darunter 30.000 Kinder und unzählige gebrechliche und alte Menschen.

Völkerrecht gegen Völkerrecht

Baku und Ankara sprechen an internationalen Foren gerne über jenes Recht, das auf der UN-Charta und der Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr 1975 verankert ist, und den Staaten territoriale Integrität garantiert. Dabei ignorieren sie, dass dieselbe UN-Charta und die Schlussakte von Helsinki 1975 nicht nur die territoriale Integrität der Staaten garantiert, sondern auch das Recht der Völker auf Selbstbestimmung. Und sie ignorieren, dass der Internationale Gerichtshof in seinem Gutachten zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Jahr 2010 sogar noch weiter geht und Völkern, die "fremder Unterwerfung, Herrschaft und Ausbeutung unterworfen sind", sogar ein "Recht auf Unabhängigkeit" einräumt.

Eine Umfrage Ende Juli ergab, dass 94.4 Prozent der Armenier eine Integration der Karabach-Armenier als ethnische Minderheit in Aserbaidschan, wie von Alijew erwünscht, für unmöglich hält.

Dem Frieden eine Chance geben

Der armenische Wissenschaftler Hrair Balian, der leitende Positionen der UNO und der OSZE inne hatte, will die Hoffnung auf eine friedliche Lösung nicht aufgeben. "Ein Kompromiss könnte ein Status sein, der mit dem von den USA vermittelten Karfreitagsabkommen für Nordirland (1998) vergleichbar ist und vorsieht: 1) Berg-Karabach die höchste Autonomiestufe innerhalb Aserbaidschans mit umfassenden Befugnissen in Bezug auf die Rechte und die Sicherheit der Bevölkerung zu gewähren. 2) Armenien und Aserbaidschan eine gemeinsame Regierungsgewalt für bestimmte Befugnisse einzuräumen, die nicht der autonomen Behörde vorbehalten sind", wie er er in seinem Bericht schreibt.

Ihm pflichtet sich Vartan Oskanian bei: Seit Aserbaidschan, Armenien und Georgien sich Anfang der 1920er Jahre im Südkaukasus als Staaten konstituierten, habe Berg-Karabach einen autonomen Status genossen. Den Armeniern Karabachs nun die Autonomie zu berauben, käme "ihrer Vertreibung und einem Zwangsfrieden gleich", sagt Oskanian, der zwischen 1998-2008 armenischer Außenminister war. Und "Zwangsfrieden sind kurzlebig".

Die Intellektuellen der Türkei wissen, dass die Zeit für die Menschen in Berg-Karabach drängt. In ihrem Appell rufen sie in Erinnerung, wie die Berlin-Blockade 1948-1949 mit einer Luftbrücke durchbrochen wurde, und fordern, die Karabach-Blockade ähnlich wie damals auf dem Weg der Versorgung über die Luft zu durchbrechen und "damit dieser humanitären Tragödie rechtzeitig ein Ende zu setzen".

Quelle:  Globalbridge vom 21.08.2023.

Veröffentlicht am

23. August 2023

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