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Ein Jahr Ukraine-, 20 Jahre Irakkrieg: Russlands Partner und die Verbrechen des Westens

Von Andreas Zumach

Gut ein Jahr nach Beginn des Putinschen Angriffskrieges gibt es ein diffuses Bild, was die Parteinahme für die Kriegsparteien anbelangt. Während der Westen, militärisch verkörpert durch die NATO, eindeutig die Ukraine unterstützt, verhalten sich viele Staaten des Globalen Südens ausgesprochen indifferent und abwartend, was eine Verurteilung Russlands anbelangt.

Dabei kann gar kein Zweifel daran bestehen, dass durch Putins Krieg völkerrechtliche und menschenrechtlichen Normen massiv unterminiert, ausgehöhlt und in ihrer Wirksamkeit und politischen Bindungskraft geschwächt werden. Doch dieser Krieg ist eben keineswegs singulär, was insbesondere im globalen Süden unvergessen ist. Schon zwischen 1949 und 1989, also in der Phase des Kalten Krieges, sorgten ausgerechnet vier ständige und vetoberechtigte Mitglieder des UN-Sicherheitsrates für die Aushöhlung und Schwächung der Vereinten Nationen, nämlich USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich mit ihren kriegerischen Interventionen in Vietnam, Algerien, Afghanistan, Nordirland, den Falklandinseln und in anderen Ländern des Globalen Südens.

Und nach dem Ende des Kalten Krieges 1989 setzte sich dieser Aushöhlungs- und Schwächungsprozess der internationalen Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen fort. Und zwar vor allem mit den Kriegshandlungen und Verbrechen der USA und verbündeter NATO-Staaten gegen/in Ex-Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Syrien und der von den USA geführten Drohnenmordkampagne sowie mit Russlands Kriegen und Verbrechen in Tschetschenien, Syrien und mit der Annexion der Krim.

Zweifellos der Höhepunkt dieser Entwicklung war der Irakkrieg, der am 20. März vor 20 Jahren begann. In der Folge dieses Krieges und der nachfolgenden, ebenfalls völkerrechtswidrigen achtjährigen Besatzung Iraks durch die USA verloren rund eine Million IrakerInnen ihr Leben. Dieser von Washington und London mittels gefälschter Beweise für angebliche Massenvernichtungswaffen Saddam Hussein herbeigeführte Krieg stellt den schwersten Anschlag auf das Völkerrecht und die UNO seit ihrer Gründung im Jahre 1945 dar.Vgl. Andreas Zumach, Ein Jahr Irakkrieg. Bilanz des Scheiterns, in: "Blätter", 3/2004, S. 289-296. Zwar waren - mit vielleicht ein, zwei Ausnahmen - sämtliche über 250 Kriege, die in den letzten 60 Jahren weltweit geführt wurden, ein Verstoß gegen das Gewaltverbot der UN-Charta. Doch niemals zuvor erfolgte ein solcher Verstoß so kalkuliert und unter so absichtsvoller Missachtung des Willens der überragenden Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten wie im Fall des Irakkrieges. Und erstmals wurde ein Krieg ausdrücklich unter Berufung auf eine militärische Präventivdoktrin geführt. Damit wurden das Völkerrecht und die Institution der Vereinten Nationen grundsätzlich in Frage gestellt. Auf diesen Umstand wies der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan in seiner historischen Eröffnungsrede zur Generalversammlung am 23. September 2003 hin.

Doch selbst einstmals erklärte Kriegsgegner unter den UN-Mitgliedsregierungen hielten sich mit Kritik an dieser Präventivkrieg-Doktrin - wie auch grundsätzlich an der Völkerrechtswidrigkeit des Krieges - auffallend zurück. Das galt insbesondere für die rot-grüne Koalition in Berlin, von der - obwohl sie sich klar gegen die Kriegsbeteiligung aussprach - derartige Kritik weder vor noch während oder seit dem Krieg zu hören war. Und auch von keiner anderen deutschen Bundesregierung gab es nach Ende des Krieges nennenswerte Kritik. Von Versuchen, die für den Krieg Verantwortlichen in der amerikanischen oder englischen Regierung einem Gericht zuzuführen, ganz zu schweigen.

Hätte die rot-grüne Bundesregierung den Krieg damals für völkerrechtswidrig erklärt, dann wäre sie gezwungen gewesen, der Bush-Administration ihre umfangreichen logistischen und militärischen Unterstützungsleistungen für diesen Krieg zu verweigern. Zudem fand die Option auf den präventiven Einsatz militärischer Mittel (ohne eindeutige Bindung an ein Mandat des UN-Sicherheitsrates) inzwischen Eingang in die neue Sicherheitsstrategie der Europäischen Union. Und bei der derzeit laufenden Neuformulierung ihrer nationalen Militärstrategien planen auch Russland und Frankreich die ausdrückliche Aufnahme präventiver militärischer Handlungsoptionen.

Viele Militärplaner betrachten den Irakkrieg also offenbar als willkommenen Präzedenzfall - eine Tendenz, auf die der UN-Generalsekretär bereits reagierte. Ende letzten Jahres setzte Kofi Annan eine Expertenkommission mit dem Auftrag ein, bis zur nächsten Generalversammlung eine Zauberformel zu finden, die präventives militärisches Handeln innerhalb der (unveränderten) Bestimmungen der UN-Charta regelt. Doch tatsächlich geht es um eine Entweder-oder-Situation. Seit dem Irakkrieg steht die internationale Staatenwelt vor der historischen Alternative: Rückkehr zum Völkerrecht oder Präventivkrieg als Dauerzustand. Wie dramatisch dieser Einbruch war, zeigt sich daran, dass sich auch Putin heute auf einen angeblichen Präventivkrieg gegen das "faschistische Regime in Kiew" und den gesamten "kollektiven Westen" beruft.

Selektivität und doppelte Standards

Anders war die Lage im Kalten Krieg: In den vier Jahrzehnten der Ost-West-Blockkonfrontation hielten sich die Akteure feindlicher Lager ihre jeweiligen Verstöße nur selten gegenseitig vor. Zuständige Gremien wie der Sicherheitsrat in New York und die Menschenrechtskommission (seit 2006: Menschenrechtsrat) in Genf, in denen diese Verstöße hätten thematisiert, politisch verurteilt oder sogar sanktioniert werden können, waren durch die globale Ost-Westkonfrontation völlig blockiert und handlungsunfähig.

Im Kontext dieser Konfrontation wurden auch viele der formal blockunabhängigen UNO-Staaten immer wieder von der einen oder anderen Seite für ihre Interessen instrumentalisiert. Das führte dazu, dass auch die Generalversammlung von der Möglichkeit, bei einem "Bruch des Friedens" einzugreifen, die sie 1950 wegen der monatelangen Blockade und Handlungsunfähigkeit des Sicherheitsrates im Koreakrieg durch ein sowjetisches Veto mit ihrer Resolution "Uniting for Peace" geschaffen hatte, seitdem nur in elf weiteren Fällen Gebrauch gemacht hat. Zuletzt mit der Resolution vom 2. März 2022, in der die Generalversammlung auf einer "Notstandssitzung" Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine mit der Mehrheit von 141 der 193 Mitgliedstaaten als "Bruch der UNO-Charta" verurteilte und die Regierung Putin zur Einstellung aller Angriffshandlungen und zum "sofortigen, bedingungslosen und vollständigen Abzug" ihrer Invasionstruppen aufforderte. Mit Russland stimmten lediglich Belarus, Eritrea, Nordkorea und Syrien gegen die Resolution. Insgesamt 35 Länder, darunter China, Indien, Irak, Pakistan und Südafrika, enthielten sich der Stimme. Bereits im März 2014 hatte die UNO-Generalversammlung mit der Mehrheit von 100 gegen 11 Stimmen bei 58 Enthaltungen auch Russlands Annexion der Krim als Verstoß gegen die Prinzipien der UNO-Charta und damit als völkerrechtswidrig eingestuft und das Referendum vom 16. März 2014 über eine Sezession (Abspaltung) der Krim von der Ukraine für "ungültig" erklärt.

Ziemlich klar war auch die Lage im Sicherheitsrat. Dort hatte - vor der Abstimmung in der Generalversammlung am 2. März 2022 - ein entsprechender Resolutionsentwurf am 24. Februar 11 Ja-Stimmen erhalten, war aber am Veto Russlands gescheitert. China, Indien und die Vereinigten Arabischen Staaten (VAE) enthielten sich der Stimme.

Theoretisch hätte die Generalversammlung auch über die Verurteilung Russlands hinausgehen und - so wie 1950 im Fall des Korea-Konflikts - konkrete Maßnahmen beschließen können, von Sanktionen bis hin zur Entsendung von UNO-Truppen. Doch  die Bereitschaft von UN-Mitgliedern außerhalb des Gebiets der OSZE, sich im Ukrainekrieg zu engagieren, ist sehr gering - nach wie vor wird dieser als ein innereuropäischer Konflikt wahrgenommenen.

Hier rächt sich, dass die internationale Debatte über die Verletzung völkerrechtlicher und menschenrechtlicher Normen spätestens seit Ende der 90er-Jahre immer stärker durch doppelte Standards geprägt ist, sprich: durch die selektive Anwendung dieser Normen und durch Whataboutism - also durch den Versuch, von eigenen Verstößen abzulenken oder diese zu verharmlosen durch Verweis auf (tatsächliche oder auch nur vermeintliche) Verstöße Anderer.

Das geschieht von westlichen PolitikerInnen und viele Medien mit Blick auf Verstöße Russlands - genauso wie umgekehrt. Eine entscheidende Rolle spielt dabei der Kosovokrieg von 1999. So kontert die russische Seite bis heute jegliche Kritik an der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim mit ihrer Kritik am völkerrechtswidrigen NATO-Luftkrieg gegen Serbien und der nachfolgenden Abspaltung des Kosovo.

Tatsächlich ist die weitverbreitete Behauptung westlicher PolitikerInnen und Medien falsch, wonach der Überfall Russlands auf die Ukraine "der erste Anschlag seit Ende des Kalten Krieges auf die Europäische Friedensordnung" sei - oder "der erste Angriff auf einen souveränen Staat" bzw. oder "der erste Versuch, Grenzen in Europa mit Gewalt zu verändern". Denn diese Pandorabüchse hat die NATO mit ihrem Luftkrieg gegen Serbien und der nachfolgenden gewaltsamen Abtrennung des Kosovo geöffnet.Im Unterschied zum Ukrainekrieg Russlands gab es beim Luftkrieg der NATO gegen Serbien im Sicherheitsrat nicht einmal den Versuch einer Resolution zu dessen Verurteilung. Denn bei der damaligen Zusammensetzung des Rates schien die zur Annahme mindestens erforderliche Mehrheit von neun Ja-Stimmen aussichtslos und drohte zudem ein sicheres Veto der drei NATO-Staaten USA, Frankreich und Großbritannien. Daher fand auch keine Debatte in der Generalversammlung statt. Allerdings haben bis heute lediglich 115 der 193 UNO-Staaten das Kosovo bilateral als Staat anerkannt, das damit noch immer kein anerkanntes Mitglied der Weltorganisation ist.

Allerdings gerät der Hinweis auf diese unbestreitbare Tatsache häufig zur völlig indiskutablen Relativierung, Verharmlosung oder gar zur Rechtfertigung russischer Verstöße gegen Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen. Und das nicht nur aus dem Mund russischer Politiker oder Staatsmedien, sondern auch bei Diskussionen zwischen Menschen, die sich zur Friedensbewegung zählen.

Die Blockade des Sicherheitsrats

Eines allerdings bleibt eine Tatsache: Bis zu Russlands Krieg gegen die Ukraine wurde in den Ländern des globalen Südens - und zwar nicht nur in autokratisch/diktatorisch regierten, sondern auch in Demokratien - der selektive Umgang mit Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen aufgrund eigener Betroffenheit in erster Linie als ein Problem der Staaten der westlichen "Wertegemeinschaft" wahrgenommen. Zu dieser Wahrnehmung hat beigetragen, dass die drei westlichen Vetomächte im Sicherheitsrat, also die USA, Großbritannien und Frankreich, es mit ihrer politischen, wirtschaftlichen und militärischen Macht immer verhindert haben, dass sie für ihre völkerrechtswidrigen Kriege oder ihrer Kriegs- und Besatzungsverbrechen verurteilt wurden.

Das gilt zum Beispiel für den Vietnam-Krieg der USA (1964-1975), Frankreichs Krieg in Algerien (1954-1962) oder für den gemeinsamen Krieg der USA und Großbritanniens gegen Irak im Jahr 2003. Als Südafrika den Versuch unternahm, diesen Krieg einer "Koalition der Willigen" in einer Resolution der Generalversammlung als völkerrechtswidrig zu qualifizieren, bestellte die damalige US-Regierung von George W. Bush die südafrikanische Botschafterin in Washington ein und erstickte diese Initiative mit massiven Drohungen gegen Pretoria im Keim. Wer - wie die US-Regierung - den Irakkrieg bis heute zu rechtfertigen versucht oder ihn - wie auch viele Medien in Deutschland - lediglich als "Fehler" bezeichnet, ist wenig glaubwürdig, wenn er heute Putin-Russlands Krieg gegen die Ukraine - völlig zu Recht - als völkerrechtswidrig und verbrecherisch kritisiert.

Zu dem Glaubwürdigkeitsverlust haben auch die Drohungen der USA gegen den Internationalen Strafgerichtshof beigetragen, um unliebsame Ermittlungen zu mutmaßlichen Verbrechen von US-Soldaten in Afghanistan und anderswo zu verhindern. Ebenfalls als selektive Anwendung von völkerrechts- und menschenrechtlichen Normen wahrgenommen wird die fehlende Kritik oder gar offene Unterstützung der NATO für die völkerrechtwidrige Kriegsführung ihres Mitglieds Türkei gegen die Kurden. Dasselbe gilt seit Jahrzehnten für das mangelnde Engagement der westlichen Staaten zur Umsetzung der zahlreichen Resolutionen von UNO-Sicherheitsrat und Generalversammlung für eine gerechte Friedenslösung im Konflikt Israel/Palästina. In jüngster Zeit hat die anhaltende Weigerung der nördlichen Industriestaaten, die bereits im September 2020 von über hundert UNO-Staaten aus dem globalen Süden beantragte Aussetzung der Patente für Corona-Impfstoffe zu ermöglichen, zum Glaubwürdigkeitsdefizit weiter beigetragen. Dasselbe gilt für die seit Jahren anhaltende Blockade der Verhandlungen im UNO-Menschenrechtsrat in Genf über ein von den Länden des Südens angestrebtes Abkommen über völkerrechtlich verbindliche Menschenrechts-, Umwelt- Umwelt- und Sozialnormen für transnationale Konzerne mit wirksamen Überwachungs-, Durchsetzungs- und Sanktionsmechanismen.

Und diese Selektivität der westlichen Wahrnehmung zeigte sich auch bei der letzten UNO-Generalversammlung. Wer den ersten 35 RednerInnen zuhörte, konnte meinen, die 33 Männer und zwei Frauen lebten in verschiedenen Welten. Bei den Auftritten von Bundeskanzler Olaf Scholz und anderer Regierungschefs aus den Mitgliedsländern von NATO und EU sowie mit ihnen verbündeter Staaten wie Japan oder von Ignazio Cassis aus der Schweiz war Putin-Russlands Krieg gegen die Ukraine das alles beherrschende Thema. Andere aktuelle Kriege - etwa im Jemen oder in den vom NATO-Mitglied Türkei bekämpften Kurdengebieten in Syrien und im Irak - kamen in diesen Reden überhaupt nicht zur Sprache. Auch die Krisen, Katastrophen und Bedrohungen wie Hunger, Klimawandel, gestiegene Energiepreise, Umweltzerstörung und die Folgen der Corona-Pandemie, die vor allem den globalen Süden betreffen, wurden - wenn überhaupt - nur am Rande erwähnt. In den Reden des senegalischen Präsidenten Macky Sall - des derzeit Vorsitzenden der Afrikanischen Union - und der anderen Regierungschefs aus Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas war es hingegen genau umgekehrt. Sie konzentrierten sich - ebenso wie UNO-Generalsekretär Antonio Guterres in seiner Rede zur Eröffnung der Generalversammlung - auf die globalen Krisen. Guterres kritisierte, dass zur Finanzierung dringender humanitärer Maßnahmen der UNO in Krisenregionen des Südens derzeit "32 Milliarden US-Dollar fehlen, soviel wie nie zuvor".

All diese Erfahrungen mit dem Westen haben dazu beigetragen, dass die allermeisten UN-Mitglieder trotz politischer Verurteilung von Russlands Ukrainekrieg die von den USA und der EU initiierten Sanktionen gegen Russland nicht mittragen. Doppelte Standards und Selektivität bei der Anmahnung völkerrechtlicher und menschenrechtlicher Normen,  Whataboutism und Orwellscher Neusprech zur Verschleierung eigener Verstöße: All das wirkt als schleichendes Gift zur Zersetzung und weiteren Schwächung der politischen Bindungskraft dieser universellen Normen.

Und dieses Problem hat sich noch erheblich verschärft, seit sich China etwa seit Anfang 2021 aktiv an der gegenseitigen Aufrechnung tatsächlicher oder vermeintlicher Verstöße beteiligt. Bis dato hatten die chinesischen Diplomaten zwar im Menschenrechtsrat der UNO immer mit viel Energie (und zum Teil auch mit Erfolg) versucht, kritische Resolutionen zur Menschenrechtslage in China zu verhindern. Doch seit Frühjahr 2022 treten Chinas VertreterInnen in der UNO mit scharfer Kritik auf an (tatsächlichen oder vermeintlichen) Menschenrechtsverstößen in westlichen Demokratien, insbesondere in den USA, und bringen Resolutionsentwürfe zur Verurteilung dieser Verstöße ein. Möglicherweise ist das eine Reaktion auf die Kritik des Westens an der Unterdrückung der Uiguren in der chinesischen Provinz Xingjang. Oder auch ein Versuch, die Anwürfe zu kontern, die vor allem der ehemalige US-Präsident Donald Trump nach Ausbruch der Coronapandemie Ende 2019 gegen China erhoben hatte.

Für die Zukunft der internationalen Konfliktbeilegung verheißt dass nichts Gutes, im Gegenteil: Der Schulterschluss, den Moskau und Peking im Ukrainekrieg vollziehen, lässt für die kommenden Jahre oder gar Jahrzehnte einen Rückfall in die Blockade der Vereinten Nationen während des Kalten Krieges befürchten. Damit droht die Stärke des Rechts endgültig durch das Recht des Stärkeren ersetzt zu werden.

Eine Koalition für die Abschaffung des Veto-Rechts

Daher herrscht in einem Punkt unter den 193 Mitgliedern der UNO-Generalversammlungen ein Konsens zwischen fast allen westlichen Staaten - mit Ausnahme der Sicherheitsratsmitglieder USA, Frankreichs und Großbritanniens - und sämtlichen Ländern des Südens: Die derzeitige, 1945 in der UNO-Charta festgelegte Zusammensetzung des Sicherheitsrates wird als historisch überholt kritisiert und seine Reform durch eine Erweiterung um zusätzliche Mitglieder gefordert.

Die allermeisten Staaten fordern die Abschaffung des Vetos der fünf ständigen Mitglieder. Denn dieses Veto - oder oft auch nur schon seine Androhung - wurde in den letzten 77 Jahren fast immer nur dazu eingesetzt, die Handlungsfähigkeit des Rates in den Fragen seiner exklusiven Zuständigkeit für die Bewahrung/Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit zu verhindern. Letztes Beispiel war besagtes Veto Russlands vom 24. Februar gegen die Resolution zur Verurteilung des am selben Tag begonnenen Angriffskrieges gegen die Ukraine.

Die deutsche Bundesregierung hingegen strebt für Deutschland die ständige Mitgliedschaft im Sicherheitsrat mit einem Vetorecht an. Dass der Regierungsvertreter eines UNO-Mitgliedslandes so wie Bundeskanzler Olaf Scholz am Dienstag seinen Auftritt vor der Generalversammlung nutzt zur Formulierung dieser Forderung, ist allerdings seit Beginn der  Debatte um eine Reform des Sicherheitsrates nach Ende des Kalten Krieges nur einmal vorgekommen: Im September 1993 preschte der damalige Bundesaußenminister Klaus Kinkel (FDP) völlig überraschend und ohne Absprache mit Kanzler Helmut Kohl mit dieser Forderung vor. Seitdem schürten sämtliche Bundesregierungen die Illusion, dass diese Forderung in absehbarer Zeit erfüllt würde. Kinkel sagte den Einzug Deutschlands als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates bereits zum 50. Gründungsjubiläum im Jahr 1995 voraus und - als daraus nichts wurde - für das Jahr 2000.

Die Länder des Südens, die völlig zu Recht eine stärkere Vertretung ihrer Weltregionen Afrika, Asien und Lateinamerika im Sicherheitsrat fordern, sind da viel realistischer. Sie wissen, dass eine Erweiterung des Rates nicht nur am Widerstand der autokratisch regierten ständigen Mitglieder Russland und China scheitert, sondern ebenso am Widerstand der drei westlichen Demokratien USA, Frankreich und Großbritannien. Denn alle fünf fürchten gleichermaßen eines - bei einer Erweiterung an Macht und Einfluss zu verlieren.

Quelle: Dieser Beitrag erschien zuerst in "Blätter für deutsche und internationale Politik" (Ausgabe März 2023).

Hinweis:

Fußnoten

Veröffentlicht am

20. März 2023

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