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Das Paradox des gewaltfreien Widerstands im 21. Jahrhundert

Neue Erkenntnisse von Erica Chenoweth

Von Dietrich Becker-Hinrichs

Die große Studie von Erica Chenoweth und Maria J. Stephan "Why Civil Resistance Works. The Strategie Logic of Nonviolent Conflict" hat seit Ihrer Veröffentlichung Im Jahre 2011 Wellen geschlagen. Sie untersucht gewaltsame und gewaltfreie Aufstände und belegt mit empirischen Zahlen, dass gewaltfreier Widerstand wesentlich erfolgreicher ist als gewaltsame Rebellionen.

Für alle, die grundlegende Veränderungen auf gewaltfreiem Wege anstreben, bietet diese Studie wichtige Argumente. Sie spielte auch im friedensethischen Diskussionsprozess der Badischen Landeskirche in den Jahren 2012/13 eine wichtige argumentative Rolle. Die Studie umfasst den Zeitraum von 1900 bis 2006. Nun hat Erica Chenoweth weiter geforscht. Und sie hat etwas Interessantes festgestellt: In den letzten 15 Jahren, also zwischen 2004 und 2019, haben sich In der empirischen Bilanz signifikante Verschiebungen ergeben. Um es kurz zu sagen: Gewaltfreier Widerstand Ist zurzeit nicht mehr so erfolgreich wie beispielsweise in den Neunziger Jahren und in den Jahrzehnten zuvor. In einem Vortrag von Oktober 2019 beschreibt Erica Chenoweth das Paradox des gewaltfreien Widerstands im 21. Jahrhundert.

Mehr gewaltfreie Aufstände - abnehmender Erfolg?

Zwar hat zwischen 2000 und 2018 die Zahl der gewaltfreien Aufstände zugenommen und die Zahl der gewaltsamen Rebellionen deutlich abgenommen, aber die Erfolgsquote von gewaltfreien Aufständen hat In diesem Zeitraum abgenommen von 65% Im Jahr 2000 auf 30% im Jahr 2018. Gewaltfreie Aufstande sind Immer noch erfolgreicher als gewaltsame. Deren Erfolgsquote bewegt sich zwischen 10 und 20%. Aber woher kommt dieser rapide Rückgang? Es stellt sich also die Frage: Warum hat die Zahl gewaltfreier Kampagnen an reinen Zahlen zugenommen, ihre Erfolgsrate aber abgenommen?

Erica Chenoweth begründet zunächst, warum gewaltfreier Widerstand in der Vergangenheit erfolgreich war, stellt dann die Frage, was sich in den letzten Jahren verändert hat und wirft einen Blick in die Zukunft.

Gewaltfreier Widerstand war In der Vergangenheit erfolgreich, wenn es gelang, große Massenbewegungen hervorzubringen, die vielfältig und divers aufgestellt waren und sehr unterschiedliche Teile der Bevölkerung repräsentierten. Besonders erfolgreich sind gewaltfreie Aufstände, wenn Frauen In der ersten Reihe der Aktionen dabei sind und in der Führungsebene einer Kampagne eine wichtige Rolle spielen. Erfolgreich ist gewaltfreier Widerstand, wenn es gelingt, an den Säulen der Macht anzusetzen und wichtige Träger eines Unrechtssystems zum Überlaufen zu bringen. Zu den Erfolgskriterien zählt auch die Disziplin einer gewaltfreien Bewegung angesichts von Repressionen. Mischformen von Bewegungen mit großem gewaltfreiem Widerstand und gewaltsamen Flügeln sind weniger erfolgreich als rein gewaltfreie Kampagnen. Bedeutsam ist auch die Vielfalt der Methoden. Reine Protestmärsche, auch wenn sie vielleicht große Zahlen auf die Straße bringen, reichen nicht aus.

Was hat sich in den letzten 20 Jahren verändert?

Zwar hat die Zahl gewaltfreier Kampagnen weltweit zugenommen, aber die Beteiligung der Bevölkerung an ihnen hat abgenommen. Während in den Neunziger Jahren bis zu 3% der Bevölkerung bei großen Bewegungen mitgemacht haben, waren es in den Jahren seit 2010 nur 1%.

Zum Zweiten sind die Zahlen der gewaltfreien Bewegungen mit gewaltsamen Flügeln festlegen (von 30% auf fast 50%). Wenn sich unter gewaltfreie Demonstrationen auch Straßenkämpfer mischen, sinkt die Erfolgsrate von Kampagnen signifikant. Gewalt mit gewaltfreien Aktionen zu vermischen, führt nicht zum Erfolg. In der Regel wird eine Bewegung dann männlich dominiert, es kommt zu Spaltungen In einer Bewegung und die breite Beteiligung nimmt ab.

Zum Dritten hat die Ausdauer und Widerstandsfähigkeit von Sozialen Bewegungen abgenommen, da zugleich die Fähigkeit von Regimen, diese Bewegungen zu unterdrücken, zugenommen hat. Man kann auch sagen: Diktatoren und autoritäre Regime haben dazu gelernt. Sie haben sich auf gewaltfreien Widerstand eingestellt. Die An der Repression Ist smarter geworden. Widerstandskämpfer werden als Terroristen gebrandmarkt (dies geht umso leichter, wenn die Bewegung nicht rein gewaltfrei ist). Über agents provocateurs wird Gewalt in eine Bewegung hineingetragen. Auf der anderen Seite versucht man, führende Oppositionelle in die Regierung einzubinden und ihnen Kompromisse anzubieten. Die gewaltsame Unterdrückung wird ausgelagert an Todesschwadrone und paramilitärische Einheiten, Zensur und Überwachung verhindern eine neutrale Berichterstattung.

Was es braucht: Neue Aktionsformen, Kampagnen, langen Atem, Zusammenhalt

Viertens fehlt es den aktuellen großen Bewegungen an Innovationen und flexiblen Taktiken. Chenoweth stellt fest, dass es zwar in den letzten zwei Jahren riesige Demonstrationen in den Vereinigten Staaten gegeben hat. Der Womens March im Januar 2017 war die größte Demonstration in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Die Proteste von Schülerinnen und Schülern gegen die Waffengesetze waren die breiteste Kampagne mit Walk Out Aktionen in 4400 Schulen im Land und 150 Kindergärten. Aber diese großen Protestaktionen haben letztlich nichts bewirkt. Es ist offensichtlich, dass Protestaktionen allein nicht ausreichen, um wirklich etwas in einer Gesellschaft zu verändern. Man kommt so noch nicht an die Säulen der Macht heran. Chenoweth empfiehlt daher, die Methoden Immer wieder zu verändern und auch Methoden der Nicht-Zusammenarbeit (vor allem Streiks, Generalstreik und Boykotte) und des zivilen Ungehorsams in die Kampagnenplanung mit einzubeziehen.

Schließlich kommt es darauf an, sich bei Kampagnen, die etwas Grundlegendes verändern wollen, auf einen langen Kampf einzustellen und der Planung von Kampagnen mehr Raum zu geben. Dafür braucht es Zelt. So haben sich beispielsweise die Beteiligten am Studierendenkomitee der Nashville Universität, die an der Bürgerrechtsbewegung unter Martin Luther King beteiligt waren, in den Sechziger Jahren eine Zelt lang Jeden Morgen um 6 Uhr für eine Stunde getroffen, um Ihre Aktionen zu besprechen und gut zu planen. Dann haben sie die Vorlesungen besucht. Für eine erfolgreiche Widerstandskampagne braucht es also starke Netzwerke von Gruppen, in denen sich die Menschen gut kennen und gegenseitig unterstützen, wenn es zu Repressionen kommt. Wichtig ist auch der Raum für Konsensbildung und Konfliktregelungen innerhalb der Bewegungen. Hier richtet Chenoweth das Augenmerk auf ein besonderes Merkmal gewaltfreier Kampagnen: den Zusammenhalt in einer Bewegung und die Zeit und den Raum, die solcher Zusammenhalt erfordert.

Digitalen Aktionismus nicht überschätzen

Chenoweth warnt zugleich vor Digitalem Aktivismus. Eine kurze Zeitlang sah es so aus, als sei z.B. der arabische Frühling von facebook-Kommunikation befeuert worden. Natürlich kann man über die sozialen Netzwerke zu Aktionen einladen, aber Chenoweth warnt davor, die digitalen Möglichkeiten zu überschätzen. Sie sorgen vielleicht für eine kurzzeitige Mobilisierung, aber führen nicht zu langfristig angelegten Kampagnen, bei denen man sich persönlich kennen muss. Repressive Regime stellen sich zunehmend auf die Verbreitung von Nachrichten über die sozialen Netzwerke ein und produzieren Fake News. Die Nutzung von digitalen Medien führt dazu, dass man sich nur oberflächlich mit den Kampagnen aus anderen Ländern befasst oder sich von bestimmten Bildern berauschen lässt. Sie verhindert eine gründliche Befassung mit Taktik und Wirksamkeit von gewaltfreiem Widerstand, was Chenoweth für dringend erforderlich hält.

Hat gewaltfreier Widerstand eine Zukunft?

Ja, wenn das Wissen darüber verbreitet wird, wie gewaltfreier Widerstand funktioniert. Wenn Bewegungen mehr Zeit und Energie In die Planung von Kampagnen investieren. Und wenn sie sich untereinander austauschen und ihre Erfahrungen teilen.

Quelle:  Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden - Rundbrief "Gewaltfrei Aktiv" Ausgabe 57 - Februar 2020.

Veröffentlicht am

16. März 2020

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