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Lebensmittelretter:innen in Ravensburg: Diebe oder Wohltäterinnen?

Von Wolfram Frommlet

Erst Corona, jetzt Krieg und Inflation: Die Schlangen vor den Tafelläden werden länger und länger und länger. Weggeworfene Lebensmittel aus Discounter-Mülltonnen zu nehmen, bleibt trotzdem verboten und endet, wie in Ravensburg, nicht selten vor Gericht. Ein Rechtsverständnis zum Aus-der-Haut-Fahren.

Zwischen 12 und 18 Millionen Tonnen Lebensmittel werden jährlich in Deutschland weggeworfen und vernichtet. Die Zahlen variieren, je nachdem, was eingerechnet ist. Gleichzeitig sind fast 14 Millionen Menschen in Deutschland von Armut betroffen. Sie können die steigenden Mieten und Energiekosten nicht mehr bezahlen, viele nicht ihr "täglich Brot".

Um zumindest ein wenig Abhilfe zu schaffen, gründeten sich Anfang der 1990er-Jahre die ersten Tafelläden. Heute gibt es 947 davon in Deutschland, die in Kooperation mit Supermärkten und Produzenten überschüssige und abgelaufene Lebensmittel an etwa 1,6 Millionen Bedürftige verteilen. Vor einigen Jahren ist eine neue Bewegung entstanden, die "Lebensmittelretter". Seitdem gibt es Foodsharing-Projekte, an denen sich Supermarkt-Ketten beteiligen: Lebensmittel kurz vor dem Ablaufdatum können aus einem separaten Regal mitgenommen werden. Und es gibt soziale Bewegungen wie die "Letzte Generation", "Extinction Rebellion" oder Klima-Aktivist:innen wie Samuel Bosch und Charlie Kiehne aus Ravensburg, die containern. Sie holen noch einwandfreie Lebensmitteln aus Abfall-Containern von Supermärkten und verteilen sie auf öffentlichen Plätzen.

Immer wieder stehen solche Lebensmittelretter:innen wegen Hausfriedensbruch und Diebstahls vor Gericht. Der Nürnberger Jesuitenpater Jörg Alt beispielsweise rettete Lebensmittel aus Müll-Containern und erstattete Selbstanzeige, um auf die Verschwendung hinzuweisen. Das Verfahren wurde eingestellt. Er legte Beschwerde ein, weil er wollte, dass sein Fall öffentlich verhandelt wird, und verteilte unterdessen mit Aktiven gerettete Lebensmittel an der Nürnberger Lorenzkirche. Die Ungeheuerlichkeit, Lebensmittel zu vernichten, braucht nach seinem Verständnis Provokation.

Bei Samuel Bosch und Charlie Kiehne aus Ravensburg liegt der Fall ganz ähnlich.

Es gibt in Deutschland das juristisch verbriefe Recht auf Eigentum und damit das Recht, mit diesem zu tun, was man möchte. Ich kann ein noch fahrtüchtiges Auto verschrotten lassen. Das ist Vergeudung von Ressourcen, aber nicht strafbar. Ich kann ein noch bewohnbares Haus zu Spekulationszwecken leerstehen lassen oder den Mieter:innen kündigen, es abreißen und ein gewinnbringenderes auf dem Grundstück errichten lassen. Das ist sozial problematisch, aber nicht strafbar. Ich kann als Milchbauer mehr Milch produzieren, als der Markt verlangt. Diese Milch tonnenweise ins Abwasser zu kippen ist nicht erlaubt, weil das Kläranlagen schädigt. Sie zu Trockenpulver zu verarbeiten, mit Steuermitteln nach Afrika zu exportieren, dort die Kleinbauern zu ruinieren und in die Armut zu treiben, ist erlaubt. Besitzer von Supermärkten ordern, um das Angebot möglichst attraktiv zu gestalten, mehr Lebensmittel, als Kunden dafür vorhanden sind. Der Eigentumsbegriff erlaubt es, diese Lebensmittel vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums (MHD) als Sonderangebote anzubieten, sie zu verschenken, oder sie industriell vernichten zu lassen. Für diese Lebensmittel waren häufig Arbeitskräfte mit weniger als Mindestlöhnen, Böden, Wasser, Tiere notwendig, riesige Mengen CO² wurden für Produktion, Verarbeitung und Transport ausgestoßen. Nichts davon ist strafbar. Sich jedoch Lebensmittel anzueignen, so sie sich in einem Supermarkt-Müll-Container befinden, ist Diebstahl.

Die Forderung nach einem Lebensmittelgesetz

Der inzwischen umstrittene Eigentumsbegriff nach § 242 StGB wurde im August 2020 vom Bundes-verfassungsgericht in letzter Instanz geklärt: "Containern" bleibt strafbar. Das Urteil hat in der Gesellschaft und in Kreisen der Politik kontroverse Diskussionen ausgelöst: Wer garantiere bei der Entnahme der Lebensmittel deren Unversehrtheit? Die, die containern und verteilen?
 Gälte die freie Entnahme dann auch für den Abfall auf Baustellen, an Baumärkten? Lebensmittel seien damit nicht vergleichbar, sie seien, dem Wort entsprechend, Leben, heißt es in Container-Kreisen.

Frankreich und Tschechien haben darauf schon reagiert. Dort müssen Supermärkte unverkäufliche Ware spenden. In Italien gibt es Steuererleichterungen gegen die Verschwendung.

Diebstahl ist persönliche Bereicherung, meist mit gewaltsamen Einbrüchen in fremdes, geschütztes Territorium, mit betrügerischen Methoden verbunden. Die in Ravensburg Angeklagten Bosch und Kiehne haben aus offenen Abfallbehältern bei zwei Supermärkten und einer Bäckerei weggeworfene Lebensmittel mitgenommen. Sie haben sich nicht bereichert, sie haben die Lebensmittel an Menschen, die sie benötigten, verteilt. Wie zahllose andere "containernde" Akteur:innen in Deutschland.

Die Discounter betrachten die Lebensmittel als Müll, für dessen Entsorgung sie bezahlen müssen und haben keine Anzeige erstattet. Die Anzeige in Ravensburg kam von der Staatsanwaltschaft, die, wie es der Rechtsanwalt Klaus Schulz formuliert, nach eigenem Gutdünken einen Hausfriedensbruch und Diebstahl attestieren kann, ohne Berücksichtigung der Motivation der Angeklagten. So kam es zum Prozess.

Die Richterin wollte das Verfahren einstellen, aber Samuel Bosch und Charlie Kiehne ließen sich so leicht nicht abspeisen und bestanden – wie Jesuitenpater Jörg Alt – auf einem Prozess, um ihrem Anliegen Aufmerksamkeit zu verleihen. Um bewusst ein provokatives moralisches Zeichen zu setzen. "Es gibt nicht zu wenig Essen auf der Welt, es muss nur umverteilt werden. Im globalen Norden wird verschwendet, während im globalen Süden 820 Millionen Menschen hungern", sagte Charlie Kiehne vor Gericht.

An den Prozessen gegen Lebensmittelretter:innen auch in anderen Städten kann man zu verblüffenden Einblicken in das Rechtsbewusstsein kommen. Die ehemaligen CSU-Abgeordneten des bayerischen Landtags Georg Nüßlein und Alfred Sauter nutzten ihre Beziehungen, um einen Coronamasken-Deal über 60 Millionen Euro einzufädeln. Sauter kassierte eine Provision von 1,24 Millionen Euro, Nüßlein 660.000 Euro aus Steuergeldern. Der BGH entschied nun, dass die von der Münchener Staatsanwalt beschlagnahmten Gelder freigegeben werden müssten. Es handele sich weder um illegale Bereicherung noch um Missbrauch parlamentarischer Privilegien.

Januar 2019. Zwei Studentinnen sind vor dem Amtsgericht Fürstenfeldbruck wegen "besonders schweren Diebstahls" angeklagt. Sie entwendeten aus einem Container eines Supermarktes weggeworfene Sahnepuddings, ein Kilo Gala-Äpfel und Heringsfilets, die sie an Bedürftige verteilten. Das Gericht urteilte: acht Stunden Sozialarbeit und 225 Euro Strafe.

Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung wird vage versprochen, "die Lebensmittelverschwendung verbindlich zu reduzieren". Auch Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) redet von einem Lebensmittelrettungsgesetz. Nahrung werde weggeworfen, weil sie zu billig sei. Sie zu verteuern würde Überproduktion und Umweltschäden reduzieren und den Bauern helfen. Es dürfe "keine Ramschpreis mehr" geben, sagte er der "Bild", Lebensmittel müssten "die ökologische Wahrheit stärker ausdrücken". Klingt gut. Doch wie will er das anstellen? Will er die Lebensmittelfirmen zwingen, die willkürlich festgelegten MHD zu verlängern, damit weniger Lebensmittel produziert würden? Will er die Zehnerpackung Industriebrötchen verteuern, die Hähnchenschenkel und den spanischen Blumenkohl zu 1,20 Euro? Aber der weggeworfene Blumenkohl wird erst einen fairen Preis bekommen, wenn die Lkw-Fahrer aus Osteuropa und die illegalen Pflücker in Spanien streiken und kein Wasser mehr vorhanden ist.

Außerdem könnten viele Menschen sich teurere Lebensmitteln nicht mehr leisten. Also geben Sozialverbände Özdemir Contra. Preissteigerungen müssten "zwingend mit einer deutlichen Erhöhung der Regelsätze einhergehen", sagte der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider der "Welt".

Zum Tafelladen kommen jetzt doppelt so viele

20 Prozent der Senioren und Arbeitslosen reicht die Grundsicherung nicht zum Leben, 50.000 Kinder und Jugendliche werden von den Tafeln mit dem Abfall der Überflussgesellschaft versorgt. Gegenüber dem vergangenen Frühjahr habe die Zahl der Kund:innen der Ravensburger Tafel des Roten Kreuzes um 50 Prozent zugenommen, erzählt der Leiter Walter Lehmann. "Und das sind nicht nur Flüchtlinge aus der Ukraine." Bislang war die Tafel an fünf Tagen jeweils zwei Stunden geöffnet. Im Mai standen pro Woche über 240 Bedürftige vor dem Laden, nun halten die Ehrenamtlichen die Tafel dreieinhalb Stunden täglich geöffnet. Als "reiner Rentnerclub" kommen sie an die Grenzen ihrer Kraft. Sie werden gut bedient von Gärtnereien, Bäckereien, von Lidl und Edeka. Dennoch können sie den Bedarf nicht mehr ausreichend bedienen, weshalb jeder Haushalt mit Sozialschein nur noch einmal pro Woche einkaufen darf.

"Eigentlich dürfte es gar keine Tafeln geben. Das ist eine moralische Bankrotterklärung des Staates, ohne Wenn und Aber. Alle unsere Kunden bekommen Sozialhilfe. Doch die reicht nicht einmal für die alltäglichen Lebensmittel." Die Tafeln machten den Sozialjob des Staates, sagt Walter Lehmann. Dass die jungen Menschen, die containern und die geretteten Lebensmittel verteilten, angezeigt würden, sei für Besucher:innen der Tafel wie für Helfer:innen nicht nachvollziehbar.

Weggeworfene Lebensmittel, die Klimaaktivisten wie Charlie Kiehne und Samuel Bosch zu Protesten, zu sozialen Aktionen motivieren, sind nur ein Synonym für eine egomane, zerstörerische Warengesellschaft. Es werden in Deutschland auch 1,3 Millionen Tonnen Textilien verramscht, weggeworfen und im Gegensatz zum verbreiteten Mythos nicht zu neuer Kleidung gemacht, sondern zu Füllstoffen und Dämmmaterialien verarbeitet. Bei Textilien gilt dasselbe wie bei Lebensmitteln: weil sie billig sind, werden sie zu Wegwerfartikeln. Jedes fünfte Kleidungsstück wurde nie getragen. Baumwolle verseucht mit Herbiziden und Pestiziden Wasser, Böden und Bauern. Polyester wird aus Erdöl produziert und verursacht drei Mal so viel CO2 wie Baumwolle. Der Transport mit Schweröl aus den Billiglohnländern im Süden ist so klimaschädlich wie der Transport der Grünen Böhnchen aus Kenia, der Papaya und des Soja aus dem abgeholzten Amazonas. Dieses Wirtschaftssystem ist nicht zukunftsfähig. Das haben Charlie Kiehne und Samuel Bosch begriffen.

Wer braucht schon zwanzig Joghurt-Sorten?

Sie leben in einem Mikrokosmos eine andere Welt. Sich gegen Ungerechtigkeiten einzusetzen, bekam Samuel zu Hause mit. Bei Charlie wurde über alles geredet, am Küchentisch. In England machte sie ihr Fachabitur, wurde zur Veganerin. Zurück in Deutschland ging alles bei beiden von Null auf Hundert. Ein Klimacamp in Augsburg; im Dannenröder Forst, durch den eine Autobahn geschlagen wurde, lernten sie Klettern, im Altdorfer Wald Baumhäuser bauen. Sie lernten, "dass heute alle Infos über den Zustand der Erde da sind, aber es wird nicht gehandelt. Es gibt kein grünes Wachstum, das den Planeten rettet, sondern nur weniger Wachstum." Vegan leben oder vegetarisch kochen reiche nicht, sagt Charlie und fragt: "Wer braucht abends noch fünf verschiedene Brote in einem Regal, wer zehn verschiedene Müslis und zwanzig Joghurt-Sorten?"

Zehn Arbeitsstunden bekamen die beiden letztlich vom Amtsgericht aufgebrummt. Vor dem Gerichtsgebäude verteilten Kolleg:innen geretteten Frischkäse und Zucchini.

Quelle:  KONTEXT:Wochenzeitung - 07.09.2022. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Wolfram Frommlet.

Veröffentlicht am

08. September 2022

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