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Gewaltfreie Blockadeaktion Großengstingen 1982: Thilo Weichert

Vom 1. bis 8. August 1982 fand bei Großengstingen auf der Schwäbischen Alb unter dem Motto "Schwerter zu Pflugscharen" eine einwöchige Blockadeaktion des Atomwaffenlagers statt. Rund 750 Menschen beteiligten sich an dieser gewaltfreien Aktion. Für viele Beteiligte hatte dies auch juristische Folgen.

Seit dieser gewaltfreien Aktion sind nun 40 Jahre vergangen. Wir haben Menschen eingeladen, die damals bei dieser Aktion dabei waren, sich nach dieser langen Zeit zurück zu erinnern.

Hier findet sich eine Übersicht über alle Beiträge: Einwöchige gewaltfreie Sitzblockade vor dem Atomwaffenlager bei Großengstingen Sommer 1982 - Beteiligte erinnern sich

Nachfolgend ein Interview mit Thilo Weichert.

  • Wie blickst Du heute mit dem Abstand von vier Jahrzehnten auf diese Aktion zurück?

Ich bin heute noch dankbar dafür, dass ich in meiner Jugend Erfahrungen mit der Graswurzelrevolution, mit gewaltfreier Konfliktlösung, gewaltfreien Aktionen und in der Friedensbewegung gesammelt habe. Das war für mich Rüstzeug für mein politisches, privates und berufliches Leben, wovon ich bis heute profitiere. Damals ging es um eine Deeskalation im "kalten Krieg", wo wir als Zivilgesellschaft die Regierungspolitik mit gewaltfreien Mitteln zur Abrüstung bringen wollten. Dies hatte Wirkung und hat sicher dazu einen Beitrag geleistet, dass sich der Warschauer Pakt aufgelöst hat und dass wir in Europa eine lange Friedensperiode hatten.

  • Wie ist es zu Deiner Teilnahme überhaupt gekommen und was waren Deine Gründe?

Das ist eine lange Geschichte: Diese begann mit einer mehrmonatigen Tramptour 1978/1979 durch die USA, wo ich in Philadelphia mit der "Movement for a new Society" in Kontakt gekommen bin, eine Gemeinschaft, die von Gandhi und Martin Luther King inspiriert war. Hierüber kam ich zur "GAF", der Gewaltfreien Aktion Freiburg, die sich in der Öko-, Anti-AKW- und Friedensbewegung engagierte. In der GAF organisierten wir "Trainings in Gewaltfreier Aktion", wo wir gewaltfreie Konfliktlösung propagierten und einübten. Mit diesem Rüstzeug haben wir dann viele Aktionen organisiert. Dass wir uns an der Blockade bei Großengstingen beteiligten, war dann eine Selbstverständlichkeit.

  • Erinnerst Du Dich an die Vorbereitung und den Verlauf der Aktion?

Die Erinnerung ist durch 40 Jahre mit vielen weiteren Aktivitäten - auch in der Politik - verblasst. Wir waren in einer inspirierenden Aufbruchsstimmung. Wir waren von unserer gewaltfreien Mission, die zugleich ein Aufstand gegen das Establishment war, total überzeugt. Wir waren inspiriert von der Idee einer herrschaftsfreien Gesellschaft, die wir in Bezugsgruppen im Blockadecamp vorzuleben versuchten. Es war eben auch ein tolles Happening.

  • Hatte diese Aktion Folgen für Dich und wenn ja, welche?

Es gab immer wieder Strafverfahren wegen gewaltfreien Blockaden und Aktionen gegen mich und uns. Nach massivem öffentlichen Druck kam es, wenn ich mich richtig erinnere, im Verfahren wegen Großengstingen zu Freisprüchen, die rechtskräftig wurden. Andere Verfahren gingen nicht ganz so glimpflich aus und führten z.B. zu Strafbefehlen. Eine Verurteilung wegen einer gewaltfreien Blockade vor dem Atomwaffenlager in Lahr führte zu einer Verurteilung, die ich dann - erfolglos - mit einer Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe anzugreifen versuchte. Zudem versuchte die Polizei, teilweise erfolgreich, uns ihre Kosten aufzuhalsen.

Schon in den frühen 70er Jahren hatte ich mich gegen Berufsverbote engagiert und mir war klar, dass Entsprechendes auch auf uns und auf mich zukommen könnte und dann auch kam: Die Ämter für Verfassungsschutz schafften es mehrfach, berufliche Ambitionen von mir zu zerschießen. Die gesellschaftliche Akzeptanz unserer Aktionen war aber eine andere als bei den vom Berufsverbot betroffenen kommunistischen Gruppen. Letztlich konnten die Geheimdienstbestrebungen nicht verhindern, dass ich in den frühen 90er Jahren in den öffentlichen Dienst kam und 2004 vom Landtag in Schleswig-Holstein zum Landesbeauftragten für den Datenschutz gewählt wurde.

  • Welche Bedeutung hat diese Aktion in Deiner eigenen Biografie gespielt?

Die Aktion in Großengstingen war für mich ein Puzzleteil meines und unseres umfassenderen Engagements für eine gewaltfreie Gesellschaft. Gerade in Freiburg, wo ich damals lebte, gab es viele Menschen, die ähnlich wie wir dachten. Ich ging nach meinem Studium zu den Grünen und wurde 1984 in den Landtag gewählt. Mein Engagement für Bürgerrechte führte mich zum Widerstand gegen die geplanten Volkszählungen 1983 und 1987 und das wieder zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Datenschutz. Nach der Wende in der früheren DDR ging ich nach Dresden und unterstützte u.a. die Bürgerkomitees zur Auflösung der Staatssicherheit. Mit einer Zwischenstation in Hannover kam ich dann nach Kiel zur dortigen Datenschutzbehörde. Meine Erfahrungen mit gewaltfreier Konfliktlösung waren und sind für mich noch heute ein zentraler Grundstock für mein politisches Engagement, das ich inzwischen aber fast vollständig auf den Datenschutz konzentriert habe.

  • Haben Aktionen des Zivilen Ungehorsams aus Deiner Sicht in der heutigen Zeit einen Sinn? Falls ja: Welchen?

Absolut. Gewaltfreie Widerstandsaktionen, die oft zwangsläufig zu zivilem Ungehorsam führen, gegen die Verbrennung fossiler Energieträger, gegen Umweltverschmutzung, gegen eine Faschisierung und Militarisierung unserer Gesellschaft, gegen die Unterdrückung von Minderheiten … sind heute so wichtig, wie sie damals waren. Damals glaubte ich, dass die Idee der Gewaltfreiheit auf staatliche Politik in seiner Radikalität übertragbar sei. Hier muss ich erkennen, dass ich und dass wir uns irrten: Ziviler Ungehorsam ist ein wichtiges Mittel für die Zivilgesellschaft, der zugleich das Gewaltmonopol des Staates anerkennt. Angesichts des von Putins Russland angezettelten Krieges gegen die und in der Ukraine sehe ich heute keine Alternative zur militärischen - d.h. gewaltsamen - Gegenwehr.

Dr. Thilo Weichert, geb. 1955, Jurist und Politologe, war von 1984 bis 1986 Mitglied des Landtags Baden-Württemberg. Beruflich war er als Rechtsanwalt in Freiburg, parlamentarischer Berater in Stuttgart und Dresden, Publizist sowie als Hochschuldozent in Freiburg und Hannover tätig. 1991/1992 war er zudem juristischer Berater der Bürgerkomitees zur Auflösung der Staatssicherheit. 1992 bis 1998 arbeitete er als Referent beim Landesbeauftragten für den Datenschutz Niedersachsen. 1998 wurde er stellvertretender Landesbeauftragter für den Datenschutz Schleswig-Holstein. Vom 1. September 2004 bis 16. Juli 2015 war er der Datenschutzbeauftragte des Landes Schleswig-Holstein und Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein (ULD). Heute arbeitet Thilo Weichert u.a. für das Netzwerk Datenschutzexpertise und ist im Vorstand der Deutschen Vereinigung für Datenschutz, deren Vorsitzender er von 1989 bis 2004 war.

 

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Veröffentlicht am

20. Juli 2022

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