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Verhandeln, verhandeln, verhandeln

Wie kann der Krieg in der Ukraine beendet werden: Mit mehr Waffen, mit härteren Sanktionen, mit zivilem Widerstand, gar nicht? Darüber wird erbittert gestritten. Clemens Ronnefeldt, Referent für Friedensfragen beim Internationalen Versöhnungsbund, plädiert für den italienischen Friedensplan.

Von Clemens Ronnefeldt

Hinter dem Ukrainekrieg liegt ein Grundkonflikt: Beim OSZE-Gipfeltreffen im November 1999 in Istanbul unterzeichneten alle Mitgliedsstaaten, unter anderem die USA, die Russische Föderation, Belarus, Georgien, die Ukraine und Deutschland das Abschlussdokument. Darin heißt es: "Wir bekräftigen das jedem Teilnehmerstaat innewohnende Recht, seine Sicherheitsvereinbarungen einschließlich von Bündnisverträgen frei zu wählen oder diese im Laufe ihrer Entwicklung zu verändern." Diesen Punkt betonen vor allem die Nato und die Ukraine. Solange Russland in Georgien und in der Ukraine Gebietsteile annektiert, können diese beiden Staaten nach Nato-Kriterien nicht in das westliche Militärbündnis aufgenommen werden.

Es heißt in diesem OSZE-Dokument auch: "Jeder Teilnehmerstaat wird diesbezüglich die Rechte aller anderen achten. Sie werden ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen." Diesen Punkt betont vor allem Russland.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1990/91 kamen durch die Nato-Osterweitung 14 weitere Nato-Mitgliedsstaaten hinzu, wodurch zum Beispiel im Baltikum die Nato direkt an Russland grenzt. Unter anderem durch die Stationierung rotierender Nato-Kampftruppen, den Aufbau von Raketenabfangsystemen und Manöver an der russischen Grenze fühlte sich Russland in seiner Sicherheit beeinträchtigt und wollte Ende des Jahres 2021 dazu Verhandlungen mit der Nato führen. Das hat nicht funktioniert.

Es geht folglich nicht nur um die Ukraine: Sondern um eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa - mit Folgen weit darüber hinaus in einer zunehmend multipolaren Welt. Es lohnt sich also, zu überlegen, wie eine diplomatische Lösung des Ukraine-Krieges funktionieren könnte. Dafür gibt es drei Schlüsselelemente: ein Moratorium bezüglich der Aufnahme der Ukraine in die Nato; eine Autonomie-Regelung für die Donbas-Region und eine dauerhafte Regelung bezüglich der Krim.

Dazu gehören auch vertrauensbildende Maßnahmen wie zum Beispiel die Rückkehr zum Open-Skies-Vertrag und neue Abrüstungsverhandlungen bezüglich verschiedener Raketensysteme. Auch eine Intensivierung der Kommunikationskanäle zwischen Nato und Russland wäre hilfreich.

Das Ziel des Nato-Beitritts ist in der Verfassung der Ukraine festgeschrieben worden. Die ukrainische Regierung kann schwerlich ohne Gesichtsverlust oder Gefahr einer Abwahl Russland hier ein Mitspracherecht geben. Auch die Nato wird den Eindruck vermeiden wollen, den russischen Forderungen nachgekommen zu sein. Es bräuchte daher eine Nato-Aufnahme-Moratoriums-Kompromissformel, die noch zu suchen ist.

Rückbesinnung auf das Minsk-II-Abkommen

Für eine Deeskalation wäre noch immer das Abkommens Minsk II vom Februar 2015 eine mögliche Grundlage. Schlüsselelemente sind der Abzug der schweren Waffen aus einer Pufferzone. Die Regierungstruppen müssen sich hinter die aktuelle Frontlinie zurückziehen, die Separatisten hinter die vereinbarte Demarkationslinie. Die OSZE überwacht die Waffenruhe und den Abzug der Waffen. Nach dem Abzug der Waffen sollen Gespräche über Wahlen in Donezk und Lugansk sowie den künftigen Status der beiden Regionen beginnen.
Grundlage ist ein Gesetz, mit dem Kiew den abtrünnigen Regionen vorübergehend mehr Selbstständigkeit zugestanden hatte. Die Regionen können darüber entscheiden, welche Sprache sie nutzen wollen.

Eine gesetzliche Amnestieregelung soll alle Konfliktbeteiligten vor Strafverfolgung schützen. Vereinbart wurde die Freilassung aller Gefangenen und die Sicherstellung humanitärer Hilfsleistungen, ebenso die Wiederherstellung der Sozial- und Wirtschaftsbeziehungen.

Die Ukraine soll die vollständige Kontrolle über die Grenze zu Russland übernehmen. Vereinbart wurde auch der Rückzug aller ausländischen Kämpfer, Söldner und Waffen unter Aufsicht der OSZE und die Entwaffnung aller illegalen Gruppen.

Der italienische Friedensplan ist eine Chance

Am 18. Mai 2022 legte die italienische Regierung zum ersten Mal einen mit dem UN-Generalsekretär und den G7-Staaten abgestimmten Friedensplan vor, der vier Stufen enthält, die aufeinander aufbauen.

1. Waffenstillstand: Dieser Waffenstillstand soll mit lokalen Kampfpausen beginnen, die von der OSZE oder den Vereinten Nationen überwacht werden. Ziel ist die Entmilitarisierung entlang der derzeitigen Frontlinie, wobei eine Pufferzone entstehen würde, die frei von Kämpfern beider Konfliktparteien ist.

2. Neutralität der Ukraine: Einem Waffenstillstand zeitlich nachgeordnet schlägt das italienische Außenministerium eine Friedenskonferenz zur Statusfrage der Ukraine vor. Sollte sich die ukrainische Regierung auf eine Neutralität des Landes einlassen, bräuchte sie Sicherheitsgarantien verschiedener anderer Staaten.

3. Lösung territorialer Fragen: Zeitlich wiederum nach einer Friedenskonferenz zur Frage der Neutralität der Ukraine schlägt die italienische Regierung bilaterale Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland vor, die von einer neutralen Institution wie der OSZE oder den Vereinten Nationen moderiert werden könnten.

Inhaltlich würde es dabei um die Autonomie der Separatistengebiete bei Wahrung der territorialen Landesintegrität gehen. Konkret bräuchte es eine Regelung der sprachlichen und kulturellen Rechte sowie des freien Personen- und Dienstleistungsverkehrs.

4. Europäischer Sicherheitspakt: Als vierte und letzte Stufe des italienischen Friedensplanes ist ein Abkommen über Frieden, Sicherheit und Stabilität in Europa vorgesehen. Abrüstung, Rüstungskontrolle, Konfliktverhütung und Vertrauensbildung würden dabei auf der Tagesordnung stehen.

Das Ziel des italienischen Friedensplanes ist der vollständige Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine und der Erhalt der territorialen Integrität der Ukraine. Die schrittweise Aufhebung von Sanktionen gegenüber Russland könnte in dem Maße erfolgen, wie die russischen Truppen den Boden der Ukraine verlassen. Eine Wiederaufbau-Geberkonferenz könnte der notleidenden Zivilbevölkerung Perspektiven geben und die notwendigen Finanzmittel zur Beseitigung der Kriegsschäden bereitstellen.

Mögliche Richtungsänderung der US-Politik

Vor den US-Zwischenwahlen im November 2022 zeichnete sich Mitte Mai dieses Jahres nach einem Grundsatzartikel in der New York Times eine mögliche Wende der US-Politik bezüglich des Ukraine-Krieges ab. Die Zeitung schrieb von "außerordentlichen Kosten und ernsten Gefahren" und verlangte von US-Präsident Joe Biden Antworten auf die Frage: Wohin soll das alles führen? Die Ziele der US-Regierung in der Ukraine seien angesichts eines beabsichtigten 40-Milliarden US-Dollar schweren militärischen Soforthilfeprogramms für die Ukraine immer schwieriger zu erkennen - und mit enormen Gefahren für den Weltfrieden verbunden, ebenso mit enormen weiteren Kosten für die USA.

Die New York Times schrieb weiter: "Versuchen die Vereinigten Staaten beispielsweise, zur Beendigung dieses Konflikts beizutragen - und zwar durch eine Regelung, die eine souveräne Ukraine und eine Art von Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und Russland ermöglicht? Oder versuchen die Vereinigten Staaten jetzt, Russland dauerhaft zu schwächen? Hat sich das Ziel der Regierung darauf verlagert, Wladimir Putin zu destabilisieren oder ihn zu stürzen? Beabsichtigen die Vereinigten Staaten, Wladimir Putin als Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen?"

Auch in der US-Politik bewegt sich etwas. US-Generalstabschef Mark Milley telefonierte Mitte Mai 2022 erstmals seit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 mit seinem russischen Amtskollegen Waleri Gerassimow. In diesem Telefonat der ranghöchsten Generäle beider Länder sei es um "wichtige sicherheitsbezogene Themen" gegangen, wie ein Sprecher des US-Generalstabs erklärte. Das wirkt zwar noch etwas kryptisch, doch immerhin: Sie sprechen miteinander.

Dieses Sprechen und Verhandeln muss weitergehen. Der italienische Friedensplan braucht in den nächsten Monaten die Unterstützung des UN-Generalsekretärs und der OSZE, ebenso von nationalen Regierungen wie zum Beispiel den USA sowie europäischer Staaten, damit die russische Invasion und das Leiden der Menschen in der Ukraine endet.

Clemens Ronnefeldt, Jahrgang 1960, ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes. Dem Internationalen Versöhnungsbund gehören rund 100.000 Mitglieder in 50 Staaten der Erde an. Der Verband hat Beraterstatus bei den Vereinten Nationen.

Quelle:  KONTEXT:Wochenzeitung - 01.06.2022. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Clemens Ronnefeldt und der Redaktion.

Veröffentlicht am

04. Juni 2022

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