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Türkei-Blockade bei Nato-Norderweiterung: Den Erpressern nicht nachgeben

Der Widerstand der Türkei gegen die Nato-Erweiterung ist ein Test für das Bündnis. Es sollte nicht erneut Völkerrechtsverstöße dulden.

Von Andreas Zumach - Kommentar

Die Nato, derzeit engagiert in der Unterstützung der Ukraine gegen Russlands völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, bezeichnet sich selbst gerne als "Wertegemeinschaft". Ihre Mitglieder sind laut der Gründungsakte von 1949 "der UNO-Charta verpflichtet" und darüber hinaus, "den Prinzipien der Demokratie, individuellen Freiheiten und der Rechtsstaatlichkeit ".

Abgesehen von den vergangenen Völkerrechtsverstößen der Nato oder einzelner Mitgliedsstaaten in Ex-Jugoslawien, Irak, Afghanistan, Libyen und anderwo, sah und sieht die Realität auch im Inneren der Allianz in den letzten 73 Jahren anders aus, als es die hehre Selbstbeschreibung vorgibt.

Das gilt - mehr noch als für den von der Nato bislang nicht kritisierten Abbau demokratischer Rechte und Freiheiten in Ungarn und Polen - vor allem mit Blick auf die beiden 1952 beigetretenen südosteuropäischen Mitgliedsstaaten Türkei und Griechenland. Die blutigen Militärputsche und nachfolgenden faschistischen Dikaturen in der Türkei 1960 und 1980 sowie in Griechenland 1967 wurden von den USA und anderen NATO-Mitgliedsstaaten nicht nur geduldet, sondern sogar unterstützt.

Dasselbe gilt für seit die 1976 anhaltende völkerrechtswidrige Besatzung Nordzyperns durch die Türkei sowie für die anhaltenden kriegerischen Interventionen der Türkei im Irak und Syrien . Auch die Unterdrückung der Kurden in der Türkei sowie der Abbau von Demokratie und Rechtsstaat durch den zunehmend diktatorischen Präsidenten Erdogan waren bislang kein Anlass für die übrigen Nato-Mitglieder, diesen schwerwiegenden Verstößen gegen die "Prinzipien Demokratie, individuelle Freiheiten und Rechtsstaat" entgegenzutreten.

Faustpfand Nato-Basis Incirlik

Im Nato-Vertrag seien "keine Sanktionsmöglichkeiten gegen Mitglieder vorgesehen", wird diese Untätigkeit in der Brüsseler Zentrale der Allianz entschuldigt. Doch der eigentliche Grund ist, dass sich die Nato seit vielen Jahren von Ankara erpressen lässt durch die Drohung, die Nato-Basis Incirlik in der Südosttürkei zu schließen. Incirlik ist für die Nato und für die USA wichtigste Basis für sämtliche Luftoperationen im Nahen und Mittleren Osten. Zudem sind in Incirlik US-amerikanische Atomwaffen stationiert.

Mit dem Widerspruch Ankaras gegen einen Nato-Beitritt Finnlands und Schweden, die sämtliche zitierten Prinzipien der Nato-Gründungsakte besser erfüllen als irgendein anderes Land, ist eine noch nie dagewesene Kontroverse entstanden. Hätte Erdogan seinen Einspruch damit begründet, dass diese Erweiterung sicherheitspolitisch falsch und eine unnötige, gefährliche Provokation Russlands und seines Halbverbündeten Putin sei, hätte daraus eine politisch relevante, längst überfällige Nato-interne Debatte entstehen können.

Doch den Einspruch mit der Forderung zu begründen, dass die Regierungen in Helsinki und Stockholm ihre Schutz- und Asylverpflichtungen für verfolgte türkische KurdInnen aufgeben, die von Erdogan systematisch als "Terroristen" diffamiert werden, ist schiere Erpressung.

Dasselbe gilt für Erdogans Forderung nach Wiederaufnahme von Waffenlieferungen, die die Regierungen in Oslo und Stockholm gestoppt hatten aus berechtigter Sorge, dass die Türkei diese Waffen bei ihren völkerrechtswidrigen Interventionen in Syrien und Irak einsetzt oder gegen die Kurden im eigenen Land. Erdogans Erpressungsmanöver zielt ganz offensichtlich darauf ab, die USA zur Lieferung von Kampfflugzeugen an die Türkei zu nötigen, die Washington nach Ankaras Kauf russischer Boden-Luftraketen gestoppt hatte.

Eine ähnlich miese Erpressung versucht der irreführender Weise als "Sozialist" firmierende nationalistische Präsident Kroatiens, Zoran Milanovic. Er fordert, dass das Wahlgesetz im benachbarten Bosnien-Herzegowina zugunsten der dort lebenden Kroaten geändert wird, bevor das kroatische Parlament den Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands ratifiziert. Dahinter steht das seit Anfang der 1990er Jahre von den Nationalisten in Zagreb wie in Belgrad unverändert verfolgte Ziel, den souveränen Staat Bosnien-Herzegowina zwischen Kroatien und Serbien aufzuteilen.

Dieses Ziel des Präsidenten eines Nato-Mitgliedsstaates ist von ähnlich völkerrechtswidriger Qualität, wie die Ansprüche von Putin auf Teile der Ukraine. Die USA und alle anderen NATO-Staaten ebenso wie Finnland und Schweden sollten den Erpressern in Ankara und Zagreb keinen Zentimeter entgegenkommen.

Andreas Zumach. Journalist und Buchautor, Experte für internationale Beziehungen und Konflikte. Von 1988-2020 UNO- und Schweizkorrespondent der taz mit Sitz in Genf und freier Korrespondent für andere Printmedien, Rundfunk- und Fernsehanstalten in Deutschland, Schweiz, Österreich, USA und Großbritannien; zudem tätig als Vortragsreferent, Diskutant und Moderator zu zahlreichen Themen der internationalen Politik, insbesondere: UNO, Menschenrechte, Rüstung und Abrüstung, Kriege, Nahost, Ressourcenkonflikte (Energie, Wasser, Nahrung), Afghanistan… BÜCHER: Reform oder Blockade - welche Zukunft hat die UNO? (2021); Globales Chaos - Machtlose UNO - ist die Weltorganisation überflüssig geworden? (2015), Die kommenden Kriege (2005), Irak -Chronik eines gewollten Krieges (2003); Vereinte Nationen (1995) AUSZEICHNUNGEN: 2009: Göttinger Friedenspreis, 2004: Kant-Weltbürgerpreis, Freiburg, 1997: Goldpreis "Excellenz im Journalismus" des Verbandes der UNO-KorrespondentInnen in New York (UNCA) für DLF-Radiofeature "UNO: Reform oder Kollaps"; geb. 1954 in Köln, nach zweijährigem Zivildienst in den USA 1975-1979 Studium der Sozialarbeit, Volkswirtschaft und Journalismus in Köln; 1979-81 Redakteur bei der 1978 parallel zur taz gegründeten Westberliner Zeitung "Die Neue"; 1981-87 Referent bei der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, verantwortlich für die Organisation der Bonner Friedensdemonstrationen 1981 ff.; Sprecher des Bonner Koordinationsausschuss der bundesweiten Friedensbewegung.

Quelle: taz - 23.05.2022. Wir veröffentlichen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung von Andreas Zumach.

 

Veröffentlicht am

25. Mai 2022

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