Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Michael Schmid: “Kurze Vorwarnzeiten steigern das Risiko einer irrtümlichen Anwendung von Atomwaffen ins Unermessliche”

Mit dem Motto "’Die Waffen nieder!’ Friedenslogik statt Kriegslogik" fand am 20. Mai 2022 in Gammertingen eine weitere Mahnwache zum Ukraine-Krieg statt. Michael Schmid erinnerte in einem Redebeitrag an den sowjetischen Oberstleutnant Stanislaw Petrow, der die Welt mit seiner mutigen Entscheidung vor einem vernichtenden Atomkrieg rettete. Katrin Warnatzsch las eine Erklärung von Connection und Pro Asyl zum Schutz von russischen Deserteuren und anderen Kriegsdienstverweigerern, Deserteuren und Militärdienstflüchtigen aus Russland, Belarus und der Ukraine vor. Mit Schweigeminuten brachten die Anwesenden ihr Mitgefühl und ihre Solidarität für die vom Ukraine-Krieg und von anderen Kriegen betroffenen Menschen zum Ausdruck. Bernd Geisler gestaltete den musikalischen Rahmen. Veranstalter waren "Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V." und "Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) Gammertingen". Mahnwachen werden vorläufig wöchentlich jeden Freitag in Gammertingen stattfinden.

Von Michael Schmid - Redebeitrag

Gestern vor genau fünf Jahren starb der russische Oberstleutnant Stanislaw Petrow unbemerkt von der Öffentlichkeit in einem Plattenbau bei Moskau. Ein Grund für mich, heute an ihn zu erinnern. Wer aber war Stanislaw Petrow?

Zuvor die Frage, wer von Euch erinnert sich an die Nacht auf den 26. September 1983? Damals haben wir nicht gewusst, was da passierte. Aber um ein Haar wären wir wohl kaum mehr erwacht oder wir hätten bei unserem Erwachen ein unglaubliches Inferno wahrnehmen müssen. Denn in der Nacht auf den 26. September 1983 stand die Welt infolge eines Raketenalarms im sowjetischen Raketenabwehrzentrum unmittelbar vor einem Atomkrieg. Was war geschehen?

25. September 1983, Satellitenüberwachungsanlage der Sowjetunion, rund 100 Kilometer südlich von Moskau: Oberstleutnant Stanislaw Petrow tritt am Abend seinen Dienst an. Die Überwachung des gegnerischen Luftraums liegt in seiner Verantwortung.

Zunächst verläuft alles wie gewohnt - bis kurz nach Mitternacht, am 26. September um 0:15 Uhr Moskauer Zeit, als die Sirenen jaulten und auf dem 30 Meter messenden Bildschirm vor Petrow rote Buchstaben aufleuchteten: START. Das System hatte den Abschuss einer US-Atomrakete von einer Raketenbasis in Nordamerika registriert.

Spionagesatellit Kosmos 1382 meldet den Beginn des Weltuntergangs. 25 Minuten bleiben bis zum Einschlag, irgendwo in Russland. Im Sinne der damals geltenden Abschreckungslogik - "Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter!" - hatte die Sowjetführung weniger als eine halbe Stunde Zeit, den alles vernichtenden Gegenschlag auszulösen.

Im Kontrollzentrum richten sich die Augenpaare von 200 Mitarbeitern auf Oberstleutnant Petrow. Dieser hat Zweifel, dass tatsächlich ein amerikanischer Raketenangriff stattfindet. Denn die Angriffsplanungen des Kalten Kriegs gehen damals davon aus, dass ein Erstschlag mit Atomwaffen nicht mit einer einzelnen Rakete durchgeführt wird, sondern ein ganzer Raketenhagel stattfindet. Deshalb meldet Petrow einen Fehlalarm.

Doch noch während er mit dem Generalstab telefoniert, zeigt der Computer vier weitere Raketenstarts an. Seinem Vorgesetzten erklärt Petrow, auch dies sei ein falscher Alarm. Er kläre, was gerade passiert sei. Ich zitiere nun weiter Ausschnitte aus einem Artikel von Leo Ensel. Leo Ensel ist freier Publizist und Konfliktforscher, spezialisiert auf den postsowjetischen Raum.

"Stanislaw Petrow behielt trotz allem die Nerven und blieb bei seiner Entscheidung. Nach weiteren 18 Minuten extremster Anspannung passierte - nichts! Der diensthabende Offizier hatte rechtbehalten. Es hatte sich in der Tat um einen Fehlalarm gehandelt; wie sich ein halbes Jahr später herausstellte, infolge einer äußerst seltenen Konstellation von Sonne und Satellitensystem, noch dazu über einer US-Militärbasis. Das sowjetische Abwehrsystem hatte diese Konfiguration als Raketenstart fehlinterpretiert.

Was geschehen wäre, wenn Petrow zu einer anderen Einschätzung gelangt und dem als äußerst argwöhnisch geltenden Parteichef Andropow den Anflug mehrerer amerikanischer Interkontinentalraketen gemeldet hätte - und dies im Vorfeld der Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Westeuropa und drei Wochen nach dem Abschuss einer südkoreanischen Passagiermaschine über der russischen Insel Sachalin -, das kann sich jeder ausrechnen, der bereit ist, die notwendige Phantasie und den Mut aufzubringen, Eins und Eins zusammenzuzählen. Nie hat die Welt vermutlich so unmittelbar vor einem alles vernichtenden atomaren Weltkrieg gestanden."

"Nach jener dramatischen Nacht dauerte es fast zehn Jahre, bis die Nachricht von seiner Millionen Menschenleben rettenden Nicht-Tat allmählich in die Welt sickerte. Und dann dauerte es nochmals Jahre, bis er langsam wenigstens einen Bruchteil der Anerkennung erhielt, die er verdient: Der ehemalige Oberstleutnant der Sowjetarmee Stanislaw Petrow hatte im Herbst 1983 durch eine einsame mutige Entscheidung sehr wahrscheinlich einen Dritten Weltkrieg verhindert und damit das Leben von Millionen, gar Milliarden Menschen gerettet."

"Als ich im Jahre 2010 zum ersten Mal von Stanislaw Petrow und den Ereignissen des 26. September 1983 erfuhr, musste ich mich erst einmal setzen. Nachdem ich endlich wieder zu mir gekommen war, mir bewusst gemacht hatte, was da eigentlich geschehen war und was ich zusammen mit der ganzen Welt diesem Mann verdanke, schossen mir folgende Fragen durch den Kopf:

o Warum erhält dieser Mann nicht den Friedensnobelpreis?

o Warum steht diese Geschichte nicht in den Lesebüchern aller Kinder dieser Welt? Als warnendes Beispiel dafür, welche Risiken die Menschheit mit ihrem Wettrüsten eingegangen ist.

o Und als ermutigendes Beispiel für menschlichen Mut und Zivilcourage.

Ich fragte mich auch, wie dieser Stanislaw Petrow als russischer Rentner in seiner vermutlich 60 Quadratmeter großen Wohnung im Plattenbau lebt. Wie es ihm geht, ob er gesund und glücklich ist und genügend Geld zum Leben hat.

Ich wusste nichts über ihn und hatte doch, ohne es erklären zu können, ein Gefühl: Dieser Mann ist nicht glücklich!

Im Mai 2013 kontaktierte ich ihn. Ich schickte Stanislaw Petrow einen Dankesbrief zusammen mit einer schönen Armbanduhr, auf deren Rückseite eine Dankeswidmung eingraviert war, und Geld. Wenig später erhielt ich von ihm eine sehr freundliche Mail."

Leo Ensel beschreibt dann, dass er Stanislaw Petrow im Sommer 2016 in der Nähe von Moskau in seiner Plattenbauwohnung besuchte, wo er ziemlich verarmt und einsam lebte. Dann schreibt er weiter:

"In den letzten zehn Jahren seines Lebens kam es dann für Stanislaw Petrow doch noch zu einer gewissen späten Anerkennung. Er erhielt Einladungen nach New York, Westeuropa und besonders oft nach Deutschland. Und einige Preise waren nicht nur mit Ehre verbunden, sondern zum Glück auch mit Geld. Und doch blieb er, so scheint es mir, zugleich der einsame Mann in der verstaubten unbenutzten Küche seiner Plattenbauwohnung, endlose 50 Kilometer vom Moskauer Stadtzentrum, vom Kreml entfernt. …

Vor fünf Jahren, am 19. Mai 2017 starb Stanislaw Petrow im Alter von 77 Jahren in Frjasino. Wie mir sein Sohn Dmitri Anfang September 2017 mitteilte, wurde er im engsten Familienkreis beigesetzt. Es dauerte fast vier Monate, bis diese Nachricht die Welt erreichte."

Als Friedensbewegung hatten wir ab Anfang der 80er Jahre heftig vor einem drohenden Atomkrieg, einem 3. Weltkrieg gewarnt. Nur weil Oberstleutnant Stanislaw Petrow die Nerven behielt, wurde die Welt 1983 vor einem atomaren Inferno gerettet. In der Fachsprache hätte man das als "Atomkrieg aus Versehen" bezeichnet. Zum Glück blieben in diesem Fall ja auch noch einige Minuten, um die Fehler aufzuklären. Was ist aber in einer Situation, in der es praktisch keine Vorwarnzeit mehr gibt, weil die Atomraketen nur wenige Minuten benötigen würden, bis sie in ihrem Ziel einschlagen? Wenn eine Atomrakete vom Start bis zum Einschlag nur 8 bis 15 Minuten braucht - oder gar noch viel weniger -, dann bleibt kaum Zeit, um zu prüfen, ob wirklich Raketen anfliegen. Für eine durchdachte politische Entscheidung ist dann ebenfalls keine Zeit. Man kann höchstens noch entscheiden, die eigenen Waffen abzuschießen, bevor sie vermutlich getroffen werden. Ein Fehlalarm wäre also auch brandgefährlich. Diese kurze Vorwarnzeit bei den 108 Pershing II-Raketen, welche die USA ab Herbst 1983 in der Bundesrepublik Deutschland stationierten (in Mutlangen, auf der Heilbronner Waldheide und in Neu-Ulm), war ja seinerzeit die ganz große Gefahr dieser "Nachrüstung". Zum Glück kam es einige Jahre später zum INF-Vertrag und damit zur Verschrottung aller atomaren Mittelstreckenraketen. vor drei Jahren aber ist dieser INF-Vertrag einseitig von den USA gekündigt worden.

Natürlich verkürzen sich Vorwarnzeiten auch dadurch, dass atomare Systeme möglichst dicht an die Grenzen des Gegners herangerückt werden. Und darin besteht ja eine wesentliche Gefahr, die mit der NATO-Osterweiterung verbunden ist. Das Risiko steigt enorm, wenn dann z.B. in Polen Atomwaffen stationiert würden. Polen hat hierfür sein großes Interesse signalisiert. Jedenfalls steigern diese kurzen Vorwarnzeiten das Risiko einer irrtümlichen Anwendung von Atomwaffen ins Unermessliche. Natürlich gibt es auch noch die Fälle, in denen Atomwaffen nicht irrtümlicherweise, sondern gezielt eingesetzt werden könnten, weil sich ein Atomwaffenstaat davon Vorteile verspricht. Hoffen wir, dass dieser Irrsinn nicht eintritt. Wegen der riesengroßen Gefahr wurde die Weltuntergangsuhr dieses Jahr erneut auf 100 Sekunden vor Mitternacht gestellt. Und das war noch im Januar und damit noch vor dem russischen Angriff auf die Ukraine.

Unter anderem fordern wir deshalb von der Bundesregierung, auf die geplanten neuen Atombomber zu verzichten und ebenso auf die "nukleare Teilhabe". Außerdem fordern wir einen Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag. Auch wenn diese Forderungen derzeit ziemlich unrealistisch erscheinen, so dürfen wir doch nicht müde dabei werden, uns weiter dafür einzusetzen.

Der Krieg in der Ukraine findet nun bald seit 3 Monaten statt. Besonders im Interesse der geschundenen Menschen in diesem Land, im Interesse all jener Menschen, die weltweit von diesem Krieg betroffen sind, gerade diejenigen, die ohnehin schon in größter Armut leben und Hunger leiden, aber letztlich ebenfalls in unserem Interesse wäre ein sofortiger Waffenstillstand sehr zu wünschen. Zu befürchten ist aber, dass ein Zermürbungskrieg über Monate oder gar Jahre geführt wird, durchaus mit der jederzeitigen Eskalationsgefahr bis hin zu einem Atomwaffeneinsatz. Deshalb sprechen wir uns weiterhin für einen sofortigen Waffenstillstand aus!

(Musik Bernd Geisler)

Michael Schmid: Ich möchte nun zu einem stillen Gedenken einladen. Damit soll allen vom Ukraine-Krieg betroffenen Menschen gedacht und unsere Solidarität ausgedrückt werden. Dazu gehören die Menschen in der Ukraine. Unsere Solidarität und unser stilles Gedenken gehört aber auch allen Menschen weltweit, die von diesem Krieg betroffen sind, gerade auch diejenigen, die ohnehin schon in größter Armut leben und Hunger leiden. Wie immer wollen wir aber auch jene Menschen einbeziehen, die von anderen Kriegen in unserer Welt betroffen sind. Und jene, welche auf ihren Fluchtwegen sterben oder vor den Toren Europas einen verzweifelten Überlebenskampf führen, weil sie nicht eingelassen werden.

(Stille, um Mitgefühl und Solidarität gegenüber vom Ukraine-Krieg und von anderen Kriegen betroffenen Menschen zum Ausdruck zu bringen)

Katrin Warnatzsch:

Das Kriegsdienstverweigerungs-Netzwerk Connection e.V. und PRO ASYL begrüßen die Erklärung des Innenministeriums, dass russischen Deserteuren Schutz zugesichert wird. Zugleich weisen die Organisationen auf immer noch fehlende Schutzzusagen hin: Für Militärdienstflüchtige aus Russland, für Kriegsdienstverweigerer und Militärdienstentzieher aus Belarus und der Ukraine.

In einer Stellungnahme an den Innenausschuss des Bundestags hatte das Innenministerium am 17. Mai 2022 erklärt, dass "bei glaubhaft gemachter Desertion eines russischen Asylantragstellenden derzeit in der Regel von drohender Verfolgungshandlung für den Fall der Rückkehr in die Russische Föderation ausgegangen" werde. Ergänzend schreibt das Innenministerium: "Da bereits die Bezeichnung ‘Krieg’, bezogen auf den Angriff auf die Ukraine, in der Russischen Föderation als oppositionelle politische Darstellung geahndet werden kann, kann eine Desertion - als aktives Bekunden gegen die Kriegsführung - als Ausdruck einer oppositionellen Überzeugung gewertet werden."

Dass russischen Deserteuren Schutz im Asylverfahren angeboten wird, ist ein erster wichtiger Schritt, sagen Pro Asyl und Connection. Bislang gab es für Deserteure trotz ihrer Entscheidung gegen eine Kriegsteilnahme im deutschen Asylverfahren viele Hürden. Die aktuelle Stellungnahme des Bundesinnenministeriums führt hoffentlich zu einer schnellen Zuerkennung eines Schutzstatus für russische Deserteure.

Connection e.V. und PRO ASYL weisen zugleich daraufhin, dass in der Mitteilung des Innenministeriums ausdrücklich Wehrdienstflüchtlinge von den Ausführungen nicht umfasst sind. Es ist ein untragbarer Zustand, dass Menschen, die sich rechtzeitig den Rekrutierungen zu Militär und Krieg entziehen, von der Regelung ausgeschlossen werden. Wir brauchen eine klare Zusage der deutschen Bundesregierung, dass auch die Militärdienstentziehung in Russland in Zeiten des Krieges in der Ukraine als oppositionelle politische Haltung gewertet wird und diese Menschen damit auch den notwendigen Schutz erhalten.

Die Organisationen bedauern zudem, dass auch die drohende Rekrutierung und die mittelbare Kriegsbeteiligung von Belarus nicht in die Aussage des Innenministeriums einfließt. PRO ASYL und Connection e.V. fordern gemeinsam mit 40 weiteren Organisationen - darunter Lebenshaus Schwäbische Alb e.V. - in einem im März 2022 veröffentlichten Appell an den Bundestag, auch belarussischen Soldaten und Soldatinnen, die sich dem Einsatz im Militär und somit dem möglichen Kriegseinsatz in der Ukraine entzogen haben oder desertiert sind, Asyl zu gewähren.

Darüber hinaus fehlt ein klares Bekenntnis der Bundesregierung zum Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung, gerade bezüglich der Ukraine. Es hat sich gezeigt, dass sowohl in Russland als auch in Belarus und insbesondere in der Ukraine die Regelungen zum Recht auf Kriegsdienstverweigerung völlig unzureichend sind. Es ist kein Wunder, dass auch Tausende Militärdienstpflichtige aus der Ukraine ins Ausland geflohen sind. Ihnen wird im Herkunftsland das Recht auf Kriegsdienstverweigerung verwehrt. Auch sie brauchen nach dem Auslaufen der momentanen Aufenthaltsregelung für Geflüchtete aus der Ukraine Schutz.

(Musik Bernd Geisler)


Für die Mahnwache verwendete Artikel:

Veröffentlicht am

22. Mai 2022

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