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Debatte um Waffenlieferungen: Denkbar schlechte Verbündete

Ukraine-Krieg: Linksliberale und Grüne überschlagen sich plötzlich mit Forderungen nach Waffenlieferungen in die Ukraine. Für den Kampf gegen autoritäre Regime ist das aber eine intellektuelle Bankrotterklärung

Von Raul Zelik

Kehrte man heute nach längerem Aufenthalt auf einer einsamen Insel nach Europa zurück, würde man vermutlich seinen Augen und Ohren nicht trauen. Während konservative Offiziere zu Besonnenheit mahnen, überschlagen sich Linksliberale und Grüne in ihren Forderungen nach Waffenlieferungen und einer militärischen Lösung.

Emblematisch für diese Diskursverschiebung steht der linke britische Publizist Paul Mason. Der Autor, der sich als junger Mann in einer trotzkistischen Organisation politisierte und als BBC-Journalist einen Namen machte, veröffentlichte 2015 mit "Postkapitalismus" ein viel beachtetes Manifest gegen die herrschenden Verhältnisse. Er engagierte sich in der Labour Party, als Jeremy Corbyns Momentum-Bewegung das Partei-Establishment der britischen Sozialdemokratie stürzte, identifizierte in "Klare, lichte Zukunft" die autoritäre Achse der Staatschefs Trump, Putin und Xi als zentrale Bedrohung für die Menschheit und wirbt seither für einen "revolutionär-reformistischen" Antifaschismus zur Verteidigung sozialer und demokratischer Grundrechte. "Faschismus: Wie man ihn stoppt" heißt sein frisch erschienenes Buch.

Weil Mason sich nicht auf den geopolitischen Konflikt zwischen Großmächten kaprizierte, sondern die inneren Entwicklungen in den USA, Russland und China in den Blick nahm, durchschaute er die Politik der russischen Regierung schneller als viele andere Linke und machte vor allem die autoritären Gemeinsamkeiten zwischen Trump, Putin und Xi aus. Unmittelbar vor Kriegsausbruch reiste er in die Ukraine, um sich dort mit linken Gruppen zu treffen, von denen sich viele kurze Zeit dem bewaffneten Widerstand gegen die Besatzung angeschlossen hatten.

Nicht zuletzt unter diesem Eindruck forderte Mason dann sofort nach Kriegsausbruch nicht nur Waffenlieferungen, sondern propagierte auch einen neuen Schulterschluss der Linken mit der NATO. "Die Demokratien" müssten den Krieg gegen Putins Autoritarismus unbedingt gewinnen - auch militärisch, so Mason ganz in Einklang mit den deutschen Grünen und anderen Transatlantikern. Vom Antikapitalismus über den Antifaschismus zur NATO - eine skurrile, wenn auch leider weit verbreitete Volte. Jahrzehntelange theoretische und politische Arbeit, um am Ende beim uralten antikommunistischen Narrativ anzukommen, wonach der Kampf zwischen Ost und West mit dem zwischen Diktatur und Freiheit identisch ist.

Linke haben innerrussische Herrschaftsverhältnisse legitimiert

Auch wenn diese Wandlung eine intellektuelle Bankrotterklärung ist, muss man zugestehen, dass es nicht einfach ist, Masons Argumentation zu widersprechen. Das liegt nicht in erster Linie daran, dass man sich gerade zum Ziel wütender Angriffe macht, wenn man - gegen den Zeitgeist - darauf hinweist, dass "der Westen" schon bei der nächstbesten Gelegenheit nicht mehr als Werte-, sondern wieder als imperialistische Beutegemeinschaft agieren wird. Im Zweifelsfall übrigens auch gegenüber einer nach dem Krieg noch höher verschuldeten Ukraine. Das viel größere Problem ist, dass eine linke Kritik "des Westens" den Dialog mit jenen erschwert, die im Augenblick eigentlich die entscheidenden Verbündeten für uns als Linke sein müssten: denjenigen, die in den postsowjetischen Gesellschaften gegen die autoritären Regime und für Gleichheit, Freiheit, Solidarität kämpfen.

Paul Masons Position hat den entscheidenden Vorteil, dass diejenigen, die in der Ukraine, Kasachstan oder Russland mit dem System Putin konfrontiert sind, mit ihr etwas anfangen können: Wer gerade in Charkiw im Bunker oder in Moskau im Gefängnis sitzt, fände es vermutlich ganz gut, zur "westlichen Wertegemeinschaft" zu gehören und kann wahrscheinlich auch der Lieferung von Panzern etwas abgewinnen.

Dieses Argument müssen wir vom Kopf auf die Füße stellen: Der entscheidende Fehler der "westlichen Linken" in den letzten Jahren war nicht, die NATO kritisiert zu haben, sondern Russland durch die geopolitische Brille gelesen und damit die innerrussischen Herrschaftsverhältnisse unsichtbar gemacht, ja legitimiert zu haben. Diese Haltung war das Gegenteil von internationaler Solidarität: Statt sich auf die Menschen zu beziehen, die in postsowjetischen Oligarchien Widerstand leisten, haben sich die meisten westlichen Linken auf das geopolitische Ränkespiel spezialisiert und die postsowjetischen Verhältnisse relativiert.

Liberalismus enthält Freiheitsversprechen einem großen Teil der Bevölkerung systematisch vor

Das muss anders werden, aber wie? Eine erste Voraussetzung dafür ist sicherlich ein Minimum an Empathie. Zuhören statt Westsplaining. Denn die Kommunikationslosigkeit zwischen der Systemopposition in West und Ost hat auch damit zu tun, dass kritische Menschen in postsowjetischen Gesellschaften ganz andere Prioritäten setzen - müssen. Eigentlich ist nicht besonders schwer zu verstehen, warum. In Staaten, die von postkommunistischen Geheimdiensteliten und neureichen Konzerneigentümern beherrscht werden, konzentriert man sich aus gutem Grund erst einmal auf Freiheitsrechte, die es einem überhaupt erst ermöglichen zu sprechen und sich zu organisieren. Ein Anliegen, das sich aus "westlicher" Sicht mit dem Programm des bürgerlichen Liberalismus zu decken scheint: Gewaltenteilung, Korruptionsbekämpfung, die Einhegung von Gangster-Praktiken, Menschenrechte …

Die zweite Voraussetzung für einen neuen Internationalismus wäre, sich in Erinnerung zu rufen, worauf die linke Kritik am Liberalismus ursprünglich hinauswollte. Die richtete sich nämlich nicht gegen Grundrechte, Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit, sondern dagegen, dass der Liberalismus seine Freiheitsversprechen einem großen Teil der Bevölkerung systematisch vorenthält. Der klassische Liberalismus entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als, wie es der kanadische Politologe C.B. Macpherson nennt, "Theorie des Besitzindividualismus"; und die westliche Aufklärung fungierte außerhalb Europas als Instrument zur Durchsetzung kolonialer Herrschaftsansprüche. Der Liberalismus hat nach innen für ökonomische Ungleichheit und damit auch Unfreiheit, der Westen nach außen für Sklaverei und Genozid gesorgt.

Gerade in diesen Tagen, da die Erzählung von der demokratischen Wertegemeinschaft auch ansonsten kritischen Menschen so selbstverständlich über die Lippen geht, muss man daran erinnern, dass die Errungenschaften, die heute als "liberal" gelten, gegen den Liberalismus und gegen den bürgerlichen Rechtsstaat ihrer Zeit erkämpft wurden. Die Frauenemanzipation wurde von Feministinnen und Suffragetten durchgesetzt, das allgemeine Wahlrecht ging aufs Konto der Arbeiterbewegung, und für die Abschaffung der Sklaverei sorgten aufständische Sklaven - und nicht etwa die Väter der US-Verfassung, von denen so mancher selbst ein Sklavenhalter war.

Armeen und Sicherheitsapparate sind Bastionen des Autoritarismus

Ist diese Unterscheidung zwischen den freiheitlichen Errungenschaften, die wir unbedingt gegen den Autoritarismus verteidigen sollten, und "dem Westen", den wir eben nicht verteidigen sollten, nicht eine Spitzfindigkeit, die in Anbetracht des Krieges niemanden interessiert? Geht es für die Menschen in Osteuropa nicht einfach darum, das System Putin zu stoppen - egal mit wem und welchen Mitteln? In Kiew oder Moskau mag man das so sehen. Aber das Bild kann sich schnell ändern: Die autoritären und militärischen Projekte haben keinen geographischen Ort, sie erwachsen in den Gesellschaften selbst, und das werden wir auch bei uns zu spüren bekommen.

Schon jetzt verlagert sich "im Westen" das hinter dem Krieg stehende Interesse - weg von der menschlich empörten Solidarität hin zum geopolitischen Interesse an einem militärischen Sieg der Ukraine. Diese Interessenverschiebung werden wir im Inneren unserer Gesellschaften zu spüren bekommen. Weder die westliche Staatengemeinschaft noch die NATO (und schon gar nicht Rüstungskonzerne wie Rheinmetall) sind Garanten politischer und sozialer Errungenschaften. Das Demokratische und seine Freiheiten wurden dem bürgerlichen System in gesellschaftlichen Kämpfen aufgezwungen. Die Armeen und Sicherheitsapparate dagegen waren und sind auch bei uns Bastionen des Autoritarismus. Dazu geschaffen, Herrschaftsbeziehungen (und nicht etwa demokratische Freiheiten) zu verteidigen, sind sie die denkbar schlechtesten Verbündeten bei der Verteidigung von Grundrechten. Nach einem Wahlsieg Trumps oder einer militärischen Provokation des nach wie vor ultranationalistisch regierten Polens werden sich viele Linksliberale dessen erschrocken wieder bewusst werden. Dann wird sich die Frage, welche Armee und welche Staatsführung die Freiheiten gerade am stärksten bedroht, schon wieder ganz anders darstellen. Dann rückt die Angst vor Putin schneller wieder in den Hintergrund als gedacht.

Nein - was heute fehlt, ist nicht der (gegen Russland oder China gerichtete) Schulterschluss mit dem Westen, sondern eine neue Internationale derjenigen, die auf unterschiedliche Weise und ohne gemeinsame Sprache gegen Autoritarismus und soziale Ungleichheit aufbegehren. Wir haben keine Waffen, mit denen wir oppositionellen Gruppen in den postsowjetischen Gesellschaften zur Seite springen könnten. Wir sind weder die NATO noch der bürgerliche Staat. Unsere Solidarität muss eine andere sein: Wir können Kriegsgegner finanziell unterstützen, die in Russland gerade ihre Jobs verlieren, wir können Netzwerke mit politischen Exilierten aufbauen und vor allem können wir anfangen, endlich mit denen zu reden, die in postsowjetischen Gesellschaften gegen die oligarchischen Systeme opponieren. Doch im geopolitischen Konflikt, der aus dem ukrainischen Widerstandskampf schon bald einen reinen Stellvertreterkrieg gemacht haben wird, hat die Emanzipation auf keiner der beteiligten Seiten irgendetwas zu gewinnen.

Quelle: der FREITAG vom 02.05.2022. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Raul Zelik und des Verlags.

Veröffentlicht am

04. Mai 2022

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