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Ukraine: “Über Ursachen nachdenken, ist keine Beschwichtigung”

Die Vorgeschichte des Krieges muss aufgearbeitet und Russland wieder die Hand gereicht werden, sagt Ex-EU-Kommissar Verheugen.

Von Urs P. Gasche

"Eine Verständigung wird nur möglich sein, wenn beide Seiten den seit Helsinki 1975 bestehenden Grundsatz beachten, dass jeder die legitimen Sicherheitsinteressen des anderen zu respektieren hat", erklärte Günter Verheugen am 3. April in einem Interview auf der linken Plattform "nd" (früher Neues Deutschland). Verheugen war als EU-Kommissar bei der Osterweiterung der EU federführend. Bis 2010 war das frühere SPD-Bundestagsmitglied stellvertretender EU-Kommissionspräsident.

"EU-Osterweiterung war richtig, aber…"

Die Strategische Partnerschaft mit Russland habe der Strategie von 2002 gefolgt, rings um die EU einen "Ring von Freunden" zu schaffen. Russland wiederum wollte in diesem Ring einen herausgehobenen, seiner Bedeutung entsprechenden Status. Diese Partnerschaft mit Russland habe eine Zeitlang auch sehr gut funktioniert, bis es zu einer neuer Ost-West-Konfrontation kam. Schuld daran war nach Überzeugung von Verheugen, dass "die EU mehr und mehr der US-Linie folgte". Washington habe sich zum Ziel gesetzt, Russland langfristig so zu schwächen, dass es nie wieder zu einem Rivalen werden könne.

Darauf habe Putin in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 klar gemacht, dass er einen Kurs der Missachtung russischer Sicherheitsinteressen nicht akzeptieren wird. Das Hauptübel habe Putin zwar in der Osterweiterung der NATO gesehen, aber die östliche Partnerschaft der EU nach 2007 ohne eine Beteiligung Russlands habe ihn ebenfalls irritiert: "Noch im Jahr 2010 wollte Russland trilaterale Projekte – EU, Russland, Länder der östlichen Partnerschaft – realisieren. Es gab also ganz klar Chancen einer konstruktiven Einbindung Russlands in eine Partnerschaft, die aber leider nicht genutzt wurden." Eine EU-Mitgliedschaft Russlands habe keine Seite ernsthaft erwogen. Es sei immer nur um Kooperation und Partnerschaft gegangen, und zwar unter dem Stichwort "von Lissabon bis Wladiwostok".

"Die Vorgeschichte aufarbeiten"

Es sei zwingend notwendig, die gesamte Vorgeschichte des Ukraine-Krieges zu verstehen und richtig einzuordnen: "Die EU wird bereit sein müssen, eigene Fehler aufzuarbeiten. Wenn wir die Vorgeschichte betrachten, sollten wir zwei Fragen genau unter die Lupe nehmen: An wem ist das Minsker Abkommen gescheitert, und wer oder was hat die EU dazu getrieben, sich im Jahr 2013 an einer Regime-Change-Operation in der Ukraine zu beteiligen?"

Trotz des Überfalls Russlands auf die Ukraine hält es Verheugen für wichtig, diese ganze Vorgeschichte aufzuarbeiten. Kritikern, welche nicht darüber reden wollen, weil es einem Appeasement, also einer Beschwichtigung gleichkomme, antwortet der frühere EU-Kommissar: "Es ist schon merkwürdig, dass über Ursachen und Entwicklungen, die zum Ersten und zum Zweiten Weltkrieg führten, ganze Bibliotheken geschrieben wurden. Und keiner käme auf die Idee, das zu kritisieren. Aber wenn angemahnt wird, die ganze Vorgeschichte des Ukraine-Konflikts, des ersten grossen Kriegs in diesem Jahrhundert in Europa, aufzuarbeiten, dann gilt das als Appeasement?"

"Das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland muss gekittet werden"

Auf die Frage, ob sich nach dem Krieg in der Ukraine das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland überhaupt noch kitten lässt, erklärte Verheugen: "Eines Tages wird wieder miteinander geredet werden müssen, und je eher, desto besser. Für uns Europäer kann nur gesamteuropäische Partnerschaft die Antwort auf die immer grösser werdenden globalen Konflikte sein. Wir müssen bereit sein, Russland wieder die Hand zu reichen. Das wird nicht heute oder morgen geschehen und hängt stark davon ab, wie die politische Gestalt Europas nach dem Ukraine-Krieg sein wird. Es ist nicht hilfreich, einen Regime-Change in Moskau zur Voraussetzung für einen neuen Dialog zu machen. Denn darauf würden wir möglicherweise sehr lange warten müssen."

Günter Verheugen war Generalsekretär der FDP, nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition 1982 sass er für die SPD im Bundestag. Später wurde er Staatsminister im Auswärtigen Amt. 1999 wechselte er als EU-Kommissar nach Brüssel – zuständig zuerst für die EU-Erweiterung, ab 2004 dann für Industrie und Unternehmenspolitik. Bis 2010 amtierte er als stellvertretender EU-Kommissionspräsident. Heute ist er als EU-Berater tätig.

Quelle: Infosperber.ch - 07.04.2022.

Veröffentlicht am

10. April 2022

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