Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Ukrainischer Pazifist in Kiew: Alle Seiten haben den Krieg angeheizt. Nur umfassende Friedensgespräche können ihn beenden.

Hunderte von gewaltfreien Antikriegsdemonstranten versammelten sich am Montag in der ukrainischen Stadt Kherson, um sich gegen die russische Besetzung der Stadt zu wehren und den zwangsweisen Militärdienst zu verweigern. Die russischen Streitkräfte setzten Betäubungsgranaten und Maschinengewehrfeuer ein, um die Menge zu zerstreuen. Mittlerweile wird erwartet, dass Präsident Biden diese Woche zu einem NATO-Gipfel nach Brüssel reist, auf dem die westlichen Verbündeten die Reaktion erörtern wollen, sollte Russland Atomwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen einsetzen. Beide Kriegsparteien müssen zusammenkommen und deeskalieren, sagt der in Kiew lebende ukrainische Friedensaktivist Yurii Sheliazhenko."Was wir brauchen ist keine Eskalation des Konflikts mit mehr Waffen, mehr Sanktionen, mehr Hass auf Russland und China, sondern stattdessen brauchen wir umfassende Friedensgespräche." 

AMY GOODMAN: Hier ist Democracy Now! Ich bin Amy Goodman, mit Juan González.

Wir beenden die heutige Sendung in Kiew, Ukraine, wo wir Yurii Sheliazhenko zu Gast haben. Er ist der Exekutivsekretär der Ukrainischen pazifistischen Bewegung und ein Vorstandsmitglied des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung (EBCO). Yurii ist außerdem Mitglied des Vorstands von World BEYOND War und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der KROK-Universität in Kiew, Ukraine. Er hat die Berichte aus der besetzten südukrainischen Stadt Cherson aufmerksam verfolgt, wo die russischen Streitkräfte Betäubungsgranaten und Maschinengewehrfeuer einsetzten, um eine Menge von Hunderten von Menschen zu zerstreuen, die sich am Montag versammelt hatten, um gegen die russische Besatzung zu protestieren.

Yurii, willkommen zurück bei Democracy Now! Du bist immer noch in Kiew. Kannst du darüber berichten, was jetzt passiert und was du forderst? Mich interessiert zum Beispiel besonders, dass anscheinend fast einstimmig eine Flugverbotszone gefordert wird, damit Russland die Städte nicht bombardieren kann. Aber der Westen ist zutiefst besorgt, dass die Durchsetzung einer Flugverbotszone, d.h. der Abschuss russischer Flugzeuge, zu einem Atomkrieg führen wird. Wie ist deine Position dazu?

Yurii Sheliazhenko: Vielen Dank, Amy, und Grüße an alle friedliebenden Menschen auf der ganzen Welt.

Natürlich ist eine Flugverbotszone eine militärische Antwort auf die aktuelle Krise. Und was wir brauchen, ist keine Eskalation des Konflikts mit mehr Waffen, mehr Sanktionen, mehr Hass auf Russland und China, sondern natürlich stattdessen umfassende Friedensgespräche. Und wie ihr wisst, sind die Vereinigten Staaten keine unbeteiligte Partei in diesem Konflikt. Im Gegenteil, dieser Konflikt geht über die Ukraine hinaus. Er hat zwei Seiten: einen Konflikt zwischen dem Westen und dem Osten und einen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Die NATO-Erweiterung ging der gewaltsamen Machtübernahme in Kiew durch - vom Westen geförderte - ukrainische Nationalisten im Jahr 2014 und der gewaltsamen Machtübernahme auf der Krim und im Donbas durch russische Nationalisten und russische Streitkräfte im selben Jahr voraus. 2014 war also ein Jahr, in dem dieser gewalttätige Konflikt zwischen der Regierung und den Separatisten begann. Dann, nach einer größeren Kampfhandlung, gab es den Abschluss des Minsker Abkommens, das aber von beiden Seiten nicht eingehalten wurde. Es gibt objektive Berichte der OSZE über Waffenstillstandsverletzungen auf beiden Seiten. Diese Waffenstillstandsverletzungen sind schon vor der russischen Invasion, dieser illegalen russischen Invasion in die Ukraine, eskaliert. Und das ganze Problem ist, dass eine friedliche Lösung, die damals vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen international gebilligt wurde, nicht eingehalten wurde. Jetzt sehen wir, dass anstatt Biden, Selenskyj, Putin und Xi Jinping an einem Verhandlungstisch sitzen und darüber diskutieren, wie man die Welt zum Besseren verändern, jegliche Hegemonie beseitigen und Harmonie herstellen kann, diese Politik der Drohungen der Vereinigten Staaten gegenüber Russland, der Vereinigten Staaten gegenüber China, und die Forderungen der kriegstreiberischen ukrainischen Zivilgesellschaft zur Einrichtung dieser Flugverbotszone.

Übrigens gibt es in der Ukraine einen unglaublichen Hass auf die Russen, und dieser Hass breitet sich in der ganzen Welt aus, nicht nur auf das kriegstreiberische Regime, sondern auch auf das russische Volk. Aber wir sehen, dass das russische Volk, viele von ihnen, gegen diesen Krieg sind. Und wisst ihr, ich möchte allen mutigen Menschen, die sich gewaltlos gegen den Krieg und die Kriegstreiberei wehren, die gegen die russische Besetzung der ukrainischen Stadt Cherson protestiert haben, meine Anerkennung aussprechen - ich bin ihnen dankbar. Und die Armee, die einmarschierende Armee, hat auf sie geschossen. Das ist eine Schande.

Es gibt sehr viele Menschen in der Ukraine, die einen gewaltfreien Lebensstil pflegen. Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen in unserem Land, die vor der russischen Invasion einen Ersatzdienst leisteten, betrug 1.659. In der Ukraine gibt es nur ein sehr eingeschränktes Recht auf Kriegsdienstverweigerung für Mitglieder kleinerer Religionsgemeinschaften, z.B. den Adventisten, Baptisten, Zeugen Jehovas oder Pfingstbewegung. Diese Zahl stammt aus dem Jahresbericht 2021 über Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, der vom Europäischen Büro für Kriegsdienstverweigerung veröffentlicht wurde. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass Europa im Jahr 2021 für viele Kriegsdienstverweigerer in mehreren Ländern kein sicherer Ort war: in der Ukraine, in Russland, auf der von Russland besetzten Krim und im Donbass, in der Türkei, im türkisch besetzten Nordteil Zyperns, in Aserbaidschan, Armenien, Weißrussland und anderen Ländern. Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen waren mit Strafverfolgung, Verhaftung, Prozessen vor Militärgerichten, Gefängnisstrafen, Geldstrafen, Einschüchterung, Angriffen, Morddrohungen und Diskriminierung konfrontiert. In der Ukraine werden Kritik an der Armee und das Eintreten für die Kriegsdienstverweigerung als Hochverrat betrachtet und bestraft. In Russland wurden bei Antikriegskundgebungen Tausende von Menschen verhaftet und mit Geldstrafen belegt.

Ich möchte die Erklärung der Bewegung der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen in Russland aus diesem EBCO-Jahresbericht zitieren: "Was in der Ukraine geschieht, ist ein von Russland entfesselter Krieg. Die Bewegung der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen verurteilt die russische Militäraggression. Und fordert Russland auf, den Krieg zu beenden. Die Bewegung der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen ruft die russischen Soldaten dazu auf, nicht an den Feindseligkeiten teilzunehmen. Werdet nicht zu Kriegsverbrechern. Die Bewegung der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen ruft alle Rekruten dazu auf, den Militärdienst zu verweigern, sich für einen zivilen Ersatzdienst zu bewerben oder zu versuchen, aus medizinischen Gründen freigestellt zu werden." Zitatende. Und natürlich verurteilt die ukrainische pazifistische Bewegung auch die bewaffnete Reaktion der Ukraine und das Abwürgen der Verhandlungen, das, wie wir jetzt sehen, aus dem Versuch einer militärischen Lösung resultiert.

JUAN GONZÁLEZ: Yurii, ich wollte dich nur fragen, weil wir nur noch ein paar Minuten haben - du sprichst bereits von der direkten Beteiligung der USA und der NATO. Es wurde sehr wenig berichtet, nicht nur über die Waffen, die der Westen an die Ukraine geliefert hat, sondern auch über die tatsächlichen Satellitenüberwachungsdaten, welche die ukrainische Armee höchstwahrscheinlich vom Westen erhält. Und ich vermute, dass wir in einigen Jahren erfahren werden, dass die Drohnenangriffe auf die russischen Streitkräfte von amerikanischen Stützpunkten in Orten wie Nevada aus ferngesteuert wurden, oder dass sich bereits eine beträchtliche Anzahl von CIA- und Sondereinsatzkräften in der Ukraine befindet. Wie du sagst, gibt es Nationalisten auf allen Seiten, in Russland, in den USA und in der Ukraine, die diese Krise gerade jetzt angeheizt haben. Ich frage mich, wie stark deiner Meinung nach der Widerstand des ukrainischen Volkes gegen diesen Krieg ist. Wie weit hat er sich ausgebreitet?

Yurii Sheliazhenko: Diese Eskalation ist das Ergebnis eines Vorgehens, das von den Rüstungsfirmen ausgeht. Wir wissen, dass der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin mit Raytheon verbunden ist. Er saß im Vorstand des Unternehmens. Und wir wissen, dass die Aktien von Raytheon an der New Yorker Börse um 6 % gestiegen sind. Und sie liefern Stinger-Raketen an die Ukraine, Hersteller von Javelin-Raketen, [unhörbar], haben ein Wachstum von 38%. Und natürlich haben wir Lockheed Martin. Sie liefern F-35-Kampfjets. Sie haben ein Wachstum von 14%. Und sie profitieren vom Krieg, und sie drängen auf Krieg, und sie hoffen sogar, noch mehr vom Blutvergießen zu profitieren, von der Zerstörung, ohne irgendwie bis zum Atomkrieg zu eskalieren.

Die Menschen sollten die Regierungen drängen, zu verhandeln, statt  Krieg zu führen. In den Vereinigten Staaten und in Europa gibt es eine Reihe von Aktionen gegen die Kriegstreiberei. Eine Ankündigung findet ihr auf der Website WorldBeyondWar.org unter dem Motto "Russia Out of Ukraine. NATO Out of Existence." CodePink fordert Präsident Biden und den Kongress der Vereinigten Staaten weiterhin zu Verhandlungen statt zur Eskalation auf. Außerdem wird es am 28. April eine globale Mobilisierung unter dem Motto "Stoppt Lockheed Martin" geben. Die Koalition "Nein zur NATO" hat angekündigt, dass sie dafür im Juni 2022 und gegen den NATO-Gipfel in Madrid demonstrieren wird. In Italien startete Movimento Nonviolento eine Kampagne zur Kriegsdienstverweigerung in Solidarität mit Kriegsdienstverweigerern, Wehrdienstverweigerern, russischen und ukrainischen Deserteuren. In Europa erklärte die Kampagne Europa für den Frieden, dass die europäischen gewaltfreien Pazifisten Putin und Selenskyj ein Ultimatum stellen: Stoppt den Krieg sofort, oder die Menschen werden Karawanen gewaltfreier Pazifisten aus ganz Europa organisieren, die alle möglichen Mittel nutzen, um unbewaffnet in die Konfliktgebiete zu reisen und als Friedenskräfte unter den Kriegführenden zu agieren. Was die Proteste in der Ukraine angeht, so haben wir zum Beispiel diese beschämende -

AMY GOODMAN: Yurii, wir haben fünf Sekunden.

Yurii Sheliazhenko: Ja, ich möchte sagen, dass eine Petition mit dem Titel "Erlaubt Männern zwischen 18 und 60 Jahren ohne militärische Erfahrung, die Ukraine zu verlassen" auf OpenPetition.eu 59.000 Unterschriften gesammelt hat.

AMY GOODMAN: Yurii, wir müssen es dabei belassen, aber ich danke dir sehr, dass du bei uns warst. Yurii Sheliazhenko, Exekutivsekretär der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung.

Quelle:  Democracy Now! vom 22.03.2022. Originalartikel: Ukrainian Pacifist in Kyiv: All Sides Have Fueled the War. Only Comprehensive Peace Talks Can End It . Übersetzung: Michael Schmid. Der ursprüngliche Inhalt dieses Artikels steht unter der Lizenz von Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 3.0 United States License .

Fußnoten

Veröffentlicht am

23. März 2022

Artikel ausdrucken