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Schon die Russische Sowjetrepublik hatte stets das letzte Wort

Zeitgeschichte: Wer den Ukraine-Konflikt verstehen will, sollte die Geschichte des 20. Jahrhunderts kennen.

Von Rudolf Walther

In der 1922 gegründeten UdSSR - der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken - mit zunächst vier, ab 1936 dann elf Mitgliedern, gab es auch die Russländische Sowjetrepublik. Allerdings verfügten die Russen über kein ethnisch definiertes Territorium, sondern waren supranational oder eben "russländisch" organisiert. Zu ihrer Sowjetrepublik gehörten eine Zeit lang auch Kasachstan und Kirgisien, insgesamt erfasst waren 15 nichtrussische Gemeinschaften. Daran zu erinnern, ist alles andere als trivial oder derzeit nicht opportun. Der starre Blick auf die Bilder und Berichte vom Krieg Russlands in der Ukraine sollte nicht das Verständnis für historische Hintergründe und Voraussetzungen der gegenwärtigen Ereignisse trüben. Man hat die Sowjetunion zu ihren Lebzeiten zuweilen mit einer "Kommunalka" (Gemeinschaftswohnung) verglichen, in der jede Nationalität ein Zimmer bewohnte, die Russen aber in der ganzen Wohnung lebten, sich quasi für alles zuständig fühlten und überall Präsenz zeigten.

Die Existenz der 1917 ausgerufenen Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) war immer gekennzeichnet von einer Asymmetrie zwischen ihrer Größe und dem Stellenwert anderer Republiken. Josef Stalins Plan von 1920, alle Sowjetrepubliken der RSFSR einzuverleiben, stieß vor allem in Georgien und in der Ukraine auf Widerstand. Diese Entitäten pochten auf ihr Recht und beriefen sich auf Lenins Versprechen von der nationalen Selbstbestimmung, das bei der Gründung ihrer Republiken gegeben wurde. Auf den Vorwurf von Gegnern Lenins, sein Konzept der nationalen Selbstbestimmung ermuntere den Nationalismus, reagierte Stalin mit dem Vorschlag, dass ethnische Gemeinschaften innerhalb der RSFSR einen Autonomiestatus erhalten könnten, wenn sie das wollten.

Diese Offerte war mit der Absicht verwoben, eine wirklich föderative Struktur gleichberechtigter Mitglieder in der zu gründenden Sowjetunion zu verhindern. Das wiederum trug Stalin die Kritik Lenins ein, seine Version der Autonomisierung trage Züge eines "großrussischen Chauvinismus". Dies gelte ebenso für dessen Ziel, der "Union" keinerlei Gesetzgebungskompetenz neben den entsprechenden Rechten der RSFSR zuzubilligen. Obendrein sollten Georgien, Armenien und Aserbaidschan eine Transkaukasische Sowjetische Föderation bilden und 1922 gleichrangig mit der RSFSR und der Ukraine der Sowjetunion beitreten. Darauf reagierte Lenin mit der Drohung, er erkläre einem russischen Chauvinismus "den Krieg auf Leben und Tod".

Lenins Prinzip der "nationalen Selbstbestimmung"

Kurzum, Georgien und die Ukraine spielten schon bei der Gründung der Sowjetunion und dem damit verbundenen Übergang von Lenins Konzept der "nationalen Selbstbestimmung" zum Prinzip der "Föderation" eine zentrale Rolle. Dabei hatte Lenins Prinzip der "nationalen Selbstbestimmung" theoretische Untiefen und barg von Anfang an politische Risiken. So war die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik 1919 zunächst in Charkiw ausgerufen worden, als Kiew noch zum Herrschaftsbereich des Nationalisten Symon Petljura gehörte, der sich dem Kampf gegen das "rote" und "weiße" Russland verschrieben hatte. Als sich seine Verbände im November 1920 der Roten Armee beugen mussten, waren die Würfel zugunsten der Sowjetmacht gefallen.

Doch hielten sich die Sympathien für die Bolschewiki in der vorwiegend ländlichen Ukraine in Grenzen. Lenin versuchte Abhilfe zu schaffen, indem er die stark russisch geprägte Donezker-Kriworoger Sowjetrepublik mit ihren proletarischen Kohlenrevieren der Ukrainischen Sowjetrepublik zuschlug. Dies geschah teilweise gegen den Willen der Bevölkerung und politischen Führung dieser Republik, die ihre Eigenständigkeit keineswegs der in Moskau favorisierten "Ukrainisierung" russischer Gebiete opfern wollte. Mitte der 1920er Jahre ging dies im Donbass auch zulasten der russischen Sprache in Bildung wie Kultur. Unbehagen und Protest erreichten solche Ausmaße, dass Moskau umsteuerte und die "Entrussifizierung" stoppte.

Man muss dazu anmerken, dass es sich beim vermeintlich ebenso selbstverständlichen wie zunächst plausiblen Begriff "nationales Selbstbestimmungsrecht" je nach Perspektive um "Dynamit" oder einen "brandstiftenden Joker" handelt, wie es der US-Außenminister und Jurist Robert Lansing (im Amt 1915 - 1920) einmal formulierte. In der Tat sind alle drei Komponenten des Begriffs - Nation, Selbstbestimmung und Recht - mindestens doppel- oder mehrdeutig. Sie werden unbrauchbar wie illusorisch, wenn das "Selbst", welches zu "bestimmen" hat, gleichzeitig national und rechtlich verfasst sein soll. Wird nämlich "die Nation" ethnisch-kulturell oder historisch bestimmt, gerät universalistisch-demokratisches Recht zur bloßen Fiktion innerhalb willkürlicher Ab- und Ausgrenzungen, wie das in der Ukraine seit 2014 zu beobachten ist. Das Fremde oder Andere - wie das Russische - erhält einen minderen oder gar keinen Rechtsstatus. Hält man sich an Recht, das diesen Namen verdient, muss man alle Hoffnung auf einen Fremdes ausgrenzenden Nationalismus ebenso fahren lassen wie den Versuch, zu bestimmen, wer legitimerweise sagen kann, wer das "Selbst" oder eine "Nation" ausmacht. Sprache, Herkunft, Kultur und Geschichte taugen dazu so wenig wie Religion und Brauchtum. Und wer, bitte sehr, hat eine halbwegs triftige Antwort auf die Fragen: Was ist eine Nation? Und brauchen wir überhaupt einen Begriff dafür?

Postsowjetische Konflikte

Schon im russischen Zarenreich hatte das Prinzip der Selbstbestimmung staatliche Strukturen in eine Vielzahl von willkürlich bestimmten nationalen Teilen aufgelöst und der wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit eines gesamtrussischen Staates zugesetzt. Die durch den Ersten Weltkrieg und den folgenden Bürgerkrieg zusätzlich verstärkte Hungersnot gebot es den Bolschewiki, vom Prinzip einer das Land zersplitternden nationalen Selbstbestimmung auf die verbindende Kooperation der vielen Völkerschaften umzusteigen. Nur so schien es möglich, das nackte Überleben von Millionen Menschen zu sichern. Das Fiasko der nationalen Selbstbestimmung hatte sich nicht zuletzt am Auseinanderbrechen der vielgestaltigen transkaukasischen Republiken gezeigt, die häufig Zuflucht bei ausländischen Schutzmächten suchten.

Lenin versuchte dem mit seiner Auffassung beizukommen: Die "Werktätigen" müssten über die "nationale Zukunft" derartiger Entitäten entscheiden. Das konnte funktionieren, aber auch in Sackgassen führen, wie in der kalmückischen Region (an der Nordwestküste des Kaspischen Meers), wo es schlicht an "Werktätigen" in nennenswerter Zahl fehlte. Ohnehin war es in den frühen 1920er Jahren die Regel, dass Verbände der Roten Armee eingriffen, um national selbstbestimmte Territorien der RSFSR zuzuschlagen. Bis 1923 annektierte die Moskauer Zentrale auf diese Weise nicht weniger als 17 nicht mehr überlebensfähige autonome Staatsgebilde, um russische Staatlichkeit zu stabilisieren. Dies geschah gemäß Lenins Devise: "Was durch die Selbstbestimmung zerfallen ist, muss jetzt wieder zusammengefügt werden." Verklärend hieß es dann, der Wille der Werktätigen habe zu einer Eingliederung "in den Schoß des großen Staates der Revolution geführt", womit die RSFSR gemeint war. Lenin geriet damit kurz vor seinem Tod Anfang 1924 in einen Widerspruch zu seiner einstigen vehementen Kritik an Stalins "großrussischem Chauvinismus" und zu seinem Konzept vom Selbstbestimmungsrecht.

Zu den Spätfolgen dieser Politik gehören nicht zuletzt die postsowjetischen Konflikte zwischen Russland und Georgien um die Autonomiebestrebungen Abchasiens und Südossetiens. Unter dem damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew kam es im August 2008 zum Konflikt zwischen russischen und georgischen Truppen. Dieser "Sommerkrieg" endete nach wenigen Tagen mit einer Waffenruhe und der Anerkennung der beiden umstrittenen Regionen als unabhängige Republiken durch die Regierung in Moskau.

Quelle: der FREITAG vom 19.03.2022. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Rudolf Walther und des Verlags.

Veröffentlicht am

19. März 2022

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