Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Wissende und virtuelle Krieger:innen

Der freudig erregten Remilitarisierung sollten sich alle, die das Leben lieben, entgegenstellen

Von Peter Bürger

Wie viele lange Jahre der körperlichen Arbeit, Geduld und Zärtlichkeit schenken die Eltern – als selbst Beschenkte – einem Menschenkind, damit es groß werden, leben und lieben kann! Wie viele Mühen von ungezählten Familien, Hausgemeinschaften und anderen Pflegenden sind – Tag für Tag, Nacht um Nacht – notwendig, um auch nur einem einzigen besonders bedürftigen Menschen in der Nähe die nackte Existenz und ein Leben in Würde zu ermöglichen …

Wie anders die Apparatur der militärischen Heilslehre und die von der Kriegsunlogik hervorgebrachte "Zivilisation". Nur ein kleiner Knopfdruck genügt, um in Sekundenschnelle nicht nur ein, sondern Tausende Menschenleben auszulöschen. Menschen werden geopfert oder zur Selbstaufopferung angefeuert wegen Ökonomie, Macht oder der großartigen Ideen von "reinen Geistern", die womöglich noch nie bei der leibhaftigen Geburt eines Menschen zugegen waren oder – wenigstens ein paar Nächte lang – die sorgende Wache an einem Krankenbett übernommen haben.

Der Krieg ist das Verbrechen!

Eine Überlieferung, die in Talmud und Koran Niederschlag gefunden hat, klärt uns auf über den hier angedeuteten Zusammenhang des Lebens: "Wer einen einzigen Menschen tötet, tötet die ganze Welt." Das gilt schon, wenn die Waffen der großen Staatsgebilde noch schweigen. Doch die Kriegsgottheit, unentwegt erschaffen von allen, die einen militärisch gelenkten "Zivilisations"-Kurs stützen, erzwingt die ultimative Verachtung des Lebens und negiert das Wunder der Geburt.

Das Ganze ist das Falsche! Das "Ganze", das ist die Bereitschaft, mit technologischen Mitteln massenmörderische Operationen auszuführen und am Ende sogar Waffen zu produzieren, die Billionen verschlingen, um die Auslöschung der menschlichen Gattung vorzubereiten. Das Ganze, das ist die sogenannte "Zivilisation" der letzten Jahrtausende – ein winziger Ausschnitt aus der Geschichte des Lebens, der für unsere Spezies aber suizidal endet, sofern wir der Militärreligion kein Ende bereiten.

Das Ganze, das ist nicht dieses oder jenes Imperium, sondern überhaupt die wahnhafte Doktrin von Unzurechnungsfähigen, die sich selbst "Realisten" nennen und meinen, das Weltgefüge müsse gleichsam naturnotwendig von imperialen Zentren beherrscht werden und also unverdrossen jener Spur folgen, die seit eh und je von Leichenmassen gebildet wird: Zeitenwende um Zeitenwende, immer wieder mit einem Neuanfangen, das die alten Abgründe auf noch grausamere Weise wiederholen wird. Kein Tag dieses noch jungen Jahrtausends ist vergangen, an dem die Massenmordapparatur auf dem Globus stillgestanden hat. Kaum einer der Urheber von millionenfachem Tod musste Verantwortung übernehmen, die Mächtigsten schon gar nicht.

In diesen Wochen zwingt die russische Regierung zigtausende Menschen, zu morden oder Mordopfer zu werden. Bevor wir von besonderen "Kriegsverbrechen" sprechen, die aus Verstößen gegen das immanente Regelwerk der Militärreligion bestehen, ist Tag für Tag an den grundlegenden – ausnahmslos für alle geltenden – Zivilisationskonsens des Jahres 1945 zu erinnern: Der Krieg ist das Verbrechen.

Das Imperium der Traurigkeit und "gute Krieger"

In dem von der militärischen Heilslehre beherrschten Imperium der Traurigkeit gibt es keine guten und bösen Imperien. Die "guten Krieger" hierzulande missbrauchen die Empörung über das von der russischen Regierung ins Werk gesetzte und zu verantwortende Verbrechen sowie die Solidarität mit allen durch einen Angriffskrieg überfallenen Menschengeschwistern in der Ukraine, um ihre Agenda https://www.freitag.de/autoren/jaugstein/gigantisches-ruestungspaket-ist-gefaehrlicher-irrweg . durchzusetzen. Auch das raubt vielen in diesen Tagen den ruhigen Schlaf.

Eine der Botschaften: Schuld am Krieg sind – wie immer in den Narrativen der Bellizisten – die Friedensbewegung und alle, die der rasanten Aufrüstung der letzten Jahre keinen Beifall gespendet haben. Pazifist:innen, linke wie bürgerliche Politiker, "Sicherheitsexperten der realistischen Schule" und nicht wenige Militärs fordern seit Jahrzehnten durchgreifende "Brandschutz"-Maßnahmen für das gemeinsame "Haus Europa" jenseits der gefährlichen imperialen Logik. Noch im letzten Jahr kamen aus diesem Kreis drängende "Rauchmeldungen" und konstruktive Vorschläge, die vielleicht geeignet waren, eine Eskalation bis hin zum neuen Angriffskrieg noch abzuwenden. Diese Warnenden haben zuletzt weniger gewusst als die US-Geheimdienste, das ist wahr. Aber sie sind nicht diejenigen, die für Brandanstiftungen oder gar Brandbeschleunigung gesorgt haben.

Die Mediatheken der großen Sender füllen sich mit Dokumentationen, die zum beträchtlichen Teil ein höchste einseitige Sicht der letzten drei Jahrzehnte vermitteln und bisweilen gar als Fazit aus dem "Off" das Gegenteil dessen propagieren, was sich aus dem herangezogenen Archivmaterial erschließt. Wenn Pazifist:innen dieser Tage die Vorgeschichte des gegenwärtigen Krieges mitbedenken, werden sie angesichts der Leiden in der Ukraine als zynisch verunglimpft. Wenn die militärgläubigen Revisionisten in ungezählten Angeboten ihre verzerrte Darstellung der jüngeren Geschichte unterbreiten, soll das hingegen ein Ausdruck von Mitgefühl sein.

Im Rahmen einer auf mich gespenstisch wirkenden Parlamentssitzung verkündete die deutsche Regierungsspitze als "Zukunftsprogramm" genau jenes alte Programm, das seine vollständige Irrationalität und Schädlichkeit zuletzt in zwei Jahrzehnten Afghanistankrieg unter Beweis gestellt hat. Die Opposition applaudierte mit der höchsten Erregung, und es kam der Verdacht auf, dass einige Parlamentarier im Hohen Haus gar freudig erregt waren. Wer solchen Politikern angesichts einer deutlich gestiegenen Weltkriegsgefahr sein Vertrauen schenken will, ist schlecht beraten.

Sodann wurde der Bundeskanzler am 3. März im ZDF ausführlich von Maybrit Illner interviewt. https://www.youtube.com/watch?v=XCcMBWieTOQ .  Unschwer war hier zu erkennen, dass Olaf Scholz durchaus noch in gewisser Tuchfühlung steht mit einer um den Frieden in Europa hochverdienten sozialdemokratischen Politikergeneration. Doch die Moderatorin stellte – bisweilen mit vorwurfsvollem Ton – auf Schritt und Tritt Fragen, die auf noch mehr Militärgläubigkeit und noch mehr Bereitschaft zur aktiven Beteiligung am Kriegsgeschehen zielten.

Ich selbst schaue – bzw. erleide – erst seit zwei Wochen solche Fernsehformate und weiß nicht, wie lange ich das durchhalte. Falls es im Land noch friedensbewegte professionelle Medienbeobachter mit Ressourcen gibt, so wartet sehr viel Arbeit auf sie. Mir drängt sich dieser Tage der Eindruck auf, dass ein Großteil der Medienmacher:innen kein Bewusstsein mehr davon hat, wie das real existierende Weltgefüge – unter dem Vorzeichen der Atombombe – beschaffen ist und welche Folgen es haben kann, wenn die Politik über eine medial aufgeheizte Öffentlichkeit zu eskalationsfreudigen Entscheidungen förmlich gedrängt wird.

Zu den "virtuellen Kriegern", die keine Verantwortung und auch keine Folgen tragen müssen, zähle ich den Militärhistoriker Prof. Sönke Neitzel, der nach seinem letzten "Krieger"-Bestseller von Forschern wie Wolfram Wette https://www.darmstaedter-signal.de/meldungen/der-rueckkehr-zur-kriegerischen-tradition-widerstehen-rezension-von-wolfram-wette-zu-soenke-neitzel-deutsche-krieger-berlin-2020/ . oder Eckart Conze https://www.hsozkult.de/review/id/reb-95530?title=s-neitzel-deutsche- krieger. mit guten Argumenten kritisiert worden ist. Diesem in der Historie des bewaffneten Mordens theoretisch bewanderten "Experten" begegnet man öfter auf dem Bildschirm, und dann plaudert er redselig und scheinbar gerne über Töten oder Getötetwerden. Darüber müsse man überhaupt wieder mehr und offener sprechen, das gehöre zum Militär. Er selbst freilich habe nicht vor, Waffen in die Hand zu nehmen und Wunden zu erleiden; dafür bringe er aber seine Hochachtung vor den Soldaten in das Gesamtgeschehen ein. Am 7. März redet nun dieser Potsdamer Lehrstuhlinhaber für Militärgeschichte in dem (vor der vorletzten "Zeitenwende" 1999 noch pazifistisch ambitionierten) Zeitungsmedium taz einer neuen "politischen Kultur" das Wort und will überprüfen, "ob Scholz es ernst meint, die Bundeswehr kriegsbereit zu machen". https://taz.de/Die-Bundeswehr-und-die-Deutschen/!5837014/ . Sinnvoll wäre, wenn Herr Sönke Neitzel sich bereit erklärt, ehrenamtlich dereinst zumindest in Seelsorgeteams für trauernde Soldaten- und Zivilistenfamilien mitzuarbeiten, sofern die Politik jetzt seine Ratschläge hinsichtlich einer Rückkehr zur alten Kriegspolitik befolgt.

An allen Fronten der Rückkehr zum Archaischen gibt es die Tatkräftigen. Als allernächstes begehren die virtuellen Krieger in komfortablen Settings vielleicht ein vollständiges Verbot aller russischen Kulturerzeugnisse und das Niederreißen aller "russophilen Brücken", die seit Ende des Zweiten Weltkriegs https://www.heise.de/tp/features/Germanen-versus-Slawen-6113363.html . erbaut worden sind.

Die "Wissenden" verdienen Misstrauen!

Die News-Ticker müssen redaktionell irgendwie betreut werden. Die Redaktionen sollten aber deutlich machen, in welch großem Ausmaß sie kostenfreie Angebote mit letztlich ungeklärter Herkunft oder abonnierte Dienste verarbeiten. Womöglich erfassen am Ende eines Tages die in einer Nachrichtensendung ausgewählten Mosaiksteine nur denkbar wenig vom wirklichen Kriegsgeschehen. "Disclaimer" sind nützlich in Kriegszeiten. Sie fördern Transparenz – auch Demut und kritisches Bewusstsein.

Ohne Frieden ist alles nichts …? In den Talkrunden fehlen die nonkonformen Friedensforscher:innen und am Ende auch das Friedensministerium, das nach 1945 nie eingerichtet worden ist. Geschichte stutzt man dieser Tage oft auf das Format eines Handydisplays zurecht. Auf allen Kanälen werden nervöse Meinungssalven ins Dunkel der Nacht abgeschossen. Sogar an Mobilmachungen für den Dritten Weltkrieg fehlt es nicht. https://www.nzz.ch/meinung/springer-chef-mathias-doepfner-blaest-zum-angriff-ld.1673017?mktcid=smsh&mktcval=E-mail .

Selbstgewisse Expertisen wachsen wie Pilze aus dem Boden. Wenn man eine psychologische Ferndiagnose zur Persönlichkeit des russischen Präsidenten parat hat, braucht man sich keine Gedanken mehr zu machen über Militärdoktrinen mit geostrategischen und ökonomischen Zielvorgaben (hüben wie drüben) oder über Kulturkampf-Phänomene, die auch osteuropäische EU-Mitgliedsländer betreffen.

Ohne irgendwelche Kosten oder Nachteile kann man jetzt aus noch sicherer Entfernung mannigfach unter Beweis stellen, dass man auf der richtigen Seite steht https://www.spiegel.de/panorama/ukraine-krieg-gas-und-oel-aus-russland-olaf-scholz-hat-recht-kolumne-a-bf8a5981-a91d-4dda-a537-af65146ee8a8 .  (z.B. Aufrufe zu "Tyrannenmord" oder "Exekution des Oberteufels" https://www.nzz.ch/international/putin-eliminieren-spitzendiplomat-warnt-vor-westlichen-drohungen-ld.1673016?mktcid=smsh&mktcval=Twitter&reduced=true ., Beifall für todesbereite blutjunge Kämpfer, Forderung nach Waffenlieferungen für einen jahrelangen Befreiungskampf). Weniger öffentlichkeitswirksam sind dagegen Überlegungen zur Frage, welcher Weg vielleicht noch dazu führen kann, dass die Waffen nicht in ferner Zukunft, sondern jetzt schweigen. https://www.heise.de/tp/features/Ein-Silberstreif-am-ukrainischen-Horizont-6544475.html .

Ich selbst gehöre nicht zu den "Wissenden" und misstraue auch allen, die sich allzu leichtfertig als solche ausgeben. Als Pazifist verfolge ich neben der Entwicklung der konkreten humanitären Hilfeleistungen (Güter und Flüchtlingsaufnahme), Nachrichten zum aktiven zivilen Widerstand in der Ukraine, der Solidarität mit allen Kriegsdienstverweigerern https://de.connection-ev.org/ . und Berichten über Akteure des russisch-ukrainischen Brückenbaus mit größtem Interesse alle Überlegungen, durch drastische ökonomische Maßnahmen – die uns allen womöglich sehr weh tun – ein baldiges Ende des russischen Angriffskrieges herbeizuführen. Aber welche Expertise sollte ich als "Laie" hier ohne weitergehendes Studieren geben?

Standorte hingegen sind möglich: Nie wieder darf eine deutsche Regierung Maßnahmen ergreifen, die in einem ehemals der UdSSR angehörenden Land – auch in Russland – Hunger und Elend bewirken. Im Licht der Geschichte darf auch keine deutsche Regierung eine Politik begünstigen, die in Russland zu einem blutigen Bürgerkrieg mit ungezählten Toten führt oder gar einen neuen Weltenbrand entzündet.

Mit Genehmigung des Verfassers; der Text (hier mit zwei neuen "Links") erschien zuerst am 09.03.2022 im Online-Magazin telepolis ( https://www.heise.de/tp/features/Wissende-und-virtuelle-Kriegerinnen-und-Krieger-6543965.html ).

Fußnoten

Veröffentlicht am

10. März 2022

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