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150 Minuten zu wenig gearbeitet: Abschiebung droht, weil neues Bleiberecht stockt

Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag neue Bleiberechtsregeln vereinbart. Viele Geflüchtete setzen große Hoffnungen in das angekündigte Chancen-Aufenthaltsrecht. Doch bis es greift, werden weiterhin Menschen abgeschoben – auch solche, die von den neuen Regeln profitieren würden. Vorgriffsregelungen könnten das verhindern.

Es war ein Schock für Dayo*, als er vergangene Woche zur Ausländerbehörde Halle ging, um eine Beschäftigungsduldung zu beantragen – und direkt verhaftet wurde. Der 59-jährige Mann aus dem westafrikanischen Benin lebt seit sieben Jahren in Deutschland. Er sei sehr gut integriert, beteuern Menschen, die ihn kennen, arbeite häufig in der Kirchengemeinde der Heilig Kreuz-Kirche in Halle mit, und einen unbefristeten Arbeitsvertrag hat er auch. Sein "Vergehen": Er hat in den vergangenen 18 Monaten nicht durchgehend 35 Stunden in der Woche gearbeitet, wie für eine Beschäftigungsduldung erforderlich, sondern in 7 der 18 Monate nur 32,5 Stunden. Deshalb muss er das Land verlassen, meint die Ausländerbehörde. Dass er seinen Lebensunterhalt eigenständig sichern kann, also nicht auf staatliche Unterstützung angewiesen ist, spielt dabei keine Rolle.

Wären die neuen, von der Ampel-Regierung angekündigten Bleiberechtsregelungen schon in Kraft, wäre es gar nicht erst so weit gekommen. Dann hätten keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen ergriffen werden müssen, wie es im Behördendeutsch heißt. Doch das sind sie noch nicht – und so ordnete das Amtsgericht in Halle an, dass Dayo in Abschiebehaft zu nehmen sei. Er saß tagelang in einer Justizvollzugsanstalt, obwohl Abschiebehaft Europarecht zufolge bloß das letzte Mittel ist, wenn alle anderen Wege ausgeschöpft sind. Auch die Unterbringung von Menschen, die abgeschoben werden sollen, in einem Gebäude mit Straftätern ist juristisch höchst umstritten; für den 10. März wird hierzu ein Urteil am EuGH erwartet. Dayos Leben könnte eine dramatische Wendung nehmen, wenn er tatsächlich abgeschoben und somit aus seiner vertrauten Umgebung herausgerissen wird – wegen zweieinhalb Stunden, die er wöchentlich zu wenig gearbeitet hat.

Um Menschen wie ihm künftig mehr Sicherheit zu geben, haben sich SPD, Grüne und FDP im Koalitionsvertrag auf neue Bleiberechtsregelungen geeinigt. Bestimmte Gruppen wie etwa gut integrierte Jugendliche sollen bessere Chancen auf ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten. Zudem soll es für Menschen, die seit dem 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland leben, unter niedrigschwelligen Voraussetzungen ein Aufenthaltsrecht auf Probe geben.

Das Problem: Diese Regelungen sind zwar im Koalitionsvertrag festgeschrieben, aber noch nicht rechtlich bindend. So kommt es, dass Geflüchtete zum jetzigen Zeitpunkt noch abgeschoben werden oder ihnen – wie im Falle von Dayo – die Abschiebung droht, obwohl sie nach dem Willen des Bundes  vom neuen Chancen-Aufenthaltsrecht oder anderen Bleiberechtsregelungen profitieren würden. Sie müssen es ausbaden, dass  der Bundestag die im Koalitionsvertrag vereinbarten Verbesserungen nicht schnell genug beschließt.

Flickenteppich Deutschland

Dabei gibt es Wege, um das zu verhindern. Bis zur tatsächlichen Gesetzesänderung können sogenannte Vorgriffsregelungen dafür sorgen, dass die Menschen, die künftig bleiben dürfen, schon jetzt diese Chance erhalten. Nötig ist hierfür, dass die Innenministerien der Bundesländer die Ausländerbehörden anweisen, all jenen, die potentiell von den angekündigten Bleiberechtsregelungen profitieren, Ermessensduldungen nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG zu erteilen und sie so vor Abschiebung zu schützen. Neu ist das nicht: Hessen hat beispielsweise im Februar 2014 solche Vorgriffsregelungen verabschiedet (für die Einführung der Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration nach § 25b AufenthG) , in Schleswig-Holstein und Niedersachsen gab es 2019 eine entsprechende Regelung im Vorfeld der Einführung der Beschäftigungsduldung.

Die momentane Lage gleicht einem Flickenteppich: In Bezug auf das angekündigte Aufenthaltsrecht auf Probe hat etwa das SPD-geführte Innenministerium Rheinland-Pfalz mit einem Schreiben vom 23.12.2022 reagiert und den Ausländerbehörden nahegelegt, Abschiebungen des begünstigten Personenkreises im Hinblick auf das anstehende Gesetzgebungsverfahren "rückzupriorisieren", das heißt erst einmal nicht zu vollziehen.

Ganz anders sieht es in Bayern aus. Dort mauert Innenminister Joachim Herrmann (CSU). Die SPD-Landtagsfraktion hat unter Federführung der Abgeordneten Alexandra Hiersemann die bayerische Landesregierung dazu aufgefordert, die Ausländerbehörden mithilfe einer Vorgriffsregelung anzuweisen, Fälle, die voraussichtlich unter die künftige bundesgesetzliche Regelung fallen, zurück zu priorisieren – also nicht abzuschieben. Innenminister Herrmann lehnt dies jedoch ab mit der Begründung, "bloße Absichtserklärungen der Parteien in einem Koalitionsvertrag lassen die Rechtslage unberührt." Die Ankündigungen im Koalitionsvertrag (vgl. hierzu S. 138 ) seien "vage und wenig präzise" und deshalb sei eine "seriöse Vorwegnahme" nicht möglich, heißt es in einem Schreiben von Herrmann, das PRO ASYL vorliegt. Hiersemann will das nicht gelten lassen und hat am 7. Februar einen Antrag gestellt ( "Vorgriffsregelung zum Aufenthaltsrecht, um Härtefälle zu vermeiden!" ), damit die zuständigen Ausschüsse und das Plenum im bayerischen Landtag das Thema auf die Agenda setzt.

Nach Pakistan abgeschoben trotz laufendem Härtefallantrag

Bis es soweit ist, gilt jedoch für Geflüchtete: Wer Glück hat, wohnt im "richtigen" Bundesland, in dem die Innenministerien entsprechende Anweisungen an die Ausländerbehörden erteilen – wer Pech hat, wohnt ein paar Kilometer weiter und wird abgeschoben. So wie Herr A. aus Niedersachsen, über den der dortige Flüchtlingsrat berichtete . Der Pakistani wurde am 12. Januar abgeschoben, obwohl er sich bereits seit 2015 – also länger als die erforderlichen fünf Jahre – in Deutschland aufhielt und auch die sonstigen Voraussetzungen für das zu erwartende Chancen-Aufenthaltsrecht erfüllte. Bei der Sammelabschiebung von Frankfurt nach Islamabad am 12. Januar waren 45 Menschen pakistanischer Herkunft an Bord, von denen viele laut Angaben von Aktivistinnen gut integriert waren. Pakistan stand bereits im vergangenen Jahr mit 513 Abschiebungen weit oben auf der Liste der Länder, in die Schutzsuchende von Deutschland aus besonders häufig abgeschoben werden.

Meldungen über bereits erfolgte oder drohende Abschiebungen erreichen PRO ASYL aus allen Bundesländern, so auch aus Hessen: In Darmstadt sitzt derzeit eine Frau in Abschiebehaft, die vor ihrem gewalttätigen Ex-Ehemann aus Russland geflohen ist und bei ihrer Familie hier Zuflucht gefunden hat. Seit 2016 pflegt sie ihre schwerbehinderte Mutter; seit 2018 ist sie vom Amtsgericht Biedenkopf offiziell als Betreuerin bestellt. Am 28. Februar soll sie nach Russland abgeschoben werden und ist aus Protest dagegen in den Hungerstreik getreten.

Auch die Ampel-Regierung will Abschiebungen fortsetzen und intensivieren

Derartige Beispiele zeigen, dass viele Innenministerien der Bundesländer so weiter machen wie bisher – ungeachtet der Tatsache, dass die Ampel-Koalition in der Migrationspolitik neue Akzente setzen will. Die Zeichen stehen vielerorts weiterhin auf Abschottung und Misstrauen. Schutzsuchende werden auch unter der neuen Regierung in Deutschland nicht mit offenen Armen empfangen und bereits integrierte Geflüchtete weniger als neue Mitbürger*innen angesehen denn als Fremde, die man potentiell wieder loswerden will. Das liegt einerseits daran, dass viele flüchtlingspolitische Entscheidungen auf der Ebene der Bundesländer getroffen werden. Zuzuschreiben ist es aber auch der Tatsache, dass die Bundesregierung ihre angekündigte Rückführungsoffensive (also verstärkte Abschiebungen) höher zu gewichten scheint als die positiven Bleiberechtsregelungen. So sagte beispielsweise Finanzminister Christian Lindner am 9. Februar, die "Rückführung von Menschen ohne Aufenthaltsrecht [müsse] spürbar verbessert werden" – auch zu verstehen als Signal an die konservative Opposition, die der Ampel-Regierung häufig eine zu offene Haltung gegenüber Geflüchteten vorwirft. Es liegt nun an Innenministerin Nancy Faeser, dem etwas gegenüberzustellen und das Thema Bleiberecht zügig auf die politische Agenda zu setzen. Die Gesetze müssen schnell geändert werden, damit die Versprechungen der Ampel Realität in ganz Deutschland werden.

Dayo aus Benin hat Glück: Dank eines großen Unterstützernetzwerks ist seine Abschiebung, die für den 7. Februar angesetzt war, vorübergehend ausgesetzt, bis eine Härtefallkommission darüber entscheidet. Dies wird vermutlich am 24. Februar der Fall sein. Dass es jedoch drei Anwälte, zwei Beratungsstellen, den Flüchtlingsrat, engagierte Unterstützer*innen sowie den Einsatz von Politiker*innen wie Susi Möbbeck (SPD), Staatssekretärin im Sozialministerium des Landes,  braucht, um jemandem zu seinem Recht zu verhelfen, ist eine untragbare Situation.
Es muss verhindert werden, dass noch weitere Menschen, die offenkundig die Voraussetzungen für die kommenden Bleiberechtsregelungen erfüllen, abgeschoben werden. Vorgriffsregelungen mögen sich sperrig-juristisch anhören – doch die Zukunft vieler Menschen, die hoffen, sich dauerhaft ein Leben in Deutschland aufbauen zu dürfen, hängt von solchen Regelungen ab.

Die neuen Regelungen im Einzelnen

Gut integrierte Jugendliche sollen nach § 25a AufenthG künftig bereits nach drei anstatt wie bislang erst nach vier Jahren geduldeten Aufenthalts in Deutschland ein Bleiberecht erhalten können und den diesbezüglichen Antrag bis zum Abschluss des 27. anstatt wie bisher nur bis zum Abschluss des 21. Lebensjahres stellen können.

Besondere Integrationsleistungen Geduldeter sollen im Rahmen des § 25b AufenthG dadurch gewürdigt werden, dass diesen in Zukunft bereits nach sechs anstatt wie aktuell noch nach acht Jahren ein Bleiberecht zu Teil werden soll. Personen mit minderjährigen ledigen Kindern sollen das Bleiberecht nach dieser Vorschrift künftig schon nach vier statt wie bisher erst nach sechs Jahren erwerben können.

Das neu zu schaffende Chancen-Aufenthaltsrecht auf Probe soll für die Dauer eines Jahres gelten und Menschen, die nicht straffällig geworden sind und sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen, die Möglichkeit verschaffen, während dieser Zeit die Voraussetzungen für eine der oben genannten Bleiberechtsregelungen zu erfüllen wie beispielsweise die Identitätsklärung oder Lebensunterhaltssicherung.

Quelle: PRO ASYL - News vom 11.02.2022.

Veröffentlicht am

12. Februar 2022

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