Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Vielfalt der Beziehungen…

Von Katrin Warnatzsch - Soziale Friedensarbeit (aus: Lebenshaus Schwäbische Alb, Rundbrief Nr. 110, Sept. 2021 Der gesamte Rundbrief Nr. 110 kann hier heruntergeladen werden: PDF-Datei , 696 KB. Den gedruckten Rundbrief schicken wir Ihnen/Dir gerne kostenlos zu. Bitte einfach per Mail abonnieren )

Zwei junge Männer mit sehr unterschiedlichen Lebenswegen stehen mir jede Woche vor Augen. Stellvertretend für Viele erzählen sie hier einen Teil ihres Schicksals.

Der Eine ist geboren in einer Provinz, die seit mehr als 40 Jahren vom andauernden Krieg in Afghanistan gezeichnet ist. Was dies für alle dort lebenden Generationen bedeutet, kann ich nur ahnen.

Er erzählt: Ich bin in der Provinz B. im Dorf geboren. Es lebten ungefähr 20 Familien dort, also ungefähr 60 Menschen. Die Nachbardörfer waren eine Stunde zu Fuß entfernt. Es gab keinen Strom und keine befestigten Straßen, also auch keine Autos. In meinem Dorf und den umliegenden Dörfern lebten Hazara (drittgrößte, meist schiitische Ethnie in Afghanistan). In der Provinz B. lebten auch einige Tadschiken (sunnitisch). Mein Vater besaß zusammen mit seinem Bruder einen Bauernhof mit Tieren und Land für die Selbstversorgung, dort lebten wir. Aber die Dörfer wurden jedes von einem anderen Clan-Chef beherrscht. Es gab zwischen allen Dörfern häufig Streitigkeiten und auch bewaffnete Kämpfe.

Als ich 5 Jahre alt war, wurde mein Vater bei einem Kampf zwischen den Clans erschossen. Meine Mutter erzählte mir später, dass er sich geweigert hatte, sich einem der Clans anzuschließen.

Ich habe eine 3 Jahre ältere und eine vier Jahre jüngere Schwester. Nach dem Tod des Vaters wurde meine Mutter von ihrem Bruder nach Kabul geholt. Sie musste sich von uns Kindern trennen und ist wieder verheiratet. Meine beiden Schwestern und ich kamen in die Familie des Bruders meines Vaters. Der Bauernhof ging vollständig in den Besitz meines Onkels über, dafür bezahlte er die Beerdigung meines Vaters und musste für uns Kinder sorgen.

Es ging mir nach der Trennung von meiner Mutter sehr schlecht, ich war sehr traurig und hatte von diesem Zeitpunkt an oft Kopfschmerzen. Wir Geschwister wurden gegenüber den beiden Söhnen des Onkels benachteiligt. Ich musste dann für unser Essen auf anderen Bauernhöfen als Tagelöhner schwer arbeiten, das Geld bekam mein Onkel. Meine Schwestern und ich wurden regelmäßig schwer geschlagen.

In einem Winter ging ich für 3 Monate in eine kleine Koran-Schule, um arabisch den Koran zu beten. Das war mein einziger Kontakt mit einer Art Unterricht in meiner Kindheit. Lesen, Schreiben oder Rechnen in meiner Muttersprache wurde mir nicht beigebracht.

Als ich achteinhalb Jahre alt war, floh ich wegen der unerträglichen Behandlung aus der Familie meines Onkels nach Kabul. Ich nahm keinerlei Dinge mit. Ich ließ mich von einem Transporter mitnehmen, der Schafe geladen hatte und sie nach Kabul brachte. Ich ging dem Fahrer zur Hand, er gab mir etwas Geld und ein paar Informationen über die Stadt Kabul.

Ich suchte meine Mutter in Kabul - und fand sie auch wirklich! Aber der Mann meiner Mutter akzeptierte mich nicht und verwies mich aus dem Haus. Meine Mutter und ich waren sehr traurig und mussten uns weinend verabschieden. Mit achteinhalb Jahren habe ich meine Mutter zum letzten Mal gesehen. Einige Zeit wohnte ich dann beim Bruder meiner Mutter.

Dann musste ich in Kabul Arbeit suchen, um zu überleben. Ich fand in einer kleinen Brotbäckerei eine Arbeit, dort musste ich vor allem nachts den Teig für Brot vorbereiten. Ich konnte dort auf dem Boden schlafen. Tagsüber verkaufte ich Brot und hielt alles sauber. Das wurde für lange Zeit mein Zuhause. In einer Nacht wurde ich aber überfallen, weil fremde Männer mich in der Bäckerei entdeckten. Sie wollten mir Gewalt antun. Deswegen musste ich dann wieder eine andere Arbeitsstelle finden, in einer anderen Straße. Ich war noch nicht 10 Jahre alt.

Heute hat dieser junge Mann einen Ausbildungsvertrag in einem großen Lebensmittelkonzern in Deutschland bekommen. Aus eigener Kraft und mit Hilfe von persönlichen Unterstützenden lernte er deutsch und eignete sich das Wissen der Hauptschule an. Er ist bereit, seine immer wieder die Gesundheit gefährdenden depressiven Phasen behandeln zu lassen. Voller Optimismus geht er in seine Zukunft, obgleich die deutschen Benotungssysteme und Anforderungen nicht einfach zu ertragen sind und seine Selbsteinschätzung natürlich auch durch seinen bisherigen Lebensweg geprägt ist.

Direkt verantwortlicher "Ernährer"

Der andere junge Mann ist heute 22 Jahre alt. Seit Februar 2016 lebt er in Deutschland, seine Mutter musste er mit drei jüngeren Geschwistern in einer afghanischen Großstadt zurücklassen.

Zwei ältere Brüder waren dort inhaftiert worden und sollten für unbekannte Zeit nicht entlassen werden. Sie konnten also nichts zum Familieneinkommen beitragen.

Er besuchte seinen nächstälteren Bruder regelmäßig im Gefängnis und brachte ihm Essen mit, das seine Mutter gekocht hatte. Sie redeten dort auch über die Verantwortung, die sie als Männer für die Familie zu tragen hatten.

Eine Schule konnte er als Kind in seiner Heimat nie besuchen, es war immer Krieg und keine Möglichkeit, zur Schule zu gehen. Auch sprach er einen eigenen Dialekt, weswegen er oft erkennbar isoliert wurde.

Zu seinem Vater hatte er ein enges Verhältnis. Dieser brachte ihm von klein auf bei, ihn nach der anstrengenden Arbeit zu massieren. Der junge Mann entwickelte diese Fertigkeit mit großem Geschick, erzählt aber auch, dass er dabei üblicherweise immer auf dem Boden hocken musste. Anschließend seien die Rückenschmerzen seines Vaters sozusagen auf ihn übergegangen.

Schon als Kind übte er sich im Ringen, lernte Schwimmen und interessierte sich für Kanarienvogelzucht. Seine Brüder und der Vater waren ebenfalls sehr sportlich. Er besuchte ebenfalls für wenige Monate eine Koran-Schule. Bis heute gibt ihm der Koran und das, was seine Familie ihm über die Religion sagte, Halt und er denkt viel darüber nach. Er steht der Gewaltanwendung kritisch gegenüber und sagt, dass seine Eltern keine Gewalt gegen ihre Kinder ausgeübt hätten. Bis heute bemüht er sich darum, seinen eigenen Weg herauszufinden, der für ihn passt. Zwingen lassen will er sich zu nichts… und das bewirkt, dass auf ihn eher autoritär wirkende Menschen (Arbeitgeber, Jobcenter…) ihn in die Flucht treiben oder er seine Zusammenarbeit verweigert. Die Konsequenzen muss er tragen…

Solange der Vater arbeitete, ging es der Familie verhältnismäßig gut und die Kinder waren nicht gezwungen, irgendeine Arbeit anzunehmen. Eine scheinbar relativ unbeschwerte Kindheit im Kriegsland.

Dann aber wurde der Vater erschossen, er war ein politisch aktiver Mann, der für die damalige Regierung arbeitete und zu den gefährdeten Personen gehörte.

Seine Mutter schickte ihren dritten Sohn nach der Ermordung des Vaters aus dem Land, da war er gerade 18 Jahre alt. Sie sagte, wenigstens er solle überleben.

Die älteren männlichen erwachsenen Familienmitglieder waren mit dem Tod bedroht worden. Inzwischen wurde der nächstältere Bruder auf offener Straße erschossen, nachdem er gerade 6 Monate aus der Haft entlassen worden war. Damit ist auch für die heranwachsenden Brüder zu rechnen. Für seine Schwester besteht noch immer die Gefahr, dass sie verschleppt und gegen ihren Willen an einen Kämpfer verheiratet werden könnte.

Die Mutter lehnte eine Wiederverheiratung an einen von ihrem Bruder ausgesuchten Mann ab. Sie habe ihren Mann sehr geliebt und sei eine starke Frau. Damit haben aber nun die zurückbleibende Mutter, zwei jüngere Brüder und eine Schwester keinerlei Einkommen und keine Versorgungssicherheit, denn es lebt kein volljähriger Mann mehr mit ihnen.

Ein kleiner Garten dient zum Anbau der nötigsten Lebensmittel. Die Armut und der tägliche Überlebenskampf sind eingezogen. Die bereits seit vielen Jahren schon in der gesamten Welt verstreut lebende, aus Afghanistan geflohene, Verwandtschaft überlässt die Familie sich selbst, da die Mutter sich nicht fügen wollte.

Der junge Mann ist nun der direkt verantwortliche "Ernährer". Wie soll das geschehen aus Deutschland, mit Hartz IV-Bezug? Zahlreiche Versuche, in einem Job Fuß zu fassen, sind bisher gescheitert. Er gibt nicht auf. Die eigenen Bedürfnisse stehen stets ganz hinten an: an Kleidung, Schuhen und schlechter Ernährung mit entsprechenden Folgen inzwischen leicht zu erkennen. Altersgemäße Wünsche werden ins Unendliche verschoben, quälend. Die tägliche Sorge um seine Familie kommt hinzu, auch angesichts der aktuellen Lage in Afghanistan. Auch Versuche, nach seinen Fähigkeiten und Begabungen einen beruflichen Lebensweg zu stricken, sind bisher gescheitert.

Aufbauendes: Projektgruppen-Treffen

Seit Beginn des Jahres haben Michael Schmid und ich uns zu einigen Gesprächen mit Julia Kramer getroffen, im Lebenshaus und auch in ihrer Wohnung in der Nähe von Metzingen. Julia ist seit Ende letzten Jahres wieder nach Süddeutschland gezogen, nachdem sie viele Jahre lang als Projektberaterin für Zivilen Friedensdienst bei der Kurve Wustrow im Wendland gearbeitet und gelebt hatte.

Vor über neun Jahren lernten wir Julia kennen, als sie einige Zeit im Lebenshaus wohnte und von hier aus Solidaritätsarbeit für Menschen im Sudan machte, wo sie zuvor als internationale Friedensfachkraft tätig gewesen war. Für ein halbes Jahr war Julia dann mit einem Midijob angestellt im Lebenshaus. Als sie eine lukrative Stelle bei der Kurve Wustrow erhalten konnte, brach sie ihre Zelte bei uns ab, blieb uns aber weiterhin verbunden.

Wir hatten Julia als sehr engagierte Frau kennengelernt und wollen nun gemeinsam mit ihr versuchen, eine weiterführende Zusammenarbeit für das Lebenshaus zu installieren.

Dazu ist es für Michael und mich wichtig, zu erkunden, wieweit wir eine gemeinsame oder ähnliche, tragende Haltung zu politischen Fragen haben oder entwickeln können. Seit Juni 2021 haben wir Julia als "Referentin für internationale Friedensfragen" mit einem Mini-Job angestellt. Glücklicherweise konnte sie zeitgleich in Reutlingen bei EPIZ (Entwicklungspolitisches Informationszentrum) eine Teilzeitstelle beginnen.

Anhand der Frage, was uns denn gemeinsam besonders bewegt und an der Tagesordnung ist, kamen wir auf den Gedanken, ein für das Lebenshaus wichtiges Motto näher zu beleuchten: "Eine andere Welt ist möglich…". Angesichts tiefer Krisen wie Klimakrise, Gefahr durch Atomwaffen und der internationalen sozialen Ungleichheit suchen wir nach Antworten auf die drängende Frage, wie die erforderliche Veränderung aussehen kann.

In intensiven Überlegungen entstand dann ein Plan für eine zunächst auf ein Jahr befristete Projektgruppe (siehe hierzu auch Artikel von Julia). In diesem Zeitraum wollen wir ungefähr acht verschiedene Vorschläge zur notwendigen Veränderung untersuchen, indem wir dazu lesen, das Erkannte zusammentragen und versuchen, uns eine Meinung dazu bilden, auch im Hinblick auf die Grundlagen und Aktivitäten des Lebenshauses.

Ab Juni begannen wir mit den monatlichen Treffen der Projektgruppe, zu der Axel Pfaff-Schneider, Julia Kramer, Michael Schmid und ich gehören. Julias Erfahrung mit strukturierter Gruppenarbeit kommt uns dabei sehr zugute.

In unseren langfristigen Überlegungen für die Zukunft des Lebenshauses nimmt der Wunsch nach engagierten Mitarbeitenden einen wichtigen Platz ein. Wir sind auf der Suche nun mit Julia an einem hoffnungsvollen Doppelpunkt!

Fußnoten

Veröffentlicht am

20. September 2021

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