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Afghanistan: Bitteres Ende

medico hat in den vergangenen 20 Jahren Partner:innen in Afghanistan unterstützt und immer wieder politisch interveniert. Ein Rückblick mit Thomas Gebauer.

Nachdem die USA in Afghanistan 2001 eine viele Tausend Menschenleben kostende Bombardierung durchgeführt hatten, veröffentlichte medico international gemeinsam mit dem Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik einen Aufruf zum sofortigen Ende des Krieges. Er liest sich heute prophetisch. Trotzdem hat sich medico von Anfang an ambitioniert an dem Prozess beteiligt, der in Afghanistan mit dem Sturz der Taliban eingesetzt hat. Wie und warum?

Sich für die Rechte von Menschen zu engagieren und dabei denen, die ihrer Verwirklichung im Wege stehen, entgegenzutreten, gehört zu den Grundsätzen von medico. Im Zuge der Kampagne zum Verbot von Landminen waren wir auch mit afghanischen Organisationen in Kontakt gekommen. Viele von ihnen verbanden mit der militärischen Intervention die Hoffnung, in ihrem Drängen auf Frieden und soziale Entwicklung Unterstützung zu finden. Wohl wissend, dass die von der NATO geführte ISAF-Mission andere Ziele verfolgte, sahen wir uns in der Pflicht, unseren Partner:innen in ihrem Kampf für nachhaltige Veränderung zur Seite zu stehen. Inmitten eines Krieges, den schon bald auch deutsche Politiker:innen nicht mit militärischen Mitteln für lösbar hielten, bemühten wir uns um das, was die Interventionsmächte in all den Jahren so sträflich vernachlässigten: um zivile Konfliktlösung.

Was waren für dich die entscheidenden Momente, an denen die Idee, dass es neben Intervention und Taliban-Herrschaft ein drittes, demokratisches Moment geben könnte, nicht mehr realistisch erschien?

Die Fehlentwicklung beginnt schon mit dem Beschluss des Bundestags zur Entsendung der Bundeswehr im Herbst 2001. Von "uneingeschränkter Solidarität" mit den USA war damals die Rede, nicht aber von Solidarität mit der afghanischen Bevölkerung. Die kam erst ins Spiel, als der Militäreinsatz öffentlich gerechtfertigt werden musste. Als auf dem Petersberg bei Bonn Ende November 2001 über die Zukunft Afghanistans verhandelt wurde, saßen nicht die Vertreter:innen der afghanischen Zivilgesellschaft am Tisch, sondern viele der Kriegsfürsten, denen die Interventionsmächte große Teile des gesellschaftlichen Aufbaus überließen. Um rasch für Stabilität zu sorgen, wurde die Macht der Warlords nicht gebrochen, sondern noch vergrößert. Die Vorstellung aber, mit notorischen Menschenrechtsverbrechern und korrupten Politikern ein funktionierendes Staatswesen aufbauen zu können, ist absurd. Weil gleich zu Beginn die Chance auf Frieden verpasst wurde, konnte in Afghanistan nichts gut werden.

Was waren die größten Fehler und worin bestand der Selbstbetrug des deutschen Einsatzes, der sich ja immer als entwicklungspolitischer Militäreinsatz verstand?

Der Fehler war letztlich, dass es keine Strategie für eine zivile Konfliktlösung gab. Auch das deutsche Engagement wurde von militärischer Logik dominiert. Ja, es gab das ernsthafte Bemühen einiger Soldat:innen, der afghanischen Bevölkerung etwa bei Verbesserung der Wasserversorgung zur Seite zu stehen. In den Field Manuals der Militärführungen aber werden solche Aktivitäten als Maßnahmen zur Verbesserung des Schutzes der entsandten Truppen beschrieben, als Force Protection. Unverblümt beschreibt der "Commanders’ Guide to Money as a Weapons System" der US-Armee Hilfe als eine "nichttödliche Waffe", die gezielt einzusetzen sei, um den Kampf gegen Aufständische zu effektivieren. Eine paradoxe Umkehrung dessen, was vermutlich viele Soldat:innen und auch große Teile der deutschen Öffentlichkeit glaubten, wird hier deutlich: Der Militäreinsatz diente nicht dazu, ein sicheres Umfeld für den Wiederaufbau zu schaffen, vielmehr waren es die zivilen Maßnahmen, die zur Absicherung der entsandten Militärs beitrugen.

Wie hätte eine angemessene Strategie aussehen müssen?

Man hätte überlegen müssen, wie die wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans in Gang gesetzt werden könnte. Das Gegenteil war der Fall. Mit neoliberaler Gründlichkeit wurden noch die letzten Reste einer eigenständigen Ökonomie, die kleinen Handwerksbetriebe, die Nahrungsmittelproduktion etc. zerstört - mit dem traurigen Ergebnis, dass neben einer vorübergehenden Immobilienspekulation allein die Drogenwirtschaft reüssierte. Sie wurde zu einem das gesamte öffentliche Leben bestimmenden Faktor. Unter Aufsicht der NATO entstand eine Schattenwirtschaft, aus der heraus der Krieg immer wieder angefeuert wurde. Vorrang für zivil hätte bedeutet, diese Schattenwirtschaft z.B. durch die Subventionierung des Weizenanbaus zu durchbrechen. Aber schon die Einrichtung einer Handelskammer, wie sie die deutsche Entwicklungshilfe betrieben hat, galt den USA als Ausweis sozialistischer Umtriebe.

In Afghanistan waren viele deutsche Hilfsorganisationen tätig. Sie haben viele staatliche Mittel bekommen, so auch medico. Waren diese Arbeiten letztlich nichts weiter als eine in den Krieg gegen den Terror eingebettete Hilfe?

Es gab das Bemühen der Militärs, die Arbeit der Hilfsorganisationen zu instrumentalisieren. Und manche waren regelrecht stolz, mit der Bundeswehr kooperieren zu können. Die meisten aber pochten auf Unabhängigkeit und darauf, nicht den sicherheitspolitischen Interessen der Interventionsmächte zu dienen, sondern Afghan:innen in ihrem Drängen auf Demokratisierung und soziale Entwicklung beizustehen. Dank der Minenräumprogramme, die medico förderte, konnte die Zahl ziviler Minenopfer drastisch reduziert werden. Auch die psychotherapeutische Betreuung von Kriegsopfern und ihren Angehörigen war dringend geboten. Wir halfen beim Aufbau eines Archivs, in dem Kriegsverbrechen dokumentiert wurden und zugleich Ideen für ein freies Afghanistan entfaltet werden konnten. Und in all den Jahren ließen wir auch in Deutschland nicht locker, stritten mit den Beamt:innen des Auswärtigen Amtes, verlangten einen Strategiewechsel zu wirtschaftlichen und sozialen Hilfen und drangen auf ein realistisches Bild in den Medien, von denen nicht wenige ihrerseits Opfer des Selbstbetrugs geworden waren. Nicht unsere Kritik war falsch; falsch war, dass sie nicht gehört wurde.

Der Afghanistan-Krieg markierte den Beginn des "Kriegs gegen den Terror". Was sind aus afghanischer und globaler Sicht die Folgen dieser militarisierten Politik, die in der Praxis zu Ende sein mag, sich aber vielleicht im Denken des Westens fortsetzt?

Noch ist es zu früh, um abschließend sagen zu können, ob aus dem Scheitern in Afghanistan angemessene Lehren gezogen werden. Seit vielen Jahren fordern wir eine unabhängige Evaluierung des Afghanistan-Einsatzes. Und die müsste sich auch mit der Frage nach den Ursachen des Terrors beschäftigen. Der Terror, gegen den Krieg geführt wurde, ist ja nicht einfach vom Himmel gefallen. Gewaltforscher:innen haben längst schlüssig dargelegt, dass es der Mangel ist, der Menschen dafür anfällig macht, sich gewalttätigen Gruppen anzuschließen, der Mangel an materiellen Ressourcen, aber auch an Anerkennung, an tragfähigen Perspektiven für das eigene Leben. Mit der neoliberalen Umgestaltung der Welt hat sich die soziale Verunsicherung von Menschen noch einmal dramatisch verschärft. Opfer seien unvermeidbar, hieß es zu Beginn der 1990er-Jahre, und damit auch die Zunahme bürgerkriegsähnlicher Konflikte. In der Entwicklungszusammenarbeit spiegelte sich der neoliberale Turn in einem bemerkenswerten Strategiewechsel. Fortan war nicht mehr die Schaffung sozialer Gerechtigkeit vorrangiges Ziel, sondern Sicherheit. Die Vorstellung aber, dass Entwicklung nur dort gelingen kann, wo zunächst mit militärisch-polizeilichen Mitteln für Sicherheit gesorgt wurde, ist kompletter Unsinn. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn es mit dem friedlichen Zusammenleben der Menschen noch etwas werden soll, bedarf es nicht weiterer Weltordnungskriege, sondern die Schaffung von globalen Institutionen, die über die Grenzen hinweg für Ausgleich sorgen. Würde diese Lehre aus dem Scheitern in Afghanistan gezogen, könnte auch die Einsicht wachsen, wie fatal es ist, Menschen im Süden den Zugang zu Impfstoffen zu verweigern.

Quelle: medico international - 20.09.2021. Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2021.

Veröffentlicht am

23. September 2021

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