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Afghanistan: Mut zur Demut

Im Sound der meisten deutschen Politiker dominiert das Maßregeln, Verdammen, Verurteilen. Ein Schuldbekenntnis wäre jedoch das Mindeste

Von Lutz Herden

Denk ich an Afghanistan, belagern mich standardisierte Vorurteile. Ich bin gehalten, dem Stereotyp von einem Rückfall in die Steinzeit zu folgen, die Taliban als vormoderne Barbaren zu schmähen, ihre Versöhnungsangebote zu bezweifeln und über ihre Rachsucht zu spekulieren, viel über westliches Versagen zu meditieren, weniger die unermessliche Schuld zu benennen, die ein 20 Jahre währendes Besatzungsregime am Hindukusch auf sich geladen hat. Ich fühle mich gedrängt, die Luftbrücke aus Kabul für eine humanitäre Großtat zu halten, statt zu klären, ob hier eine Ersatzhandlung stattfindet, die den Totalausstieg von USA und NATO wie den Totalausfall der bisherigen Regierungsarmee kompensieren soll. Auch wäre es vermutlich ein Sakrileg, der Frage nachzugehen, inwieweit die faktische Besetzung des Flughafens die Souveränität Afghanistans missachtet und tödliche Risiken für Tausende von Fluchtwilligen heraufbeschwört. Eine Sicherheitspartnerschaft mit den Taliban ist das Mindeste, was gebraucht wird, ob sie dadurch anerkannt werden oder nicht. Alles andere facht einen Tornado des Wahnsinns an, mit dem sich die beteiligten westlichen Staaten in die nächste Falle manövrieren. Nur eine konzertierte Aktion kann den Airport befrieden und Menschenleben retten.

Statt die Taliban dafür zu gewinnen, werden sie mit Sanktionen belegt, ohne auch nur einen Tag wirklich regiert zu haben. Das US-Finanzministerium maßt sich an, die Devisenbestände der Afghanischen Nationalbank von sieben Milliarden Dollar zu blockieren, der IWF storniert bereits zugesagte Liquiditätshilfen, der deutsche Außenminister verkündet, kein Cent an staatlichen Hilfsgeldern dürfe mehr fließen, sollte in Kabul ein Emirat ausgerufen werden. Was an das Verdikt der USA nach ihrem Abzug aus Südvietnam 1972/73 erinnert: Keinen Cent für den Wiederaufbau, sollten die Kommunisten aus dem Norden im Süden ein sozialistisches Regime ausrufen. Die Botschaft damals wie jetzt: Wir hinterlassen euch einen Scherbenhaufen und werden es als euer Unvermögen geißeln, solltet ihr daran scheitern. Wer ist da eigentlich rachsüchtig?

Lauscht man dem Afghanistan-Sound der meisten deutschen Politiker und Medien, dominiert die Devise: Wir können die Barbaren nicht mehr wie gewünscht zur Räson bringen, aber das Maßregeln, Verdammen und Verurteilen – dieses Repertoire der Vergeltung (wofür?) bleibt uns allemal. Außenminister Heiko Maas kann darauf vertrauen, dem Objekt seiner Strafsucht nicht direkt zu begegnen, das nähme ihm womöglich jene Unwissenheit, auf die sein Lagebild angewiesen ist. Allein in der Floskel vom "Versagen des Westens" ballt sich Lüge. Der hat nicht versagt, sondern sich gezeigt und eine durch Militärmacht betriebene Fremdbestimmung ausgereizt, bis der Aufwand zu hoch wurde und die Führungsmacht genug hatte. Warum wollte die Nationalarmee nicht für den vom Westen geschaffenen Staat kämpfen? Weil es der ihre nicht war?

Schon wieder wird allzu viel Deutungsmacht reklamiert, was die Beteuerung konterkariert, es würden Lehren aus einer Niederlage gezogen. Was fehlt, ist der Mut zur Demut und zum Bekennen von Schuld, die eine Bringschuld für Afghanistans Wiederaufbau einschließt, für ein vom Krieg gezeichnetes, wirtschaftlich angeschlagenes Land. Diese Konsequenz wäre das Mindeste, um einem Volk Abbitte zu leisten. Wird darauf verzichtet, wäre Heinrich Heine einmal mehr im Recht. "Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht."

Quelle: der FREITAG vom 27.08.2021. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

27. August 2021

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