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Vorauseilende Gleichschaltung

Die Zensurpraxis des Börsenblattes und der "Fall Grelling" (Teil II und Schluss)

Von Helmut Donat

Die Ablehnung des Inserates von Georg Friedrich Nicolais Schrift "Sechs Tatsachen als Grundlage zur Beurteilung der heutigen Machtpolitik" (1919) war begleitet von einer Hetze der Alldeutschen Blätter gegen den Freien Verlag und Hugo Ball, seinen literarischen Leiter. Nicht besser erging es einem weiteren bedeutenden Kritiker der kaiserlichen Kriegsverursachung und -politik, der ebenfalls 1919 ins Fadenkreuz der "Zentralstelle des deutschen Buchhandels" geriet. Es handelt sich um Richard Grelling, wie Nicolai eine herausragende Persönlichkeit im Kampf gegen das nationalistisch-militaristische Deutschland vor und während des Ersten Weltkrieges sowie in den Jahren danach. Grelling ist seit 1915 bis zu seinem Tode im Jahre 1929 der deutschland- und weltweit beste Kenner der Julikrise und Kriegsschuldfrage 1914 gewesen.

Friedensworte

1853 in Berlin geboren, hing er den Idealen des demokratischen Bürgertums an. Zunächst trat er als Autor sozialer Dramen und Mitbegründer der "Literarischen Gesellschaft" der Hauptstadt hervor. Am Gelingen der Gründung der "Deutschen Friedensgesellschaft" (DFG) 1892 hatte er neben Bertha von Suttner und Alfred Hermann Fried wesentlichen Anteil. Als Vizepräsident der DFG warnte er in seiner vielbeachteten Schrift "Quousque tandem! Ein Friedenswort" (1894) vor den Folgen ständiger Rüstung und forderte deren allgemeinen Stopp; zugleich warb er für eine internationale Schiedsgerichtsbarkeit. Vor der Jahrhundertwende gab er seine politisch-publizistische Tätigkeit auf. Um 1903 erwarb er ein Landgut bei Florenz.

Aus der Idylle eines abgeschiedenen Daseins im Juli/August 1914 aufgeschreckt, erkannte Grelling, dass das Kaiserreich keinen Verteidigungs-, sondern einen Eroberungskrieg führte. Von August bis Oktober 1914 in Berlin, entschloss er sich, gedrängt von führenden Sozialdemokraten wie Eduard Bernstein, Hugo Haase und Karl Kautsky, seine persönliche Freiheit im Ausland zu nutzen, um dem deutschen Volk die Verantwortung des Führungspersonals der Reichsleitung für den Weltkrieg zu enthüllen. Seine Anfang 1915 in der Schweiz publizierte Anklageschrift "J’accuse!" (Ich klage an!), rasch in zahlreiche Sprachen übersetzt, wurde ein Welterfolg. Mit seinem Werk prägte er im und nach dem Ersten Weltkrieg die Haltung großer Teile der Friedensbewegung und ihr nahestehende linksoppositionelle Kreise. Im Kaiserreich verboten die Militär- und Zensurbehörden das Buch; Grelling sah sich "als bezahlter Soldschreiber des Feindbundes" diffamiert. Tatsache war jedoch, dass er für einen Großteil der Druck- und Herstellungskosten seines "J’accuse!" selbst aufkommen musste. Im Mai 1918 klagte ihn der Oberreichsanwalt in Abwesenheit wegen versuchten "Landesverrats" an. Seit 1915 war er in der Schweiz als Vertreter der deutschen Emigranten tätig und klagte in der Freien Zeitung die deutsche und österreichische Schuld am Weltkrieg weiterhin als Verbrechen an. Als Grelling im November 1918, inzwischen Mitglied der USPD, Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann seine Dienste anbot, ließen diese ihn ins Leere laufen. Auch der Parlamentarische Untersuchungsausschuss, zur Prüfung der Kriegsschuld eingesetzt, lehnte den Verfasser des Buches "J’accuse!" und weiterer Publikationen als Sachverständigen ab. Rudolf Breitscheid, ebenfalls ein Gegner der Kriegspolitik und 1918/19 preußischer Innenminister, stellte dazu fest: "So bleibt auch hier nichts anderes als die Furcht vor einem Mann, der die wilhelminische Regierung belasten könnte, und diese Belastung wünschen die Männer an der Spitze der Republik und wünschen die Vertreter der in der Nationalversammlung maßgebenden Parteien nicht, weil sie den Nachweis ihrer eigenen Mitschuld vermeiden möchten."

In der Weimarer Republik boykottiert, fand Grelling für große Werke keinen Verleger. So veröffentlichte er zwei seiner Manuskripte in Paris, gefördert von der angesehenen "Société de l’histoire de la guerre" ("La Campagne innocentiste en Allemagne", 1925, und "Comment la Wilhelmstraße écrivait l’histoire pendant la guerre", 1928). Die NS-Propaganda warf ihm Fälschungen von "talmudischer Gerissenheit" vor. Um so eindringlicher warnte er vor der weitverbreiteten Unschuldspropaganda: Der preußisch-deutschen Machtpolitik vor 1914 verbunden, bewirke sie faktisch den Untergang der Republik und stelle sie die tiefere Ursache für einen erneut von Deutschland entfachten Weltkrieg dar. In "Videant consules … oder die Gefahren der Unschuldskampagne" (1926) forderte er, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten.

Deutlich erkannte auch der Publizist und Pazifist Hellmut von Gerlach, wie sich vor allem auf dem Boden des Kampfes gegen die angebliche "Kriegsschuldlüge" der völkische und faschistische Ungeist ausbreitete. Scharfsinnig schrieb er in dem Artikel "Grelling und Hitler" im September 1932 in Friedrich Wilhelms Foersters Halbmonatsschrift Die Zeit: "Nie wäre Hitler der Machtfaktor geworden, der er heute ist, wenn die Republik 1918 den Schnitt mit der Vergangenheit vollzogen hätte (…). Die deutschen republikanischen Machthaber aber zogen nicht den Strich zwischen sich und den Verantwortlichen von 1914, wohl aber zwischen sich und den paar Deutschen, die seit 1914 im Kampf gegen die kaiserliche Kriegspolitik standen. Statt die Wahrheit über die Ursachen des Kriegsausbruchs in den breitesten Schichten des Volkes zu verbreiten, ließen sie die Unschuldskampagne der Nationalisten die Massen vergiften. Sie säten nicht die Wahrheit. Darum konnte Hitler die Früchte der Unwahrheit ernten." Nach der NS-Machtergreifung landeten "J’accuse!" und Grellings Werke auf den Scheiterhaufen der Bücherverbrennung.

Der lange Arm der Reaktion

Am 30. September 1919 teilte die Redaktion des Börsenblattes dem Berliner Verlag Neues Vaterland mit, das Inserat zu dem Buch "J’accuse!" nicht "veröffentlichen zu können, da es sich um ein verbotenes Werk handelt. Das Buch wird ferner als schwere Schädigung des deutschen Ansehens betrachtet, und (so) bedauern wir auch aus diesem Grunde, von einer Veröffentlichung Abstand nehmen zu müssen." Die Entscheidung des Börsenblattes war ein erneuter Schlag ins Gesicht aller kriegsoppositioneller Deutscher. Ihrem Bemühen, das deutsche Volk über die Schuld der verantwortlichen Politiker und Militärs am und im Weltkrieg aufzuklären, schob das Blatt einen Riegel vor. Doch verstand sich die Börsenblatt-Redaktion nicht einfach nur als eigenständige politische Zensurinstanz. Vielmehr stützte sie sich bei ihrer Entscheidung auf die Zustimmung, so ihre Erklärung, "übergeordneter Stellen" in Berlin.

Bereits im Januar 1919 sah sich der Leipziger Vertreter des Berner Freien Verlags infolge eines amtlichen Zirkulars genötigt, bei der Deutschen Botschaft in Bern Protest einzulegen, ohne dass dabei etwas herauskam. Nun, so mutmaßte die Freie Presse, verstehe sich die Redaktion des Buchhändler-Börsenblattes "wohl ebenfalls nicht ohne höhere Ermutigung" als Zensurstelle, indem es "ganz im Sinne der Monarchisten, für die sich ja durch die Revolution nichts geändert hat, ein Buch für ›verboten‹ und für ›eine schwere Schädigung des deutschen Ansehens im Auslande‹" erkläre. Vielmehr sei das Gegenteil der Fall. Denn die tatsächliche Wirkung von Grellings "J’accuse!" bestehe darin, "durch Verbreitung der Wahrheit über die Urheberschaft an der Weltkatastrophe sehr erheblich zur Ehrenrettung des deutschen Volkes beigetragen zu haben. So ist noch heute die Mentalität der offiziellen Vertretung des Buchhandels beschaffen, oder darf man vielmehr sagen: So stark ist der Wink militärischer Stellen in der angeblichen Revolutionsregierung? (…) Ein neues Zeichen aber auch, wie weit der Arm der preußischen Reaktion reicht!"

Verteidiger des Naturalismus

Die Haltung des Börsenblatts stellt sich im "Fall Grelling" als besonders infam dar, hatte doch der Börsenverein ihm viel zu verdanken. Als Rechtsanwalt und Syndikus des "Deutschen Schriftstellerverbandes" verteidigte er den literarischen Naturalismus 1893 vor Gericht und erstritt die Aufhebung des Verbots der Aufführung von Gerhart Hauptmanns Theaterstück "Die Weber". Als es im "Deutschen Theater" in Berlin im Jahr darauf zum ersten Mal gespielt wurde, ließ Kaiser Wilhelm II. demonstrativ seinen Logenplatz kündigen. In diesen Jahren vertrat Grelling als Anwalt die Interessen deutscher Schriftsteller gegen obrigkeitsstaatliche Bevormundung und Zensur. Ein Vierteljahrhundert später musste er ohnmächtig zusehen, wie er mit den gleichen Methoden mundtot gemacht werden sollte. Der Hass auf ihn war so groß, dass die Wut, wenn sein Name fiel, keine Grenzen kannte.

Nicht den Krieg machten die Deutschen verantwortlich für das soziale Elend und den Verlust ihrer Großmachtstellung von 1914, sondern sie erklärten - und viele tun das auch heute noch - die Folgen des Krieges, den Frieden von Versailles, zur Wurzel allen Übels. "Lange konnten wir uns", heißt es in der Neuen Schweizer Zeitung am 10. Oktober 1919, "nicht erklären, weshalb die akkreditierten deutschen Propagandablätter und Propagandaschreiber in der Schweiz ihre Tätigkeit mit Kriegsschluss nicht einstellten; heute liegt des Rätsels Lösung vor uns. Bald wird die systematische Ideenvergiftung und Verfälschung in der deutschen Schweiz wieder einsetzen, deren unheilvolle Folgen viele von uns vielleicht schon vergessen haben."

Militaristische Schmöker

Am 18. Oktober 1920 veröffentlichte das Börsenblatt das Inserat "Mit Russland gegen Frankreich!" des in Naumburg an der Saale ansässigen Verlag Carl August Tancré. Aufgrund der einige Wochen zuvor im Börsenblatt geschalteten Voranzeige waren nach eigener Aussage noch vor dem Druck der ersten Auflage an die 5.000 Bestellungen eingegangen. Im selben Verlag erschien 1919 von Otto Autenrieth der Titel "Die drei kommenden Kriege - Englands Auseinandersetzung mit seinen Brüdern von der Entente". Es handelte sich um eine Prophezeiung, die "Deutschlands Aufstieg in den kommenden Wirren" thematisierte und 1921 ins 220. Tausend ging. Im Münchner Verlag Heimatland publizierte Autenrieth zudem eine nationalistisch-bolschewistische Variante. Das Buch mit dem bezeichnenden Titel "Bismarck II. - Roman der deutschen Zukunft" knüpft an den Bismarck-Kult an. Die Geschichte dreht sich um den Aufstieg des Barons Otto von Fels, der, durchdrungen von Gefühlen der Solidarität mit dem deutschen Volk, ein Mädchen aus der Arbeiterklasse heiratet. Als eine Art Wiedergeburt Götz von Berlichingens steigt er zu einem Volksredner auf, wird sogar mit dem Kommando der Roten Armee betraut. Mit ihr und mit Hilfe der Russen riskiert er einen wagemutigen Streik gegen die französischen Besatzungstruppen. Nach seinem Erfolg sieht man in ihm einen "Führer", macht ihn zum völkischen Diktator und zu Bismarck II. Es gelingt ihm, die norddeutschen Kommunisten und süddeutschen Nationalisten zu einer neuen, mächtigen Partei, der "Wiederaufbaupartei", zu vereinen. Danach treibt er, erneut von der Sowjetunion unterstützt, Deutschlands Wiederbewaffnung voran. Am Ende befehligt er die stärkste Militärmacht in Europa. Mit ihr liquidiert er Polen, besiegt Frankreich und erlangt die Weltherrschaft. Von seinem Erfolg überwältigt, tragen ihm die Deutschen die Kaiserkrone an, aber Otto weist die Krone zurück und bittet, sie später seinem Sohn anzubieten. Der Roman folgt Bismarcks Motto "Macht geht vor Recht", ist kriegsverherrlichend und volksverhetzend.

Ausgrenzung und Boykott

Nicht nur die Zentrale des Buchhandels, sondern der Buchhandel selbst beteiligte sich daran, der Leserschaft unerwünschtes Schrifttum vorzuenthalten. G. F. Nicolai schrieb 1919 dazu: "Auch in den Buchhandlungen sieht man dieselben chauvinistischen Bücher wie gestern." Nach Auffassung der pazifistischen Zeitschrift Die Menschheit stellten sie das "stärkste Bollwerk des alten Geistes" dar. So hielt zum Beispiel der "bekannte deutsche Buchhändler einer Universitätsstadt Mitteldeutschlands" gegenüber dem Ludwigsburger Verlag "Friede durch Recht" nicht mit seiner Meinung hinter dem Berg und warf ihm vor: "Sie leisten verschiedenen guten Schriftstellern entschieden einen schlechten Dienst, wenn Sie diese auf eine Liste mit Hellmut von Gerlach, (Erich) Kuttner, (G. F.) Nicolai, Rosa Luxemburg, (Matthias) Erzberger, (Maximilian) Harden, Richard Grelling und anderen setzen. Wenn sich deutsche Buchhändler für diese Art politischer Richtung nicht einsetzen, so stellen sie diesen nur ein gutes Zeugnis aus."

An der Ausgrenzung von als "undeutsch" empfundener oder stigmatisierter Literatur beteiligte sich auch die damals schon größte süddeutsche Buchhändlerfirma Koch, Neff und Oetinger (Stuttgart). In einem Schreiben an den pazifistisch-republikanischen Verlag "Friede durch Recht" lehnte sie es im Zeichen des Kampfes gegen die Kriegsschuldlüge und den Versailler Vertrag ab, dessen Publikationen weiter im Sortiment zu führen, und erklärte: "Aus verschiedenen Gründen sehen wir uns veranlasst, dass wir die im vorigen Jahre übernommene buchhändlerische Vertretung Ihrer Firma bzw. den Vertrieb der in Ihrem Verlag erschienenen pazifistischen Bücher nicht weiter besorgen können, weil unsere Firma, die in nationalen Dingen eine andere Auffassung wie Sie vertritt, nicht mit Ihren Bestrebungen länger identifiziert sein möchte."

Dass sich gegen den Ausgrenzungs- und Boykottbeschluss des Sortimenters unter den Buchhändlern kein nennenswerter Widerstand regte, verdeutlicht, wie auch sie es in ihrer großen Mehrheit nicht für nötig hielten, auch nur einen Deut von ihrer weitgehend kaisertreu-militaristischen Einstellung abzurücken. Ein Verlag, der sich für das Gegenteil engagierte, stand auf verlorenem Posten. Im Grunde genommen orientierte sich die Haltung zahlreicher Vertreter des deutschen Buchhandels an der Gesinnung, die sie in den Jahren vor und nach 1914 an den Tag gelegt hatten.

Revanche als Programm

Was stand hinter dem Anspruch der Zentrale des Börsenvereins, des Stuttgarter Großsortimenters und der vielen Buchhändler, den "deutschen Geist" zu vertreten? Da ist zunächst ihr Unterstellen von Böswilligkeit. Pazifisten und Republikaner galten ihnen als ärgste Feinde, stets bereit, dem deutschen Volk zu schaden, es zu vernichten und in den Untergang zu treiben. Das gehörte zum festen Bestandteil ihres Denkens über ihre Gegner. Das "Vaterland" und der Staat, den sie zu repräsentieren beanspruchten, waren identisch. Wer nicht für ihren Standpunkt eintrat oder sich ihnen in den Weg stellte, betrieb die Geschäfte des Auslands und der Feinde. Wer so spricht und handelt, erwartet, dass man sich ihm unterwirft, und fordert mit unnachgiebiger Härte und großer Selbstverständlichkeit, ihm zu folgen. Wehe dem, der Einwände gegen jenes "Deutschtum" erhebt, das nur seine Interessen und seine Leiden kennt und gelten lässt! Man fühlt sich nicht von ungefähr an die AfD erinnert.

Im Unterschied zu den Frauen und Männern, die sich im Einklang mit den übernationalen und aufklärerischen Traditionen des vorbismarckschen Deutschland befanden und sich wie Grelling, Nicolai oder Foerster für eine Neuorientierung der Politik auf dieser Grundlage aussprachen, hielten die selbsternannten Sachwalter deutschen Geistes weiterhin an ihren Vorurteilen und ihrem Hochmut fest. Kritik am kaiserlichen System oder gar an sich selbst war ihnen verpönt. Vielmehr verschwiegen und deckten sie alle von 1914 bis 1918 begangenen Verbrechen. Umso mehr und besser ließ sich auf die "bösen Feinde" einschlagen. Dahinter stand unübersehbar das Programm der nationalen Kreise in Deutschland. Sie wollten die Revanche und nicht den Frieden von Versailles, sie wollten den "deutschen Frieden", das heißt die Herrschaft über den Kontinent und die Welt. Unrecht gab und gibt es in diesem Denksystem nicht.

Die Leitung des Börsenblattes lehnte nicht nur die Anzeigen von Verlegern pazifistischer Literatur ab, wozu auch Heinrich Wandts "Etappe Gent" gehörte - im Wesentlichen eine Sammlung von Erlebnissen und Skandalgeschichten, mit denen der Autor zahlreiche namentlich angeführte deutsche Offiziere als Menschenschinder, Feiglinge, Säufer, Fresser und Hurenböcke bloßstellte. Selbst dem Verleger Paul Steegemann in Hannover, der in seiner spätexpressionistisch-dadaistischen Reihe "Die Silbergäule" unter anderem Autoren herausbrachte wie Hans Arp, Franz Blei, Kasimir Edschmid, Richard Hülsenbeck, Klabund, Rudolf Leonhard, Hans Reimann, Kurt Schwitters, Walter Serner und Heinrich Vogeler, verweigerte die Redaktion des Börsenblattes die Ankündigung einiger seiner Verlagserzeugnisse und bevormundete damit erneut die Buchhändler und Leserschaft.

Rechtes Gruselkabinett

Viele weitere Beispiele der politischen Parteinahme, Verletzung der Meinungsfreiheit und Behinderung pazifistisch-republikanischer Verlage und Autoren ließen sich aus den Anfangsjahren der Weimarer Republik anführen. Gleiches gilt für die Förderung chauvinistisch-revisionistischer Erzeugnisse und solcher militaristischen Gedankenguts. Antisemitismus, Nationalismus und Militarismus gehörten zu den ideologischen Bewegkräften zahlreicher deutschvölkisch gesinnter Organisationen, Parteien, Vereine, Verbände und Orden. Der Ausrichtung dieser Phalanx ordnete sich das Börsenblatt willfährig unter. Dem entspricht die Einsicht, die Erich Schairer in der von ihm herausgegebenen pazifistischen Süddeutschen Sonntagszeitung am 16. Juli 1922 vortrug: "Das Wort Republik habe ich nicht ein einziges Mal in den Nummern, die ich durchgesehen habe, gefunden." Dagegen habe sich, so Schairer weiter, "das Börsenblatt für den ›Hakenkreuzkalender‹ und den blödsinnigen Dinterschen Schundroman ›Die Sünde wider das Blut‹ bekanntlich eifrig ins Zeug gelegt und beide Machwerke des niedrigsten Antisemitismus nach der Welt am Montag sogar im redaktionellen Teil als ›durchaus ernstzunehmende und literarisch nicht wertlose Erzeugnisse‹ bezeichnet."

Auch Schairer gelangte zu dem Schluss, dass das Börsenblatt dem Sortimenter und Buchhändler neben romantischen und gelehrten Schmökern vor allem nationalistische Literatur anpries, die, wenn man die Größe der Inserate für die Neuerscheinungen berücksichtige, neben den Werken von Hedwig Courths-Maler sich offenbar am besten verkaufte. Schairer belegte seine Einschätzung, indem er die Titel und den Umfang der Anzeigen nannte. Keiner sprach sich für die neue Staatsform nach 1918, die Republik, aus. Vielmehr liest sich die Inseratenliste wie ein Griff in ein rechtsradikal-monarchistisches Gruselkabinett.

Aus den hier dargebotenen Darlegungen, die lediglich wenige Beispiele aus den Jahren von 1919 bis 1922 berücksichtigen, ist abzuleiten: Das Börsenblatt und große Teile des Buchhandels haben bewusst zur Ausbreitung nationalistisch-militaristischen und antisemitischen Gedankengutes beigetragen. In menschenverachtenden Schundromanen wie denen von Artur Dinter, die höchste Auflagen erreichten, galten die Juden sowie die zu "Judenknechten" erklärten Sozialisten, Demokraten und Pazifisten als verantwortlich für alles, was das sogenannte Herrenvolk der deutschen Arier an Schlimmem ereilt hatte.

Sieht man von den wenigen Wochen und Monaten nach dem 9. November 1918 ab, hat der Versuch, eine Abkehr vom Denken in militaristischen und deutschvölkischen Kategorien zu erreichen, nur wenig Chancen gehabt, eine Mehrheit zu finden, geschweige denn mit Konzepten einer moralischen Erneuerung der deutschen Politik konsensfähig zu werden. Der Hass auf Franzosen, Polen und Juden lastete wie ein Albdruck auf der Politik und war schließlich in einem viel stärkeren Maße im deutschen Volke verwurzelt als noch zu Zeiten des Kaiserreiches. "Die deutsche Linke", konstatierte Friedrich Wilhelm Foerster im Januar 1930, "ist verlegen geboren, sie hat eine Wohnung, die noch vom alten Besitzer möbliert wurde, der ganze Korridor hängt voll fremder Ahnenbilder, kein neuer Geistesbesitz und Formenbesitz ist da, nur ein eigenes Grammophon hat man mitgebracht; als man es aber aufzog, da spielte es die alten Märsche und Rauschlieder." Zu fortgeschritten seien inzwischen die vom völkischen Ungeist vergifteten Führungsschichten und die ihnen folgenden Volksmassen.

Vorbereiter der Bücherverbrennung

"Wenn man nach dem Börsenblatt gehen darf", urteilte Erich Schairer bereits im Juli 1922, "dann ist es sicher ein Irrtum, dass wir eine Republik haben." Eine "Gleichschaltung" hatten 1933 weder das Börsenblatt noch der deutsche Buchhandel "nötig". Die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933, der unter anderem die Werke von Grelling, Nicolai, Heinrich Wandt, Friedrich Wilhelm Foerster und vielen anderen zum Opfer fielen, vollzog nur, was bereits 1919 - noch bevor es Nazis gab - auf den Weg gebracht worden war.

Wie geht der Börsenverein mit all dem heute um? Alljährlich verleiht er einer Autorin oder einem Autor den "Friedenspreis des Deutschen Buchhandels". Das ist gut so, davon war er jedoch nach 1918 oder 1933 mehr als weit entfernt. Hat er aber "Frieden" mit sich selbst gemacht und sich seiner Vergangenheit gestellt? Erst 1985 gab es eine Studie über "Die ›Machtergreifung‹ im Börsenverein"; sie ist mehr als fragwürdig, behauptet sie doch einen "erkennbaren Gegensatz zwischen dem ›alten‹ demokratischen Börsenverein und der Organisation im Dritten Reich". Auch die Abhandlung "Von der Selbstanpassung zur nationalsozialistischen ›Gleichschaltung‹. Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler in den Jahren 1933-1934" (1993) geht nicht auf die Selbstanpassung der Institution an den deutschen Militarismus und Nationalismus vor 1933 ein. Zwar ist die im Mai 1933 erfolgte öffentliche Brandmarkung von zwölf Schriftstellern erwähnt, eine Kontinuitätslinie zu dem ausgrenzenden Verhalten des Börsenblattes in den Jahren 1919-1922/23 gegenüber deutschen Republikanern und Pazifisten ist jedoch nicht gezogen. Gleiches gilt für die 2000 veröffentlichte Publikation "Die große Säuberung des Schrifttums. Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig 1933 bis 1945"; darin beginnt der Antisemitismus des Börsenvereins erst "ab 1933". Nichts erfährt der Leser darüber, wen der Börsenverein in den Jahren nach 1918 durch seine Anzeigenpraxis gefördert und behindert hat. Es stellt sich die Frage: Wann und in welchem Ausmaß werden sich das Börsenblatt und der "Börsenverein" mit ihrer unrühmlichen Vergangenheit und ihrer Mitverantwortung an dem Weg, der ins Dritte Reich und zur Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 führte, befassen?

Ausführlicher und mit Zitatnachweisen sind die Darlegungen des Autors enthalten in einem Beitrag in dem von den Nazis verbotenen Buch von Peter Schmitz: Golgatha - Ein Kriegsroman. Donat Verlag, Bremen 2014, zu beziehen unter donat-verlag.de.

Quelle:  junge Welt - 08.07.2021. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Helmut Donat.

Veröffentlicht am

19. Juli 2021

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