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Afghanistan: Evakuierung von Ortskräften jetzt - Transportflugzeuge einsetzen

Afghanistan wird in Windeseile von den Taliban erobert. Deutschland muss jetzt seiner Verantwortung gerecht werden und die zugesagte Aufnahme der Ortskräfte sofort in die Tat umsetzen. Sonst könnte für viele jede Hilfe zu spät kommen.

Die Ereignisse in Afghanistan überschlagen sich: die Taliban sind auf dem Vormarsch und weiten ihre Macht im Land gewaltsam aus. Die Bundeswehr wird Afghanistan bis Ende Juni   verlassen. Deshalb ist jetzt eine sofortige Evakuierung der Ortskräfte und weiterer gefährdeter Personen notwendig. Es geht darum, Menschen zu retten, die für deutsche Behörden und Institutionen tätig waren oder sind. Um sie in Sicherheit zu bringen, müssten umgehend auch militärische Transportflugzeuge eingesetzt werden. "Jetzt sind Schnelligkeit und unbürokratische Verfahren gefragt - es kommt auf jeden einzelnen Tag an. Denn wenn die betroffenen Menschen den Wettlauf gegen die Taliban verlieren, kann dies für sie den Tod bedeuten. Die Bundeswehr muss gemeinsam mit den deutschen Soldat*innen auch die Ortskräfte ausfliegen", sagt Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL. Vorbilder hierfür gibt es in der Geschichte, wenn auch in anderer Größenordnung: Im April 1975, in den letzten Tagen des Vietnamkrieges, evakuierten die Amerikaner tausende Soldaten, aber auch südvietnamesische Zivilist*innen mit Flugzeugen und Hubschraubern aus Saigon.

Seit Beginn des NATO-Truppenabzugs Anfang Mai haben die Taliban bereits 50 Bezirke (von insgesamt etwa 400)  neu erobert. Der afghanische Nachrichtendienst Tolonews spricht sogar von 60 Bezirken, die seither in die Hände der Taliban gefallen oder aktuell umkämpft sind. Und die Entwicklungen nehmen Fahrt auf: in nur 24 Stunden sind mindestens 8 weitere Bezirke erobert worden (Stand: 22.06.2021). Besonders besorgniserregend sind Nachrichten lokaler Medien sowie eines Sprechers des afghanischen Verteidigungsministers , dass Talibankämpfer bereits bis zu einigen Provinzhauptstädten vorgerückt sind, darunter auch Mazar-i-Sharif. Von dem durch die Bundeswehr betriebenen Camp Marmal sind die Taliban aktuell nur noch 20 Kilometer entfernt. Mittlerweile sind mit Taloqan, Kundus, Baghlan und Mazar-i-Sharif gleich mehrere größere Städte faktisch von Taliban-Kräften eingekreist.

Die angekündigten Ortskräftebüros wurden noch nicht eröffnet

Selbstbewusst haben die Taliban verkündet, dass sie nach Abzug der Truppen ein "echtes islamisches System" einführen möchten - alle Zeichen weisen darauf hin, dass sie sich die Macht im Land durch Gewalt zurückholen. Dass die Taliban trotz Präsenz der internationalen Kräfte bereits mit einer gewaltsamen Machtübernahme begonnen haben, ist nach dem 20-jährigen Einsatz ein Schlag ins Gesicht der NATO. Die Regierungskräfte, die die Bevölkerung mittlerweile zum bewaffneten Widerstand gegen die Taliban aufrufen, haben die Situation längst nicht mehr unter Kontrolle. Ein baldiger Zusammenbruch der staatlichen Strukturen ist ein ebenso erschreckendes wie mögliches Szenario. Was dies für Männer und Frauen bedeutet, die mit Deutschen zusammengearbeitet haben, erklärt eine ehemalige afghanische Ortskraft im Interview mit PRO ASYL: Die gesamte Familie ist in Lebensgefahr. Entführungen, gewaltsame Übergriffe - selbst auf minderjährige Kinder - sowie Folter sind an der Tagesordnung.

Schon jetzt besteht faktisch kein Zugang für Betroffene zum Aufnahmeprogramm für Ortskräfte. Es ist nicht öffentlich nachzuvollziehen, woher die bereits 400 geleisteten Zusagen für das Aufnahmeprogramm herrühren. Doch auch für diesen begünstigten Personenkreis wird es nahezu unmöglich sein, selbstständig Flugtickets außer Landes zu organisieren, geschweige denn sicher den Flughafen Kabul zu erreichen. Viele Überlandstraßen sind teils für längere Zeiträume unter Kontrolle der Extremisten. Informationen, wie sich Betroffene für das Programm registrieren können, sind nach wie vor nicht öffentlich zugänglich. Auch die für Juni angekündigten Ortskräftebüros in Mazar-i-Sharif und Kabul scheinen noch nicht einmal eröffnet zu haben, wie unter anderem einem Rundschreiben der Grünen-Abgeordneten Luise Amtsberg und Filiz Polat zu entnehmen ist.

Zweijahresfrist fällt - positives Signal von der Innenministerkonferenz

Dass die Innenministerkonferenz vergangene Woche die Forderungen von PRO ASYL zum Ortskräfteprogramm aufgegriffen hat, war ein wichtiges Zeichen für all die Betroffenen, die bislang nicht berücksichtigt wurden. Konkret handelt es sich um die Aufhebung der "Zwei-Jahres-Frist" (künftig sollen auch Ortskräfte Zugang zum Aufnahmeprogramm haben, die seit 2013 für deutsche Institutionen tätig waren), die Berücksichtigung auch bereits volljährig gewordener Kinder, die Möglichkeit des "visa on arrival" sowie die Anregung, Reisekosten zu übernehmen. Aufgrund der sich immens verschlechternden Sicherheitslage muss jedoch zusätzlich Sorge getragen werden, dass der Zugang zum Programm sowie die Ausreise aus Afghanistan für die Betroffenen gewährleistet wird. Denn führen die Taliban ihre Offensiven in derselben Geschwindigkeit fort wie bisher, so kommen die beschlossenen und absolut notwendigen Nachbesserungen des Ortskräfteprogramms für viele Menschen zu spät.

Täglich gehen in der Beratungsstelle von PRO ASYL zahlreiche Anfragen von gefährdeten Afghan*innen ein. Vielen von ihnen gelingt es nicht, den Kontakt zu ihren (ehemaligen) Vorgesetzten herzustellen, um dort ihre Gefährdungsanzeige einzureichen. Sie fühlen sich im Stich gelassen und leben in permanenter Gefahr.

Noch immer gilt, dass afghanische Ortskräfte gegenüber deutschen Behörden erst darlegen müssen, dass sie gefährdet sind, bevor sie überhaupt die Chance auf eine Ausreise haben. Bündnis 90/ Die Grünen schlug vor, diese Beweislast umzukehren und zudem ein Gruppenverfahren zur großzügigen Aufnahme afghanischer Ortskräfte einzuführen. Der Bundestag hat am Mittwoch den 23. Juni 2021 diesen Antrag mehrheitlich abgelehnt . Die Koalitionsfraktionen und die AfD lehnten den Antrag ab, die FDP enthielt sich, die Linksfraktion stimmte mit den Grünen dafür.

Quelle: PRO ASYL - Pressemitteilung vom 24.06.2021.

Veröffentlicht am

25. Juni 2021

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