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Afghanistan: Der Hightech-Krieg wird weitergehen

Nach dem Abzug der regulären Truppen werden die USA weiter einen "verdeckten Krieg" führen. Mit Drohnen und privaten Einheiten.

Von Helmut Scheben

Am 13. April 2021 titelte die New York Times, der längste Krieg der USA gehe zu Ende: "Withdrawal of U.S. Troops in Afghanistan Will End Longest American War." Präsident Joe Biden erklärte, der letzte US-Soldat solle am 11. September das zentralasiatische Land verlassen haben. Ein symbolisches Datum: auf den Tag zwanzig Jahre nach 9/11, als der damalige Präsident George W. Bush und sein Team einen "Krieg gegen den Terror" erklärten, in dessen Folge die USA und ihre Verbündeten in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und Jemen intervenierten. Allein im Afghanistan-Krieg kamen nach Angaben der NYT 71.000 afghanische und pakistanische Zivilpersonen ums Leben. 2300 US-Militärs wurden getötet und weitere über 20.000 verwundet.

Präsident Biden sagte, die USA würden künftig nicht weiter militärisch beteiligt sein: "We will not stay involved in Afghanistan militarily." Es lohnte sich, genau hinzuhören. Biden sagte nicht, der Drohnen-Krieg würde aufhören. Er sagte auch nicht, die Luftangriffe würden aufhören. Vielmehr sagte er, man werde den afghanischen Streitkräften auch weiterhin Hilfe leisten: "We will keep providing assistance."

Man muss die NYT lange und sorgfältig lesen, bis zum Vorschein kommt, was darunter zu verstehen sein könnte. Ganz am Ende des Artikels heißt es, anstelle von regulären Truppen würden die USA wahrscheinlich einen Schatten-Krieg ("a shadowy combination") von geheimen Spezialeinheiten und Undercover-Operationen führen. "Current and former American officials" hätten dies bestätigt.

Auch eine Reihe von Journalisten haben darauf hingewiesen. Einer von ihnen ist Norman Solomon: "Im Gegensatz zu dem, was Biden sagt, wird der US-Krieg in Afghanistan weitergehen", schreibt der Gründer der Media-Watch-Organisation "Institute for Public Accuracy". Solomon berichtet, wie er in einem Flüchtlingslager in Kabul die siebenjährige Guljumma traf. Sie hatte nur noch einen Arm. "Nicht Bodentruppen töteten Guljummas Angehörige und ließen sie mit nur einem Arm weiterleben. Es war der US-Luftkrieg", schreibt Solomon.

Solomon zitiert Matthew Hoh, einen US-Veteran, welcher 2009 aus Protest gegen den Krieg in Afghanistan seine Zusammenarbeit mit dem US-Außenministerium aufkündigte: "Ungeachtet des Rückzugs der offiziell anerkannten 3500 US-Soldaten werden die USA in und rund um Afghanistan weiterhin präsent sein: in Form von Tausenden von Spezial-Operationen und mit CIA-Personal, mit Drohnen und bemannten Luftangriffen und Hunderten von Cruise Missiles auf Schiffen und U-Booten."

Das Pentagon sehe als ein Szenario vor, dass die US-Luftwaffe in Afghanistan interveniere, sobald die Hauptstadt Kabul "oder eine andere wichtige Stadt" von Talibankämpfern angriffen werde, berichtete die NYT in einem weiteren Bericht am 11. Juni.

Die Privatisierung des Krieges

Ein Schlüsselfaktor in den Kriegen von Afghanistan bis Irak sind die sogenannten "private military contractor" (PMC). Das sind auf Kriegseinsätze spezialisierte private Sicherheits- und Militärunternehmen. Schon im Zweiten Irak-Krieg (ab 2003) zogen sich die regulären US-Truppen gegen Ende weitgehend auf ihre Stützpunkte zurück, während hochgerüstete Sicherheitsfirmen wie Blackwater (heute Academi) die Counterinsurgency-Operationen durchführten. Wer unter "Contractor" im Netz sucht, stellt mit Erstaunen fest, dass deren Personalstärke in Afghanistan offiziell derzeit immer noch mit 16.000 bis 18.000 Mann angegeben wird, also sechs bis siebenmal so viel wie die bis Mai offizielle Zahl der US-Soldaten.

Auf Bagram Air Base, dem Hauptquartier der US-Streitkräfte in Afghanistan, waren auf dem Höhepunkt des Krieges 40.000 Frauen und Männer stationiert, sowohl US-Soldaten wie Kampfeinheiten privater Firmen. Dort herrscht derzeit reger Flugbetrieb. Die einen packen zusammen für die Heimreise, andere kommen, um ihren neuen Job im "Nachkriegs-Afghanistan" anzutreten. Siebzig private US-Unternehmen, die im Security- und Militärbereich tätig sind, haben im April Stellenangebote inseriert, so berichtet der Intelligencer, eine Webseite des New York Magazine.

Eine große Zahl der Stellenprofile umreißt "Intelligence Analyst Positions". Also Spezialisten im High-Tech-Krieg der Drohnen, der Luftraumüberwachung und elektronischen Aufklärung.

Es gibt überdies kaum Anzeichen, dass bestehende Verträge nicht verlängert werden. "Hier ändert sich nichts", wird ein Mitarbeiter einer US-Sicherheitsfirma in Bagram zitiert. "Ich wüsste nicht, dass mein Job oder irgendwelche Verträge von der afghanischen Regierung übernommen würden. Das hier sind amerikanische Firmen, und die bezahlen hier die Leute." Auch die Waffensysteme, welche die afghanische Armee von den USA übernommen hat, müssen meist von US-Spezialisten gewartet und bedient werden.

Allein in Afghanistan hat das Pentagon seit 2002 für private Mitarbeiter laut einer Bloomberg-Studie rund 108 Milliarden aufgewendet. Außer den 16.000 privaten "Contractors" in Afghanistan, die das Verteidigungsministerium aufführt, gibt es noch Tausende, die für das US-Außenministerium, für US-AID oder andere Agenturen im Bereich Sicherheit und Logistik arbeiten.

Bisher zwei Billionen Dollar ausgegeben

Nach Angaben des Pentagons kostete der Krieg die US-Steuerzahlenden jedes Jahr 45 Milliarden Dollar. Dazu kommen die Kosten der anderen Nato-Staaten. Seit Kriegsbeginn haben sich die gesamten Kriegsausgaben nach übereinstimmenden Berechnungen verschiedener Think Tanks auf weit über eine Billion Dollar summiert.

Dazu kamen nochmals über eine Billion Dollar, die Afghanistan von etwa siebzig Staaten, internationalen Organisationen und Tausenden von Hilfsorganisationen an "Entwicklungshilfe" erhielt. Statt Krieg zu führen, hätte man mit diesen zwei Billionen Dollar jedem Einwohner rund 60.000 Dollar auszahlen können.

In der Hauptstadt Kabul entstand eine afghanische Mittelschicht, die durch den Krieg neue Geschäftsmodelle und ein wirtschaftliches Auskommen fand. Hunderte von Hilfswerken betrieben das Geschäft des Beistands. Zynisch könnte man sagen: Da ist eine Luftwaffe, die bombardiert, und da sind Hilfswerke, die Spenden für Prothesen sammeln. Das geht manchmal so weit, dass sich Menschenrechts-Organisationen für "die gute Sache" vor den Karren spannen lassen.

Amnesty International produzierte 2012 anlässlich des Nato-Gipfeltreffens in Chicago ein Plakat, auf dem zu lesen war: "Human Rights for Women and Girls in Afghanistan. NATO: Keep the progress going!" Der Krieg als "humanitäre Mission" ist seit den Balkan-Kriegen ein wiederholtes Argumentations-Schema der Nato-Verbündeten.

Geheimkommandos mit Auftrag: "Capture or Kill"

Durch die von Wikileaks publizierten "Afghanistan Protokolle" wurde 2010 publik, dass in Afghanistan geheime Einheiten der US-Armee operieren, die den Auftrag haben, Jagd auf führende Figuren der Taliban oder anderer Gruppen zu machen, die als feindlich oder kriminell betrachtet werden. Es handelt sich um Kommandos wie die "Task Force 373", welche außerhalb der regulären Befehlskette operieren und direkt dem United States Joint Special Operations Command (JSOC) unterstehen. Der Spiegel berichtete darüber unter dem Titel "Die dreckigste Seite des Kriegs".

Sie tragen keine Erkennungszeichen an ihren Uniformen und arbeiten Namenslisten ab, die im militärischen Jargon "Joint Prioritized Effect List" heißen. Ihr Auftrag lautet: Capture or Kill. Die von Wikileaks enthüllten Dokumente zeigen auf Hunderten von Seiten, wie immer wieder ganze Familien oder Zusammenkünfte von Zivilpersonen als feindliche Ziele definiert und dabei Männer, Frauen und Kinder getötet wurden, unter denen oft nicht einmal die gesuchte Zielperson zu finden war.

Das US-Justizministerium hält die Tötung von mutmaßlichen Terroristen ohne richterlichen Beschluss für legal. Die Argumentation lautet, man befinde sich im Krieg, nämlich im "Krieg gegen den Terror", folglich sei man berechtigt, Feinde, von denen eine unmittelbare Terrorgefahr ausgehe, zu liquidieren, bevor sie Schaden anrichten könnten. Weltweit sind aber zahlreiche Juristen anderer Ansicht. Sie halten das "präventive Töten" von Personen außerhalb einer Gefechtssituation für außergerichtliche Hinrichtungen und somit für schwere Verstöße gegen Menschenrechte und die Genfer Konventionen.

Das gilt besonders für die Angriffe mit Drohnen, die wohl künftig in dem Schattenkrieg in Afghanistan mehr und mehr die Arbeit der geheimen Capture-or-Kill-Kommandos ersetzen werden. Der wissenschaftliche Dienst des deutschen Parlamentes stellt 2020 fest, die Langzeitbilanz des US-Drohnenkrieges falle "in Anbetracht von hohen Kollateralschäden ernüchternd aus":

In Afghanistan, Pakistan, Somalia und Jemen sei von 2010 bis 2020 ein Minimum von vierzehntausend Drohneneinsätzen registriert worden: Dabei seien den Schätzungen zufolge zwischen achttausend und sechzehntausend Menschen getötet worden. Eine andere Quelle kommt zu weit höheren Zahlen. Diese militärischen Drohneneinsätze sind ebensowenig wie die privaten "Contractor" von Bidens Aussage betroffen, dass sich die USA aus Afghanistan militärisch zurückziehen. Die regulären Soldaten der USA und der andern Nato-Staaten werden abgezogen.

Doch der zwanzigjährige Krieg gegen die Taliban geht weiter, gegen eine von paschtunischem Stammesdenken geprägte radikalislamische Bewegung, die für die USA zu keiner Zeit eine militärische Bedrohung darstellte. Viele US-Soldaten, die zuletzt am Hindukusch im Einsatz waren, steckten noch in den Windeln, als 2001 der Krieg begann. Sarah Kreps und Douglas Kriner haben für Foreign Affairs, die führende Strategie-Zeitschrift für US-Außenpolitik, mit  Umfragen zwischen Oktober 2020 und Februar 2021 herausfinden wollen, was die Leute in den USA zurzeit über diesen Krieg denken. Das Erstaunlichste an den Resultaten war, dass jeder dritte Befragte angab, er könne dazu nichts sagen und jeder vierte nicht einmal wusste, dass in Afghanistan noch Krieg geführt wurde.

Zum Infosperber-Dossier:

Quelle: Infosperber.ch - 17.06.2021.

Veröffentlicht am

21. Juni 2021

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