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Alles andere als Kinderkram

Von Georg Rammer

Die Pandemie hat die Kluft zwischen Arm und Reich massiv vertieft. Ende 2020 besaßen die zehn reichsten Personen in Deutschland ein Vermögen von 242 Milliarden US-Dollar. Offensichtlich konnte Corona ihrem Reichtum nichts anhaben, ganz im Gegenteil. Seit Februar 2019 verzeichneten die zehn Milliardäre ein Vermögenswachstum von 35 Prozent. Die Hilfs- und Entwicklungsorganisation Oxfam weist darauf hin, dass eine Pflegekraft in Deutschland über 156 Jahre arbeiten müsste, um auf das Jahresgehalt eines Dax-Vorstandes zu kommen, nämlich auf durchschnittlich etwa 5,6 Millionen Euro.

Die Hauptleidtragenden der Pandemie – genauer gesagt: der Regierungsmaßnahmen und des Wirtschaftssystems – sind arme Familien und hier besonders die Kinder. Die Lebenshaltungskosten steigen, viele Väter und Mütter können in ihren Jobs nicht arbeiten, die Tafeln sind geschlossen, das Schulessen fällt ersatzlos weg. Homeschooling ist das (umstrittene) Zauberwort für Schulkinder, doch für viele bleibt es ein fauler Zauber, wenn nämlich die Ausrüstung mangelhaft ist. Die Diakonie Baden hat vorgerechnet: Für das allergünstigste Tablet-Modell (136 Euro im Elektrogroßmarkt) muss ein Hartz-IV-Empfänger siebeneinhalb Jahre sparen. Für ein mittleres Modell wären gar 26 Jahre Ansparen fällig; nach dem Hartz-IV-Warenkorb sind nämlich gerade mal 1,50 Euro als Mittel für Investitionen vorgesehen. Bildung und gesellschaftliche Teilhabe unter Lockdown-Bedingungen sind für Kinder in armen Familien zum Luxusgut geworden.

Ältere Profis der Kinder- und Jugendhilfe (wie der Autor) können da nur müde und oft resigniert abwinken. Denn seit Jahrzehnten ist es erwiesen und in Berichten verschiedener Bundesregierungen nachzulesen, dass es um das Wohl von Kindern in ärmeren Familien schlecht steht, dass ihre gesundheitliche Entwicklung oft gefährdet ist und ihre gesellschaftliche Teilhabe verhindert bleibt. Obwohl diese systematische Benachteiligung ein Leben lang wirken kann, obwohl die faktische Einschränkung von Grundrechten den "sozialen Rechtsstaat" Lügen straft, bleibt es bislang bei leeren Versprechungen: Armut und Ungleichheit führen zu systematischer Benachteiligung, und weder Regierungen noch das Bundesverfassungsgericht sorgen für die Verwirklichung der Grundrechte und eine Einlösung des Staatsziels "sozialer Rechtsstaat".

Doch jetzt naht das Rettende – könnten Optimisten glauben. Denn Ende Januar hat das Bundeskabinett die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz beschlossen. Damit solle signalisiert werden, "welch hohe Bedeutung Kindern und ihren Rechten in unserer Gesellschaft zukommt". Tatsächlich engagierte sich ein Aktionsbündnis Kinderrechte – Deutsches Kinderhilfswerk, Deutscher Kinderschutzbund, UNICEF Deutschland – schon seit 2007 für eine Verankerung solcher Rechte im Grundgesetz, während das Thema zwischen den Regierungsparteien umstritten war. Jetzt hat aber die heftige Kritik wegen der totalen Missachtung der Probleme und Bedürfnisse von Kindern durch die Corona-Maßnahmen der Regierung das Verfahren beschleunigt: Es gibt eine Einigung, die in ihrer floskelhaften Halbherzigkeit nicht nur unwirksam bleiben wird, sondern der Sicherung des Kindeswohls und der freien Entfaltung der Persönlichkeit sogar schadet.

Der erste Grund lässt sich banal wie treffend so zusammenfassen: Auch Kinder sind Menschen. Die Grund- und Menschenrechte gelten auch für sie; auch ihre Würde ist unantastbar – auch wenn im politischen und familiären Alltag nicht immer entsprechend gehandelt wird. Wozu also ein Grundrecht, das festhält, dass Grundrechte zu achten sind? Für die besondere Schutzwürdigkeit dieser Basisrechte hat die Staatengemeinschaft (alle Staaten außer den USA) die UN-Kinderrechtskonvention beschlossen. In Artikel 3 heißt es: "Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, (…) ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist." Vorrangig! Das heißt, alle anderen Ziele von "öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen" haben dahinter zurückzustehen. Das löst der Beschluss des Bundeskabinetts bei weitem nicht ein, sondern wirkt als Beschwichtigungsformel für missachtete Kinderrechte im Chaos der staatlichen Corona-Regelungen.

Wann hat die Bundesregierung in der Sozial- und Wirtschaftspolitik (Hartz IV!), in der Verkehrs- und Bildungspolitik jemals den Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention angewandt? Wohnungsnot, Arbeitsbedingungen, Privatisierung der Daseinsvorsorge: Da sind doch Kinderrechte das Allerletzte, woran deutsche MinisterInnen denken. Wenn der Bundesregierung das Wohl der Kinder tatsächlich am Herzen liegt, sollte sie wenigstens dafür sorgen, dass die hunderttausend Stellen, die derzeit laut Bertelsmann Stiftung in Kindertagesstätten fehlen, umgehend geschaffen werden und die Ausbildung der ErzieherInnen aufgewertet und das Personal angemessen bezahlt wird.

Es ist wichtig, dass Computer für arme Kinder zum Thema werden. Wieso aber gibt es überhaupt Kinderarmut im reichen Deutschland? Gerechte Verteilung ist eine staatliche Aufgabe und Grundlage des sozialen Rechtsstaates. Aber der Schutz, die Förderung und Beteiligung von Kindern, die in Armut aufwachsen, wird von der Politik nicht einmal ignoriert, um mit Karl Valentin zu sprechen. Wenn über 40 Prozent alleinerziehender Elternteile (meist Mütter) arm sind, wenn der Mindestlohn bei weitem nicht reicht, um als RentnerIn vor Armut geschützt zu sein, wenn jeder sechste Arbeitnehmer trotz Arbeit arm ist, lässt sich wohl kaum von einem sozialen Rechtsstaat sprechen, schon gar nicht von einem Schutz des Kindeswohls.

Symbolpolitik, Schaufensterreden und Wahlkampfparolen prägen das politische Handlungsfeld "Kindeswohl": Chancengleichheit? Kinder sind unsere Zukunft? Kein Kind soll zurückbleiben? Nichts davon gilt in der Realität. Bereits vor etwa 25 Jahren – also lange vor Hartz-IV – hat der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann in einer Zusammenfassung vorliegender Studien darauf hingewiesen, dass Kindern die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft massiven Schaden zufügt. Nie hat die Regierungspolitik aus diesen Erkenntnissen Konsequenzen gezogen. Sie ist damit die wirksamste Institution der Kindeswohlgefährdung. Und das wird sich auch durch Kinderrechte im Grundgesetz nicht ändern. Denn das herrschende Wirtschafts- und Sozialsystem basiert auf Ungleichheit, auf prekärer Arbeit, Niedriglohn, unbezahlter Frauenarbeit, auf dem Zurückdrängen von Gewerkschaften und Tarifverträgen. Und wer nicht mithalten kann im gnadenlosen Konkurrenzsystem, ist selbst schuld. Das ist die eingeimpfte Ideologie des neoliberalen Kapitalismus, an der nicht gerüttelt werden darf.

Bis eine Politik erzwungen werden kann, die tatsächlich an Menschenwürde, sozialen Menschenrechten und Gemeinwohl und nicht an der Priorität des Profits orientiert ist, wird noch einige Zeit vergehen. Aber Corona hat die Lage zugespitzt. Die Machtelite, wie sie sich etwa beim Weltwirtschaftsforum in Davos versammelt (gerade allerdings nur online), bekommt wegen drohender sozialer Unruhen allmählich Angst. Und die Menschen, die den Druck der Armut, des drohenden sozialen Abstiegs oder gar der existenziellen Not täglich erfahren, können hoffen, dass wenigstens der aktuelle Aufruf der 36 Gewerkschaften und Sozialverbände von der Regierung umgesetzt wird. Gefordert wird eine Anhebung der Regelsätze in der Grundsicherung auf mindestens 600 Euro plus ein Mehrbedarfszuschlag von 100 Euro, ferner die Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Familien mit niedrigem Einkommen mit den notwendigen Geräten und Lernmitteln als einmalige Leistung sowie ein Kündigungsschutz gegen den Verlust der Wohnung durch pandemiebedingte Einkommensverluste. Die zerstörerische Ungleichheit wächst. Die Zeit drängt.

Quelle: Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft , 03/2021. Wir veröffentlichen den Artikel mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

29. März 2021

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