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NATO 2030

Die "Hirntot"-Gruppe legt ihren Bericht NATO 2030 vor

Von Jürgen Wagner

Im Zangengriff zwischen US-Präsident Donald Trump und Frankreichs Premier Emmanuel Macron hat es die NATO in den letzten Jahren schwer gebeutelt. Trump machte aus seiner Geringschätzung des Bündnisses und der Verbündeten ohnehin keinen Hehl, doch richtige Schockwirkung entfalteten dann im November letzten Jahres Aussagen von Macron, die allgemein als ernstzunehmendes Krisensymptom gewertet wurden: "Was wir derzeit erleben, ist der Hirntod der Nato [Es gibt] keinerlei Koordination bei strategischen Entscheidungen zwischen den USA und ihren NATO-Verbündeten. Wir finden uns das erste Mal mit einem amerikanischen Präsidenten wieder, der unsere Idee des europäischen Projekts nicht teilt."

Alarmiert war augenscheinlich auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der dies zum Anlass nahm, eine Expertengruppe damit zu beauftragen, Vorschläge für eine Re-Vitalisierung des Bündnisses auszuarbeiten. Unter dem Ko-Vorsitz von Ex-Verteidigungsminister Thomas de Maizière machte sie sich seit April an die Arbeit und legte nun ihren Bericht vor .

Der Zeitpunkt unmittelbar nach der Abwahl von Donald Trump dürfte wohl kein Zufall sein, verspricht doch sein baldiger Nachfolger Joseph Biden die Aussicht, die transatlantischen Reihen wieder schließen zu können. Und genau dem widmet sich nun auch der Bericht "NATO 2030", indem er fordert, das Bündnis künftig gegen Russland und auch - und das ist relativ neu - gegen China noch aggressiver in Stellung zu bringen.

NATO-Strategie: Drama in mehreren Akten

Von ihrer Gründung im Jahr 1949 an hatte die NATO als bewaffneter Arm des US-geführten Westens ein klares Feindbild: die Sowjetunion. Als dieser Rivale Anfang der 1990er von der Bildfläche verschwand, musste schleunigst ein neuer Daseinszweck gefunden werden. Aufbauend auf in den USA angestellten Überlegungen ging es fortan darum, mittels militärischer Interventionen die soeben erlangte westliche Vorherrschaft zu bewahren und wenn möglich auszubauen.

Dieses Ziel schlug sich in einer neuen NATO-Strategie nieder, die bereits beim Gipfeltreffen in Rom im November 1991 verabschiedet wurde. Die vom Ostblock ausgehende "berechenbare" Gefahr sei nunmehr durch "multidirektionale" Bedrohungen ersetzt worden, hieß es darin. Hierzu wurde seinerzeit bereits die Proliferation, also die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln, Terrorismus, aber auch die Unterbrechung wichtiger Rohstoffströme gezählt.

Die damit angeschobene Transformation der NATO von einem - zumindest formalen - Verteidigungsbündnis zu einer Interventionsallianz für Einsätze außerhalb des Bündnisgebietes fand dann mit der Verabschiedung eines neuen Strategiekonzeptes im April 1999 ihren vorläufigen "krönenden" Abschluss. Inmitten des einen Monat zuvor ohne UN-Mandat begonnenen NATO-Angriffskrieges gegen Jugoslawien wurden darin sogenannte Out-of-area-Einsätze zur neuen Kernaufgabe des Bündnisses erklärt. Und um zu unterstreichen, dass sich das Bündnis keinesfalls in seinen kriegerischen Unternehmungen durch das Vetorecht Russlands (oder gar Chinas) im UN-Sicherheitsrat behindern lassen wollte, wurde auch noch betont, man beabsichtige auch künftig Militärinterventionen gegebenenfalls ohne Mandat der Vereinten Nationen durchzuführen.

Im Vergleich dazu kam das im November 2010 verabschiedete dritte Strategiedokument nach dem - vermeintlichen - Ende des Kalten Krieges vergleichsweise unspektakulär daher. Das Verhältnis zu Russland war bei weitem noch nicht in dem Maße eskaliert, wie es heute der Fall ist und von China war gleich überhaupt keine Rede. Beherrschend war stattdessen der ab 2001 begonnene NATO-Krieg gegen Afghanistan (sowie der ab 2003 geführte US-Krieg im Irak, an dem sich zahlreiche NATO-Verbündete beteiligten), mit dem die Anfang der 1990er begonnene Interventionsausrichtung auf ihre traurige Spitze getrieben wurde. Unter dem Eindruck des sich abzeichnenden Scheiterns dieser Kriege widmete sich das 2010er-Konzept deshalb primär der Frage, wie derlei Interventionen künftig "erfolgreicher" durchgeführt werden könnten.

Vorlage für eine neue NATO-Strategie

Trotz aller Bemühungen sah sich die NATO allerdings auf verlorenem Posten - faktisch waren die Niederlagen in den ersten großen Kriegen des 21. Jahrhunderts nicht mehr zu verhindern, wodurch sich erneut die Frage nach der Daseinsberechtigung der NATO stellte. Insofern kam die - maßgeblich auf Konto des Westens gehende - Eskalation im Verhältnis zu Russland ab 2014 wohl gerade recht. Schließlich wurde dadurch der "Wert" der NATO als Bollwerk gegen einen vermeintlichen russischen Expansionswillen unter Beweis gestellt.

Über die Jahre verschärften sich diese Konflikte immer weiter und mit China wurde ein weiterer Rivale ausgemacht, dem vermehrte (militärische) Aufmerksamkeit gewidmet werden müsste. Gleichzeitig zeigten sich aber insbesondere seit dem Amtsantritt Donald Trumps deutliche Risse im westlichen Militärbündnis, die nun mit der Aussicht auf eine neue US-Regierung gekittet werden sollen.

Nach den Äußerungen des französischen Präsidenten, der die NATO schon fast unter der Erde sah, bestand aus Sicht von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg dringender Handlungsbedarf. Auf seine Initiative wurde beim NATO-Gipfel im Dezember 2019 in London ein "Reflektionsprozess" beschlossen, in dessen Folge im April 2020 eine von Stoltenberg handverlesene Expertengruppe mit der Anfertigung eines Berichts zur Re-Vitalisierung der Allianz beauftragt wurde. Als Vorsitzende der 10-köpfigen Expertengruppe fungierten der ehemalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière sowie Aaron Wess Mitchell, der ehemalige US-Staatssekretär für europäische und eurasische Angelegenheiten.

Der von dieser Gruppe vor wenigen Tagen im Konsens verabschiedete Bericht "NATO 2030" bemängelt explizit, dass das aktuelle Strategische Konzept aus dem Jahr 2010 noch auf der Basis (halbwegs) freundschaftlicher Beziehungen zu Russland und unter völliger Ausblendung Chinas verfasst worden sei. Es müsse aus diesem Grund dringend überarbeitet werden, wofür sich "NATO 2030" explizit als Ideengeber versteht:

Rückbesinnung auf die Großmachtkonkurrenz

Kein westlicher Politiker oder Militär kommt aktuell ohne die Forderung aus, es gelte sich (militärisch) auf eine neue Ära der Großmachtkonkurrenz mit China und Russland vorzubereiten. Noch in ihrer Zeit als Verteidigungsministerin gab die heutige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen etwa zum Besten : "Als politische Allianz fordert uns das herausstechende Merkmal der neuen Sicherheitslage: Die Wiederkehr der Konkurrenz großer Mächte. Unsere amerikanischen Freunde haben das früh erkannt. Wir erkennen es inzwischen auch und wir sehen: Ob wir wollen oder nicht, Deutschland und Europa sind Teil dieses Konkurrenzkampfs. Wir sind nicht neutral. Wir stehen auf der Seite der Freiheit und der Menschenwürde. Wir stehen auf der Seite der Demokratie und der Herrschaft des Rechts."

Im Prinzip hat sich die NATO dieser Aufgabe als neuem Markenkern schon mindestens seit 2014 verschrieben. Nun geht es darum, dieser Neuausrichtung auch per offizieller NATO-Strategie Rechnung zu tragen - und der Bericht "NATO 2030" soll die dementsprechende Vorlage liefern: "Die Welt der NATO wird in den nächsten 10 Jahren anders sein als die, die sie sowohl während des Kalten Krieges als auch in den Jahrzehnten unmittelbar danach bewohnte. Sie wird eine Welt konkurrierender Großmächte sein, in der aggressive autoritäre Staaten mit revisionistischen außenpolitischen Agenden darauf abzielen, ihre Macht und ihren Einfluss auszuweiten."

Zwar wird gegenüber Russland betont, man wolle weiter "zweigleisig auf Abschreckung und Dialog" setzen - konkrete vertrauensbildende Maßnahmen finden sich aber wenig, Säbelrasseln dagegen schon.

Wie angedeutet ist es aber vor allem China, das nun im Bericht "NATO 2030" weitaus prominenter als in früheren Jahren ins Visier gerückt wird: "Die NATO muss den von China ausgehenden Sicherheitsherausforderungen mehr Zeit, politische Ressourcen und Aktivitäten widmen. […] Das Bündnis sollte die Herausforderung durch China in alle existierenden Strukturen einfließen lassen und es in Betracht ziehen, ein beratendes Gremium ins Leben zu rufen, um dort alle Aspekte der sicherheitspolitischen Interessen der Verbündeten vis-à-vis China zu diskutieren."

Schon länger wird in diesem Zusammenhang eine stärkere NATO-Präsenz insbesondere im Indo-Pazifik gefordert, um China verstärkt entgegenzutreten. In dasselbe Horn bläst auch der nun veröffentlichte Expertenbericht: "Schaut man auf das Jahr 2030, dann sollte die NATO ihre engen Beziehungen in einer Zeit zunehmender geostrategischer Konkurrenz und globaler Bedrohungen nicht nur in der unmittelbaren Nachbarschaft, sondern auch weiter draußen im Indo-Pazifik nutzen."

Obwohl hier noch reichlich vage bleibt, wie dieses verstärkte Engagement konkret aussehen soll, ist es doch bemerkenswert, mit welcher Deutlichkeit China und dann vor allem die Indo-pazifische Region als neuer Aufgabenschwerpunkt der NATO in den Fokus gerückt wird.

Die Rechnung bitte!

Selbstverständlich beschäftigt sich der 67-seitige NATO-2030-Bericht auch mit einer Reihe weiterer Themen, etwa einer stärkeren Anbindung von EU und NATO, der Bedeutung Künstlicher Intelligenz oder einer teilweisen Aufweichung des Konsensprinzips durch eine Verlagerung von Befugnissen auf den Generalsekretär. Auch ist die neue Konzentration auf Großmachtkonflikte natürlich keineswegs als eine Absage an Militärinterventionen im Globalen Süden zu verstehen, die man sich auch weiter vorbehalten möchte.

Aber dennoch stellt die Fokussierung auf die neue Großmachtkonkurrenz das dominierende Element dar, was mit einiger Sicherheit auch in einer kommenden Neufassung des Strategischen Konzeptes der Fall sein dürfte.

Und diese Neuausrichtung soll und wird einiges kosten: Bereits zwischen 2015 (895 Mrd. Dollar) und 2020 (1092 Mrd. Dollar) wurden die NATO-Rüstungsausgaben massiv erhöht . Deutschland ist hier eine der treibenden Kräfte - kommende Woche steht im Bundestag eine erneute saftige Erhöhung der Militärausgaben auf 46,93 Mrd. Euro zur Abstimmung. Aus diesem Grund rufen zahlreiche Gruppen der Friedensbewegung am Samstag den 5. Dezember zu Protesten gegen dieses militärische Säbelrasseln auf.

Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - IMI-Analyse 2020/44 - in: Telepolis, 3.12.2020.

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Veröffentlicht am

04. Dezember 2020

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