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Paul Schobel: “Ohne Vision verwildert ein Volk…”

Gedanken zum 1. Mai 2011 im "Roten Osten" Stuttgart

Von Paul Schobel

"Ohne eine Vision verwildert ein Volk…" - ein Spruch aus der Bibel (Sprüche 29,18), der mich in letzter Zeit stark umtreibt.

Zunächst im Blick auf meinen eigenen Laden, die Kirche, die sich - bockbeinig wie ein störrischer Esel und völlig beratungsresistent - nicht mehr vom Fleck bewegt. Zum andern im Blick auf diese Gesellschaft, die immer mehr in lauter "Ich-AG´s" auseinanderfällt, in der sich die Spaltung permanent vertieft und der soziale Konsens zerfällt.

"Ohne eine Vision verwildert ein Volk…." - nach solchen "Verwilderungen" braucht man heute nicht lange zu suchen.

(1)

Ich beginne - heute am "Tag der Arbeit" - mit einem kritischen Blick in die Arbeitswelt, in die ich seit bald 40 Jahren unmittelbaren Einblick nehme. Ich beobachte einen massiven Wertezerfall, den die Gewerkschaften heute auch lautstark beklagt haben. Im Zuge der Prekarisierung der Arbeit ist der Normalarbeitsvertrag fast zum Fossil geworden:

  • Über 7 Mio Menschen arbeitet in Mini-Jobs. Die einstige Ausnahmeregelung für die Schwarzwälder Gastronomie hat sich also ganz schön gemausert. Immer mehr reguläre Arbeit wird in solche "Billigheimer" umgewandelt, die keine soziale Sicherung abwerfen, weder im Fall der Erwerbslosigkeit noch im Blick auf eine ausreichende Alterssicherung. Die Millionen von Frauen landen, wenn sie ihren Job verlieren, gleich bei "Hartz IV". Eine Rentenanwartschaft wird zwar begründet, aber bleibt ein Luftsack, denn es werden keine Beiträge einbezahlt.
  • Die junge Generation kommt - wenn überhaupt - nur noch durch die Hintertür der Befristung in die Erwerbsarbeit. Und dann ist das Lamento groß, wenn junge Leute keine Familien gründen und keine Kinder kriegen. Schamlos genug, dass wir den Rückgang der Geburtenquote vor allem im Blick auf die Sicherheit der Renten beklagen! Klagen müssen wir darüber, dass junge Paare unter solch makabren Bedingungen sich Kinder gar nicht leisten können: Heute hier, morgen da, übermorgen arbeitslos. Auf so schwankenden Bohlen lässt sich kein Lebenshaus errichten! Wer seiner Jugend keine solide berufliche Plattform bietet, ist auf dem Weg in die Dekadenz. Ein solches Volk schaufelt sich sein eigenes Grab.
  • Stichwort "Dekadenz" - in diese Kategorie übernehme ich auch die Leiharbeit. Jedes Unternehmen braucht Flexibilität, das ist unbestritten, aber die hat ihren Preis. Dann müsste Leiharbeit zumindest gleich oder aber noch besser bezahlt werden als die Normalarbeit, so wie es in Frankreich der Fall ist. Wir aber leisten uns für gleiche Arbeit Lohndifferenzen bis zu 50 %, schamlose Tarifverträge und drücken jene, die ohnehin mit den übelsten Arbeitsbedingungen und der größten Arbeitsplatzunsicherheit schwer genug zu kämpfen haben, an oder über die Armutsschwelle. Der so freudig begrüßte, konjunkturell bedingte Beschäftigungszuwachs in Baden-Württemberg läuft zu 85 % auf dem Ticket der Leiharbeit (Stat. Landesamt). Alle diese prekären Arbeitsformen haben eines gemeinsam: Sie spalten die Belegschaften, machen sie kampf- und gestaltungsunfähig. Sie demütigen Menschen und machen sie aus Not willfährig in der Hoffnung, dann übernommen zu werden. Sie überwälzen Arbeitgeberrisiko auf die Arbeitnehmer. Das ist ethisch nicht hinnehmbar!
  • Zu den arbeitsrechtlich weichgespülten Arbeitsverhältnissen gesellt sich nun noch ein anderer Skandal: Kein anderer Industriestaat leistet sich einen so explodierenden Niedriglohnsektor wie wir. Fast 25 % aller Erwerbstätigen erzielen mit ihren Mickerlöhnen nicht einmal mehr ihr Existenzminimum und müssten sich eigentlich über Hartz IV "aufstocken" lassen. Doch viele wissen nicht darum, andere schämen sich und die meisten bekommen nichts, weil sie den Hartz-Richtlinien nicht genügen. Für die 1,5 Millionen "Aufstocker" aber summiert sich Jahr für Jahr ein hübsches Sümmchen von 11 Mrd Euro, die wir aus Steuern und Abgaben berappen müssen. Für Unternehmen, die damit satte Gewinne einfahren und ihre Konkurrenten, die anständig bezahlen, gegen die Wand drücken. Und sowas vor den Augen der Markt-Ideologen. So nebenher programmieren die Niedriglöhner gleichzeitig ihre eigene Altersarmut und fallen dann über die Grundsicherung später wieder dem Staat zur Last: Einmal arm, immer arm. Ein sozialpolitischer Unfug. Den begreife, wer mag.

21 europäische Staaten haben begriffen, was hier geschieht, und diesem schamlosen Treiben über ein Mindestlohngesetz Einhalt geboten. Unsere Regierung ist mit Blindheit geschlagen und sieht immer noch keinen Handlungsbedarf. Dabei wäre der Staat der größte Gewinner, weil er an angemessenen Löhnen gewaltig mitverdient. Heuchlerisch verweisen die Scheinheiligen auf die Tarifautonomie der Grundgesetzes. Aber sie funktioniert ja offenkundig nicht, weil immer mehr Unternehmen aus den Tarifen fliehen. Grade mal noch etwas mehr als die Hälfte aller Beschäftigten arbeitet unter dem Schutz von Tarifen. Also ist der Gesetzgeber im Sinne des Gemeinwohls dran. Es darf nicht sein, dass nicht einmal mehr Arbeit vor Armut schützt.

Daher begrüße ich sehr, dass die neue Landesregierung ein Tariftreuegesetz für öffentliche Ausschreibungen erlassen will. Das wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ebenso, dass sie sich für einen Mindestlohn von 8,50 € stark macht.

Der Wertezerfall der Arbeit muss gestoppt werden. Das bedeutet, die Prekarisierung zurückzufahren. Wer den Arbeitgebern eine Wühlkiste mit Schnäppchenangeboten anbietet, darf sich nicht darüber wundern, dass sie begeistert zugreifen. Daher müssen Leiharbeit, Mini-Jobs und Befristungen genau definiert und begründungspflichtig werden, sie sind in der Menge zu quotieren und vor allem zu verteuern. Das Ziel ist die Re-regulierung und die Umwandlung der Prekarität in Normalarbeitsverhältnisse. Als Sofortmaßnahme: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit und einen flächendeckenden Mindestlohn für alle - auch im Blick auf das nun zu erwartende neue Lohndumping durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit aus den östlichen Beitrittsländern.

Wer die Arbeit immer mehr entrechtet, entwürdigt sie auch. Die Erwerbsarbeit ächzt unter der Knute reiner ökonomischer Verwertbarkeit. Sie wird instrumentalisiert, ausgequetscht wie eine Zitrone. Die Folgen für die Beschäftigten sind entsetzlich: Immer mehr Menschen brennen aus. Schon Jüngere brechen erschöpft zusammen. Das Arbeitsleben ist zur Zitterpartie geworden. Dem können und dürfen wir nicht tatenlos zusehen. Intelligente, gut ausgebildete, hochmotivierte Arbeitskräfte sind auch volkswirtschaftlich der einzige Reichtum. Arbeit hat uns stark gemacht, Arbeit ist auch unsere einzige hoffnungsvolle Zukunft. Wir haben neben der Ethik auch die ökonomische Vernunft auf unserer Seite.

(2)

"Ohne eine Vision verwildert ein Volk…" Ich sehe Anzeichen der Verwilderung vor allem auch in der Wirtschaft. Statt ihrem Auftrag nachzukommen, nämlich gutes Leben für alle zu organisieren und die dafür notwendigen Güter bereit zu stellen, hat die kapitalmarktgesteuerte Wirtschaft ihre Ziele auf ein einziges eingedampft, nämlich die Steigerung der Renditen. Wenn dies mit real-wirtschaftlichen Methoden nicht mehr zu machen ist, weicht man aus in die virtuelle Welt der Finanzmärkte, treibt Handel mit "intelligenten Finanzprodukten", mit Schein- und Leerverkäufen, dubiosen Kreditpaketen und Derivaten. Aus Banken sind Spielbanken, aus Börsen Wettbüros geworden. Der Casino-Kapitalismus ist real. Wen wundert dann, dass eines Tages die Blase platzt?

Die Folgen dieses Desasters sind bekannt, aber treiben mir immer noch die Zornesröte ins Gesicht:

  • Etwa 50 Bio US-Dollars sind an den Kapitalmärkten verbrannt. Unzählige US-BürgerIinnen haben infolge der Hypothekenkrise ihre Wohnung verloren. Für ca 2 Generationen ist die kapitalgedeckte Altersversorgung in Luft aufgegangen.
  • Weitere 24 Mio Menschen wurden weltweit zusätzlich in Armut und Elend hineingetrieben.
  • Teure Rettungsschirme treibt nun bei uns die Staatsverschuldung demnächst über die zwei Bio-Grenze und machen - siehe Schuldenbremse! - die öffentliche Hand handlungsunfähig. Sie ist nur noch Reparaturwerkstatt.
  • Aus der Finanz- und Wirtschaftskrise ist nun eine Euro- und Staatenkrise geworden. Die Bonität ganzer Länder wird heruntergewettet.
  • Banken, Börsen und Spekulanten fahren schon wieder Milliardengewinne ein. Es bilden sich neue Blasen: Nach der Krise ist vor der Krise.

Das ist kein Wunder. Denn die Politik ist nicht gewillt, die entfesselten Kapitalmärkte an die Kandare zu nehmen. Außer, dass über Basel III die Banken mehr Eigenkapital vorhalten müssen, ist im Prinzip nichts passiert. Die beschlossene Bankenabgabe dient nicht der Schadensregulierung, sondern nur der Vorbeugung gegen die nächste Krise.

  • Die Steueroasen sind immer noch nicht geschlossen, laden weiterhin ein für Geldwäsche, Steuerhinterziehung und Spekulation;
  • Wir haben immer noch keine einheitliche Bankenaufsicht;
  • "Intelligente Finanzprodukte" und "hedgefons" bedürfen keinerlei Genehmigung;
  • Eine Finanztransaktionssteuer zur Dämpfung der Spekulation ist nicht konsensfähig;
  • Kredit- und Derivatehandel laufen uneingeschränkt. Neben Waren- und Termingeschäften laufen Wetten auf die Zinsentwicklung und die Bonität ganzer Staaten;
  • Die "Ratingagenturen" sind Institutionen der Banken selbst und unterliegen keinerlei Kontrollen;
  • Leer- und Scheingeschäfte laufen weiterhin fast uneingeschränkt.

Notwendig ist ein internationaler Konsens: Die Bereitstellung von Geld, Zinskontrolle und Geldwertstabilität gehören (wieder) in öffentliche Hand.

(3)

An dritter Stelle habe ich noch mit dem Staat ein Hühnchen zu rupfen. Auch er zeigt Spuren der Verwilderung. Auch in Deutschland wurde die monetaristische Politik vorangetrieben:

  • Veräußerungsgewinne wurden steuerfrei gestellt;
  • Hohe Einkommen und Vermögen geschont, die Erbschaftssteuer abgesenkt; 10 % der reichsten Haushalte verfügen über 62 % des gesamten Bruttovermögens
  • Teile der sozialen Sicherung wurde privatisiert und auf Kapitaldeckung umgestellt.
  • Die "Agenda 2010" zwingt Langzeitarbeitslose zu Arbeit um jeden Preis. Lohndumping und Gewinnexplosionen waren die Folge und haben die Vermögenshaushalte aufgebläht.
  • Privatisierungswahn und "gross border leasing". Nichts war mehr sicher. Weder Wasser und Abwasser, noch Straßenbahn und andere öffentliche Güter.

Spiegelbildlich dazu lief ein gigantischer Sozialabbau:

  • 14 % der Bevölkerung sind an oder schon über der Armutsschwelle.
  • 3,1 Millionen Menschen - schöngerechnet - sind erwerbslos. Die Langzeitarbeitslosen werden auf niedrigstem Niveau grade mal ausgehalten. Ihre berufliche und soziale Förderung wird zurückgefahren. Man arrangiert sich mit einer hartnäckigen Dauerarbeitslosigkeit und favorisiert statt dessen "qualifizierte Zuwanderung".
  • Das neue Sparpaket drückt den Armen in den kommenden drei Jahren noch einmal 30 Mrd. Einsparungen aufs Auge. Übergangs- und Elterngeld gestrichen, Rentenzuschuss gekürzt. Die geringfügige Erhöhung der Richtsätze um 5 Euro verpufft in diesen Einsparungen.

"Ohne eine Vision verwildert ein Volk…" Im Kapitalismus ist für Visionen kein Platz. Er unterwirft eine Gesellschaft unter das knallharte Kalkül ökonomischer Verwertbarkeit. Was sich ökonomisch nicht rechnet, ist eine Null-Nummer. Wer sich ökonomisch nicht rechnet, muss - leider - auf niedrigstem Niveau grade so ausgehalten werden. Der Traum von einer gerechten, geschwisterlichen Gesellschaft wird als "Sozialromantik" abgetan.

Und das mache ich den Regierungen zum, Vorwurf:

  • Sie haben sich unter das kapitalistische Diktat gebeugt, sein Denken übernommen, seine Logik weitgehend verinnerlicht und umgesetzt. Immer mehr werden Kommunen, Länder und der Bund betriebswirtschaftlich geführt. Das gilt als effizient. Dabei treiben die Kapitalmärkte die Politik vor sich her.
  • Und ein zweites, elementares Versagen halte ich den Regierungen vor: Eigentlich ist in dieser Krise der Kapitalismus krachend gegen die Wand gefahren. Keines der markt-ideologischen Dogmen hat gehalten: Der Staat, jahrzehntelang mit Spott und Hohn übergossen, musste die maroden Systeme retten. Die ehernen Gesetze der hochgepriesenen Marktwirtschaft waren plötzlich alle außer Kraft. Konjunkturprogramme wurden in Anschlag gebracht und haben gewirkt. Damit hat sich der Kapitalismus eigentlich selbst ad absurdum geführt, seine Logik ist widerlegt. Damit hat sich das System erledigt, sollte man glauben. Statt dessen wird es eben von diesem Staat wieder aufgepäppelt und ist nun - unter Missbrauch der Arbeit und der Steuerzahler - wieder fahrtüchtig geworden. Nun geht der Horror-Trip weiter, als wäre nichts geschehen.

Die eigentliche Arbeit ist nicht erledigt worden. Wir brauchen zumindest eine dreifache Grundsatzdebatte. Es wäre schön, wenn sich SPD und Kirche gemeinsam an die Spitze dieser Bewegung setzen könnten:

  • Wir müssen weltweit Ziele und Aufgaben der Wirtschaft in einem internationalen Konsens neu definieren: Wirtschaft hat unter dem Primat der Politik gutes Leben für alle zu organisieren. Sie hat dabei alle Arbeitsfähigen über Arbeit und Einkommen zu beteiligen. Wirtschaft ist kein Bereicherungsinstitut für wenige. Ihr Ziel auf die Mehrung der Renditen einzuschränken, ist strukturelle Sünde. Das ist Wirtschaft zum Tode und nicht zum Leben.
  • An zweiter Stelle: Das Geld ist entartet. Die Finanzwelt hat sich von der realen Wirtschaft losgerissen und führt ein fatales Eigenleben. Es handelt mit sich selbst. Das ist naiv, das ist aber vor allem verbrecherisch, weil dieses ethisch marode System die reale Wirtschaft und mit ihr ganze Staaten in den Strudel hineinzieht und in den Abgrund reißt. Geld muss wieder zum Tauschmittel werden, hat der Real-Wirtschaft zu dienen. Geld darf nicht aus Geld geschöpft werden. Die unendliche Spirale von Zins und Zinseszins muss neu diskutiert und eingegrenzt werden. Dieses Finanzsystem steht ursächlich für den völlig irrealen, absurden Wachstumswahn in der Real-Wirtschaft. Wir brauchen eine völlig neue Finanz-Architektur. Investment-Banken und Heuschrecken gehören in die Wüste, wir brauchen sie nicht.
  • An dritter Stelle: Wir müssen den Staat nochmals neu erfinden. Das darf doch nicht wahr sein, dass er sich einerseits zum Deppen machen und sich andererseits als Retter in der Not missbrauchen lässt. Hans Tietmayer, der ehemalige Präsident der Deutschen Bundesbank, nicht irgendwer, nannte beim Namen, was längst Sache ist: "Die Politiker sind sich immer noch nicht darüber im Klaren, wie sehr sie heute unter der Kontrolle der Finanzmärkte stehen und sogar von diesen beherrscht werden…" Er will wohl, dass die Politiker sich das endlich zu Herzen nehmen. Das wäre die Bankrotterklärung der Politik.

Der Staat muss seine eigentliche Rolle wieder erkennen und wahrnehmen: Er ist nicht Erfüllungsgehilfe der Wirtschaft, sondern dem Gemeinwohl verpflichtet und zuständig für den sozialen Ausgleich. Augustinus: "Ein Staat ohne soziale Gerechtigkeit gleich einer organisierten Räuberbande."

(4)

Wenn ich nun eine erste Zwischenbilanz ziehe: Angesichts dieses Erscheinungsbildes müsste man die Sozialdemokratie, gäbe es sie nicht, erfinden. Die Frage ist nur: Muss man auch sie neu erfinden? Gilt möglicherweise auch für sie: "Ohne eine Vision verwildert eine Partei?"

Sie ist meiner Wahrnehmung nach in den letzten Jahren drei Versuchungen mehr oder weniger auf den Leim gegangen:

  • Sie will es der Wirtschaft recht machen: Die Frage ist nur: Welcher Wirtschaft? Ich vermute, sie ist selbst - bewusst oder unbewusst - in den Mainstream des Kapitalismus hineingeraten. Da dominiert eine geradezu panische Angst, es sich mit der Wirtschaft zu verderben. Nun ist klar: Ohne Wirtschaft, ohne ein Produkt gibt es nichts zu verteilen. Aber diese kapitalistische Wirtschaft verträgt sich in ihrer Grundstruktur nicht mit der Botschaft der Sozialdemokratie. Proprium der SPD (und der Kirchen) ist eine soziale, ökologische und demokratische Markt-Wirtschaft. Was davon - bitteschön - haben wir denn? Wir haben den Markt ohne Attribute. Ein solcher Markt mag vielleicht Markt-Gerechtigkeit unter gleichwertigen Markt-Subjekten schaffen, aber er schafft niemals soziale Gerechtigkeit. Zweifach ließ sich die SPD schon enteignen: Die ökologische Dimension haben - trotz erster Erkenntnisse und Entwicklungen in der SPD - die "Grünen" erfolgreich besetzt. Nun wurden auch noch wichtige soziale Anliegen von den "Linken" beschlagnahmt. Für mich war und ist das so, als hätte sich die SPD ihr Herz aus dem Leibe reißen lassen.
  • Damit verbunden ist eine zweite Hörigkeit: "Wachstum" und "Arbeitsplätze". Diese Worte wirken wie Bewegungsmelder. Aber auch da stellt sich die Frage: Welches Wachstum? Es kann nur noch "qualifiziertes" Wachstum sein im Blick auf Ökologie, sozialen Ausbau, Bildung und Kultur. Wurde das jeweils genügend bedacht? Und "Arbeitsplätze"? Gut - aber welche? Die "Agenda 2010" hat maßgeblich zum Wertezerfall der Arbeit, zur Prekarisierung und zu Niedriglöhnen beigetragen. Solche Arbeit aber ist nicht zukunftsfähig.
  • Eine dritte Angst bestimmte das politische Verhalten der jüngsten Vergangenheit: Man will um alles in der Welt technikfreundlich sein. Fragt aber nicht: Welche Technik ist da gemeint? Die ist doch weitgehend zur Zulieferindustrie des Kapitalismus´ geworden. Einer unserer Päpste sagte es vor vielen Jahrzehnten: Von Fortschritt reden wir erst, wenn auch technischem Fortschritt sozialer Fortschritt wird. Ich möchte der SPD diesen Maßstab anempfehlen

Diese dreifache Abhängigkeit hat - meiner Einschätzung nach - dazu geführt, dass die SPD auf das Großprojekt "Stuttgart 21" reingefallen ist. Persönliche Anmerkung: Mir geht die Diskussion noch lange nicht tief genug, bei allem Respekt vor Kostenexplosion und all den anderen ökologischen, finanziellen und städtebaulichen Risiken. Dieses Projekt ist bis in die Wolle kapitalistisch eingefärbt. Es geht im Kern um Immobilien und um gewinnträchtige Finanzierungsmodelle, es geht um einen gigantischen goldenen Schnitt. Was hat da die SPD zu suchen? Die Menschen haben den Kapitalismus sowas von satt. Statt "Beschleunigung" ist "Entschleunigung" angesagt. Abgesehen davon, dass man sich nicht per Rohrpost durch eine liebenswürdige Stadt unterirdisch hindurchschießen lassen möchte. Wenn Stuttgart und das Land ein höchst innovativer Industriestandort bleibt, darüber hinaus als Bildungs- und Kultur-Metropole glänzt, wenn unser Land ein soziales Vorzeige-Ländle wird, dann fährt keiner an uns vorbei, auch wenn er schreckliche 20 Minuten länger unterwegs sein muss.

Nachdenklichkeit tut not! Auch und gerade jetzt, da die SPD wieder Regierungsverantwortung mit übernimmt.

Und darum will ich nach soviel Klage endlich ein Hoffnungslied anstimmen: Die gute alte Tante SPD nur ein wenig zu verjüngen und aufzuhübschen, macht wenig Sinn. Sie muss sich vielmehr neu auf ihr ureigenes Proprium besinnen, sie muss - wie wir Kirchen auch - endlich in sich gehen, und das bedeutet: Gerechtigkeit und Solidarität gehören wieder in die Mitte der Agenda. Das ist übrigens die gewaltige Schnittmenge, die uns als Kirchenleute mit der Sozialdemokratie verbindet. Ich wünschte mir eine SPD als "Solidaritäts- und Gerechtigkeitspartei". Da hätte sie gute Karten. Nicht im beständigen Schielen auf die neue Mitte. Die ist längst anderweitig umzingelt und belagert. Ich halte es da eher mit der Bibel: "Ach, dass du kalt oder heiß wärst! Weil du aber lau bist, speie ich dich aus aus meinem Munde…" (Offb 3, 15-16).

Arbeitslose, Arme, Unter- und Überbeschäftigte, Alte und Kranke samt der oft so perspektivlosen Jugend müssen bei der SPD wieder politische Heimat finden. Das gilt ebenso für das wachsende Heer derer, die zwar (noch) nicht selbst betroffen sind, aber Gerechtigkeit als Vision im Herzen tragen. Die Gesinnungstäter brauchen endlich wieder eine politische Plattform, über die sie stark und glaubhaft agieren können. Auf dieses Potential könnte die SPD bauen, wenn sie das nötige Vertrauen zurück gewönne. Ich frage Partei und Kirchen gleichermaßen:

  • Wird soziale Gerechtigkeit wirklich unser Herzensanliegen?
  • Finden Betriebsräte bei Genossinnen und Genossen, Christinnen und Christen beider Gesangbücher die richtige Adresse, wenn wieder einmal mit Schließungen, Entlassungen konfrontiert werden oder immer mehr Arbeit über Prekarität misshandelt wird?
  • Finden wir das Vertrauen der alleinerziehenden Mutter, fühlt sich sie durch uns verstanden und vertreten?
  • Übernehmen wir Anwaltschaft für Arbeitslose, für Jugendliche ohne Ausbildung, Langzeitkranke, Kleinrentner/innen, um nur wenige Beispiele zu nennen?
  • Sie alle müssen erfahren: SPD (und Christenheit) finden sich mit solchen Zuständen nicht einfach ab. Wir kämpfen um eine Zukunft für alle. Zukunft haben wir nur in Solidarität und Gerechtigkeit.

Ich habe biblisch begonnen: "Ohne eine Vision verwildert ein Volk…" Und werde nun biblisch abschließen - mit eben einer solchen Vision. Sie steht beim Propheten Amos: "Es ströme die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach". Und wenig später fährt er fort: Unter den Vorzeichen dieser Gerechtigkeit "werden die Berge triefen von süßem Wein, und alle Hügel werden fruchtbar sein…" (Amos 5,29 und 9, 13). Das sind doch gute Aussichten.

Paul Schobel, Betriebsseelsorger, Böblingen

Veröffentlicht am

02. Mai 2011

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