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Im Windschatten der Pandemie

Von Georg Rammer

Die "neue Normalität" in Corona-Zeiten bedeutet vor allem: mehr Militär, mehr Repression, mehr soziale Ungleichheit. Die Pandemie hält die Welt in Atem, verändert sie wirtschaftlich, sozial, emotional. In welche Richtung? Wer profitiert, wer verliert? Regierungspolitiker wie Bundesfinanzminister Olaf Scholz versuchen die Bevölkerung darauf einzustimmen, dass der Ausnahmezustand der Pandemie zum Normalzustand wird: "Wir brauchen für lange Zeit eine neue Normalität!" Während große Teile der Bevölkerung existenzielle Sorgen um Gesundheit, Arbeit, Einkommen, Schule und Kontakte haben, sind Politiker und kapitalkräftige Investoren dabei, die "neue Normalität" nach ihrer Vorstellung durchzusetzen.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble macht in einem Interview mit der Bildzeitung klar, dass man sich nicht in der Illusion wiegen sollte, es könne einfach so weitergehen wie gehabt. Er sieht darin eine Chance: "Wir können jetzt Dinge verändern, die wir in der Vergangenheit gerne geändert hätten, es aber nicht konnten oder wollten" (Bild.de, 25.06.). Zwei Monate später präzisiert er: Die Corona-Krise sei eine große Chance für Europa, denn der Widerstand gegen Veränderung wird in der Krise geringer. "Europa als Ganzes muss mehr Verantwortung übernehmen, gerade auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik" (Neue Westfälische, 20.08.2020).

Corona verstärkt den militärischen Expansionismus, genannt "mehr Verantwortung". German-Foreign-Policy.com meldete, die EU wolle "auf die Covid-19-Pandemie mit einer weiteren Stärkung des Militärs reagieren." Die Verteidigungsminister der vier größten EU-Staaten forderten in einem Schreiben, es gelte "nicht nur, die ‘strategische Kommunikation’ gegenüber der eigenen Bevölkerung zu intensivieren sowie ‚feindlichen Narrativen’ entgegenzuwirken. Man müsse zudem die Wirtschaft umfassender mit dem Militär verzahnen und dessen ‚Operationen und Missionen’ ausweiten" (15.06.). Statt die globale soziale Ungerechtigkeit auf die Agenda zu setzen, die Profitinteressen der Pharma-Konzerne zu thematisieren und das privatisierte Gesundheitswesen wieder in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen, soll aufgerüstet werden. Auf die Irrationalität dieses Narrativs - militärische Expansion gegen Corona - erfolgt kein öffentlicher Aufschrei.

Prominent lancierte Interviews, Strategiepapiere der EU, Leitlinien der Bundesregierung bringen Zeitungen weitgehend kritiklos - wenn sie überhaupt berichten. Besonders bemerkenswert ist ein Gastbeitrag von Martin Jäger, Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, für die FAZ. Er konstatiert ein Ende der Ära amerikanisch geführter Militärinterventionen in Somalia, Bosnien, Kosovo, Afghanistan, Irak und Libyen. Statt diese Entwicklung zu begrüßen und über Konzepte für friedliche Strukturen in diesen kriegszerstörten Ländern nachzudenken, fordert der Bundespolitiker: Deutschland und Europa (Politiker reden immer von Europa, wenn sie die EU meinen) müssen interventionsfähig werden! Es sei ein Fehler, die Bundeswehr zu einer Heimatschutzarmee zurückzubauen. Es herrsche "resignativer Pazifismus". Er will als Mittel der Politik Drohungen, Sanktionen, Waffenlieferungen und militärische Gewalt einsetzen. Und: Europa warte auf Deutschland!

Was dieser Staatssekretär forsch fordert, bleibt keine bellizistische Ausnahme, im Gegenteil. Die Architekten der neuen Normalität verfolgen die Weltmachtstellung der EU unter deutscher Führung als Ziel. Die Münchner Sicherheitskonferenz unter dem Organisator Wolfgang Ischinger mausert sich zu einem militärstrategischen Think Tank. Ein Papier beklagt, in Deutschland fehle die "gesellschaftliche Unbefangenheit des Umgangs mit den Streitkräften". Und der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik ergänzt, die EU müsse unter deutscher Führung mit dem Einsatz von Machtmitteln handlungsfähig werden, notfalls mit einer "Koalition der Entschlossenen" (German-Foreign-Policy.com, 07.10.).

Deutschland ist dabei, die militärischen Aktivitäten in Süd-, Südost- und Ostasien zu verstärken. "Der Indo-Pazifik ist eine Priorität der deutschen Außenpolitik", betont Außenminister Heiko Maas. Die Militärpräsenz soll für offene Seewege im deutschen Interesse ausgeweitet werden. Ob China hinnimmt, dass deutsche Kriegsschiffe im Südchinesischen Meer operieren, scheint egal zu sein.

Eine offene Debatte über diese expansive Militärpolitik wird in Corona-Zeiten nicht geführt.  So kann die Bewaffnung der Heron-Kampfdrohnen für die Bundeswehr mit der Zustimmung der SPD rechnen. Sie hatte eigentlich eine breite gesellschaftliche Debatte versprochen, die allerdings zu einer Scheindebatte verkümmert ist. Ohnehin hatte sich die Bundeswehr schon längst auf die Bewaffnung der Kampfdrohne vorbereitet. In den Anhörungen waren Drohnen-Opfer ebenso unerwünscht wie ehemalige Drohnen-Piloten, die durch den mörderischen Druck ihrer Tätigkeit traumatisiert wurden (vgl. Die Linke im Bundestag: "Stoppt den Drohnenkrieg").

"Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit treibt die EU die Entwicklung von ‚Künstlicher Intelligenz’ (KI) und KI-basierten Militärsystemen voran. Die Entwicklung vollautomatisierter Kampfsysteme (‚Killerroboter’) rückt damit immer näher." Dies ist ein weiterer Aspekt der Aufrüstung im Windschatten der Pandemie. Özlem Alev Demirel weist in einem Beitrag für "Lost in Europa" (25.08.) auf das Interesse des Militärs am systematischen Abgreifen enormer Datenmengen hin und zitiert von der Webseite der ‚Europäischen Sicherheit und Technik’: "Der strategische Zugang zu und die Kontrolle von Daten gelten als der Rohstoff für die Künstliche Intelligenz und somit als das ‚neue Öl’ und die Währung im 21. Jahrhundert, die über den künftigen geoökonomischen und geopolitischen Einfluss in der Welt entscheiden werden." Ob das die Menschen auch wollen? Gefragt wurden sie nicht.

Die neue Normalität der Expansionspolitik bedarf einer Absicherung nach innen.  Vorherrschende Blickrichtung beim Thema "Innere Sicherheit" (gemeint ist natürlich nicht die soziale Sicherheit) ist die Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung. Neu ist dieses innenpolitische Handlungsfeld keineswegs; die corona-bedingten Einschränkungen bieten aber eine gute Gelegenheit, die "neue Normalität" auch hier durchzusetzen. Netzpolitik.org berichtet etwa über einen neuen Gesetzentwurf aus dem Bundesinnenministerium. Danach soll die Steuer-ID als Bürgernummer zur Verwendung bei Ämtern bereitgestellt werden. Datenschützer protestieren gegen diese Ausdehnung, die entgegen allen früheren Beteuerungen der Politik eingeführt werden soll. Aber auch die Verschärfung der Polizeigesetze steht weiterhin auf der Tagesordnung. Der Innenminister von Baden-Württemberg hat dazu einen Entwurf vorgelegt, den ein Professor der Polizeihochschule als grundgesetzwidrig einstuft.

Das Bundesministerium des Inneren hat im August eine Verwaltungsvorschrift veröffentlicht. Thema: Pilotprojekt zum Einsatz der höchst umstrittenen, lebensgefährlichen Taser (Elektroimpuls-Schussgeräte). Telepolis berichtet (06.10.), dass das Ministerium in einem Jahr über die flächendeckende Ausstattung der Bundespolizei mit Tasern ("Hilfsmittel der körperlichen Gewalt") entscheiden könnte. Allerdings werden in Bayern, Hessen und Rheinland-Pfalz Taser bereits eingesetzt; mehrere Menschen sind bei Einsätzen gestorben.

Die Repression wird zunehmen. Denn die Wirtschaftskrise im Gefolge der Pandemie trifft nicht alle gleichermaßen. Während ärmere, ohnehin schon benachteiligte Menschen wachsende existenzielle Sorgen haben, verzeichnen Milliardäre enorme Vermögenszuwächse. Nach Berechnungen der Schweizer Großbank UBS und der Beratungsgesellschaft PwC stieg der Reichtum der etwa 2000 Milliardäre in der Welt während der Pandemie auf die unvorstellbare Summe von über zehn Billionen Dollar. Das Nettovermögen von 119 deutschen Superreichen wuchs ebenfalls ‚durch und mit Corona’ auf knapp 600 Milliarden Dollar. Neben dem Technologie- war der Gesundheitsbereich besonders profitträchtig. Der Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge resümiert in der Kontext-Wochenzeitung (09.09.): "Mehr Ungleichheit war nie." Nicht das Virus sei asozial, sondern eine reiche Gesellschaft, die arme Mitglieder zu wenig vor der Infektion und den wirtschaftlichen Folgen schützt. Der gesellschaftliche Kampf um die Rückzahlung der Hunderten Milliarden Euro für Kredite und Schulden steht noch aus. Wo wird der Staat zugreifen, bei den wirtschaftlichen Profiteuren, die auch diese Krise für wachsende Macht nutzen, oder bei denen, denen jetzt schon das Wasser bis zum Hals steht?

Politiker wie Scholz, Schäuble und Spahn wollen uns auf diese "neue Normalität" einstimmen. Sie wissen, dass sich die gesellschaftliche Spaltung vertiefen wird und dass die Spannungen zwischen Ländern noch zunehmen werden - und sie wollen uns suggerieren, dies sei eine normale Folge der Pandemie. Sie wissen auch, dass die Vertrauensbasis zwischen Staat und Bürgern nicht mehr trägt. Da sie aber unfähig und nicht willens sind, die Grundlagen der dafür verantwortlichen Politik zu ändern, verstärken sie die Repressionsapparate, sorgen für Verfestigung der Feindbilder und machen die Grenzen dicht gegen die Menschen, die vor den Folgen der kapitalistischen Expansion fliehen.

Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 26.10.2020.

Veröffentlicht am

29. Oktober 2020

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