Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Vom Risiko, dass man sterben könnte….

Von Katrin Warnatzsch, Soziale Friedensarbeit im Lebenshaus (aus: Lebenshaus Schwäbische Alb, Rundbrief Nr. 105, Juni 2020 Der gesamte Rundbrief Nr. 105 kann hier heruntergeladen werden: PDF-Datei , 585 KB. Den gedruckten Rundbrief schicken wir Ihnen/Dir gerne kostenlos zu. Bitte einfach per Mail abonnieren )

Das letzte Friedensgebet in der evangelischen Kirche in Gammertingen gestalteten und feierten wir am 3. März diesen Jahres. Der Text, den wir dabei vorgetragen hatten, begann so: "Japan lädt die Sportler*innen der Welt zu sich ein: 2020 sollen die Olympischen und Paralympischen Spiele in Tokio stattfinden. Wir hoffen auf friedliche und faire Spiele. Gleichzeitig sind wir besorgt, denn auch in der Hauptstadt der Präfektur Fukushima sind olympische Wettkämpfe geplant: Baseball und Softball-Spiele sollen in Fukushima Stadt ausgetragen werden - 50 Kilometern vom havarierten Atomkraftwerk Fukushima Dai-ichi entfernt. Am 11. März 2011 kam es dort zu einem mehrfachen Super-GAU… Entwurzelte Familien, ausgestorbene Evakuierungszonen, hunderttausende Säcke mit verstrahlter Erde, verseuchte Wälder, Flüsse und Seen. Es herrscht weiterhin keine Normalität in Japan."

Die Olympischen Spiele wurden abgesagt, zwar zögerlich, aber das Unvorstellbare wurde wahr. Wenn auch nicht wegen der Radioaktivität. Und die weiteren Friedensgebete konnten nicht mehr öffentlich stattfinden.

Der "Lockdown" ist auch bei uns angekommen

Ein paar Tage später war auch in Deutschland nichts mehr wie an diesem Tag. Das als normal empfundene Leben in der Öffentlichkeit wurde abrupt gestoppt. Einen kurz zuvor geplanten Ausflug mit den Enkelinnen konnten wir bis heute nicht durchführen. Unsre alleinerziehende Tochter mit drei kleinen Kindern und Berufstätigkeit stand ganz schrecklich auf sich alleingestellt da. Die Schulen und Kitas standen wochenlang still. Bedrückend ist es, dass die meisten Menschen gebückt, den Kopf gesenkt durch die Straßen gehen, einen großen Bogen umeinander machen, sehr wenig reden. Das hier übliche Begrüßen auch fremder Leute unterbleibt sehr häufig, man ist so weit voneinander weg.

Der eigene Stresslevel erhöht sich erheblich, sobald man das Haus verlässt. Viele Automatismen musste ich verwerfen. Als es auch noch schlechtes Wetter war, überlegte ich dreimal, ob es sein musste, für Besorgungen aus dem Haus zu gehen.

Inzwischen ist mit der Maskenpflicht beim Betreten von Läden u. ä. noch einmal eine kältere Atmosphäre eingetreten, die die allerletzte Freundlichkeit auch noch vertrieben hat. Ich kann nicht mehr erkennen, wie die mich mit Abstand umgebenden Menschen eigentlich gerade drauf sind, denn kein Lächeln ist zu sehen. Und ich merke, wie sehr ich mich konzentrieren muss auf das, was ich gerade suche. Es ist anstrengender geworden, unter Menschen zu sein.

Um diesem Unwohlsein entgegenzuwirken, habe ich mir beigebracht, mühsam muss ich sagen, mit der Nähmaschine "Behelfsmasken" zu nähen. Möglichst bequeme, auch für HörgeräteträgerInnen und BrillenträgerInnen, und vor allem farbenfroh. Es benötigte einige Experimente, bis ich zufrieden war und die Exemplare an meine Liebsten verschicken konnte, dann auch an alle Geflüchteten, die ich kenne. Und das hat mir Spaß gemacht, es war eine Aktivität, ein Entgegensetzen. Wenn der schützende Effekt der Masken auch fragwürdig ist, aber ohne dürfen wir uns in vielen Räumen nicht begegnen. Also wollte ich wenigstens ein bisschen Schönheit und Bequemlichkeit dazu tun.

Fast jeden Tag fanden wir neue Informationen über Behandlungsversuche von an Covid-19 Erkrankten. Und der Schrecken darüber wuchs damit auch. Große Verunsicherung und Gedanken, welche medizinische Behandlung ich ganz ausschlagen würde, tauchten auf. Die längst überfällige Patientenverfügung habe ich endlich angepackt. Und das Bewusstsein für Prävention ist erneut gestiegen. Die einfache Wahrheit, das Immunsystem zu stärken, haben wir uns noch bewusster gemacht und Zeit dafür eingesetzt. Jeden Tag gehen wir einige Zeit nach draußen, um das Wetter auf uns wirken zu lassen, die Natur als Ausgleich zu erleben. Auch das ist ein Privileg, das wir in unserer Umgebung und mit unseren Möglichkeiten neu schätzen lernten.

Das "Normale" ist zum Besonderen geworden, wir werden genau überlegen, welche "Normalität" uns in Zukunft ausreichen wird. Was mir fehlt, ist das vor kurzem noch viel unkompliziertere Leben, sich Bewegen unter anderen und die kostbare Nähe zu wenigen Menschen. Stattdessen viel fragileres Vertrauen auf die Umsichtigkeit und Zuverlässigkeit anderer. Trotzdem: der Versuch, Herzlichkeit und Freundlichkeit in Beziehungen zu leben. Eine Herausforderung!

Erschrocken und zusammengezuckt sind wir alle, und so wurden auch die Besuche geflüchteter Menschen im Lebenshaus vorübergehend weniger. Vieles konnte nur über E-Mail oder Telefon laufen. Oft hilflose Menschen baten mich wegen auszufüllender Formulare um Unterstützung. Ganz neu dankbar bin ich über die Möglichkeit, Dinge am PC zu erledigen, was Wege und persönliche Vorsprachen ersetzen konnte.

Inzwischen, bei warmen Temperaturen, wurde der Garten ein geeigneter Freiluftraum, um sich am kleinen Tisch mit etwas Abstand zu unterhalten. Meine Unsicherheit war allerdings groß, ob sich die BesucherInnen selbst genügend an die Regeln einhalten würden. Es ist immer noch so, dass wir uns herzlich begrüßen, dann sofort zurückzucken, denn keine Hand und keine andere Berührung wäre momentan angebracht. Ganz unmöglich ist dies mit dem kleinen Mädchen, das so gerne Körperkontakt hat und spielen möchte.

Es gibt trotzdem unaufschiebbare Besprechungen und Kontakte, die notwendig sind, weil das Leben sonst ganz zum Erliegen käme. Und bisher ging alles soweit gut, auch im Lebenshaus sind wir bezüglich Covid-19 nicht spürbar krank gewesen bisher.

Auch Gerichtsverfahren wurden weiter betrieben und entschieden. Es gab Enttäuschung zu verkraften, als eine negative Entscheidung eintraf. Der eigene Anteil des Betroffenen daran muss noch aufgearbeitet werden. Und daraufhin muss erneut nach Wegen gesucht werden, wie es weitergehen könnte. Unser zweiter Mitbewohner hat nun endlich eine Vollzeit-Erwerbsarbeit gefunden und bisher auch behalten. Er benötigt Lob und Ermutigung sowie Unterstützung bei seinen schriftlichen Angelegenheiten. Bei einem anderen Mann sollte ich bei der Lohnsteuerklärung helfen. Schulden und Lebensunterhalt sind zu regeln, Menschen müssen ermutigt werden. Schließlich wurde auch die Gartenarbeit unaufschiebbar. Die Arbeit ist mir nicht weniger geworden in dieser besonderen Zeit.

Einer meiner Gedanken galt dem Nachempfinden von sog. "Lockdowns" in Kriegsgebieten.

In den Lebensgeschichten der afghanischen jungen Männer, die sie mir erzählt haben, hieß "Schule" etwas ganz Besonderes tun zu dürfen. Viele mussten schon als Kinder unter zehn Jahren durch eigene Arbeit zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Die Schulen waren nur im Sommer überhaupt zugänglich, weil es dort z.B. keine Heizmöglichkeiten gab und nur, wenn gerade die Straßen nicht wegen Kämpfen geschlossen oder zu gefährlich waren. "Ich bin acht Jahre zur Schule gegangen" bedeutet in deutsches Verständnis übertragen, dass innerhalb von acht Lebensjahren für einige Monate Unterricht besucht wurde.

"Lockdown" scheint, bezogen auf die Kinderbetreuung und Beschulung, ein Wort nur für moderne Gesellschaften bei Abwesenheit von Krieg zu sein.

In Kriegsgebieten bedeute Schule eine Ausnahmesituation, wird mir erzählt, Privilegierung, weil oft von den Familien selbst zu bezahlen, ganz anderes Lernen als bei uns und vieles mehr. Oft sogar wegen dieser Privilegierung wieder Diskriminierung durch ärmere Familien innerhalb des Dorfes und sogar Verfolgung durch andersdenkende Kämpfer. Der oft und überraschend eintretende Zustand, dass z.B. die Schule von Kämpfern zerstört wurde und niemand mehr für viele Monate dort hin konnte, sei häufig eingetreten. Damit sei die "Schullaufbahn" oft beendet gewesen, Zeugnisse oder Prüfungen bekamen Seltenheitswert. Inhaltlich konnte es bei den allermeisten Schülern nur um die Schreib-Lese-Fertigkeit und vielleicht ein wenig Verstehen von Zahlen gehen - unter hohem Stress und oftmals auch deswegen nur wenig verfestigt. Das zeigt sich in Deutschland ganz deutlich z.B. daran, dass nur wenige der Geflüchteten wissen, wie sie eigentlich neu lernen könnten und sie müssen auch deswegen ganz vorne beginnen.

Manchmal seien dann in ihrer Heimatprovinz in Afghanistan neue Schulen an anderen, viel weiter entfernten Orten eröffnet worden, höre ich. Der Weg dorthin sei oft unter Lebensgefahr und nur in großen Gruppen von Kindern, auf Motorrädern und manchmal mit bewaffneten Erwachsenen auf staubigen Pisten zurückgelegt worden. In Kabul, also im städtischen Gebiet, konnten Kinder nur von männlichen Erwachsenen begleitet, die Schule erreichen. Ist der Opa also zu gebrechlich, dann gab es keine Möglichkeit, zur Schule zu kommen. Frauen haben auf der Straße ja nichts alleine verloren.

Aber es gab auch Ausnahmen. Ein Mann erzählte, er sei als einziger Junge aus seinem Dorf ganz alleine zwei Stunden über die Berge in die Schule gelaufen. Es habe auch sogenannte Privatschulen gegeben, in Wohnungen versteckt und in kleinen Gruppen. Es sei täglich zu erwarten gewesen, dass die Schule nicht besucht werden konnte. Niemand hätte dafür das Wort "Lockdown" benutzt. Es ging um das grundsätzliche Überleben, und da war der Schulbesuch oft in Abwägung zur Gefährdung durch Kampfhandlungen oder anderes ein großer Luxus oder ein großes Risiko. Sowieso haben sehr viele Kinder gar nie die Möglichkeit eines Schulbesuches gehabt. Die Bildungsbedürfnisse von Kindern wurden von Staats wegen in der Regel ganz hinten angestellt, auch wenn es natürlich Eltern gab, die dies mit aller Kraft anders haben wollten, auch dann, wenn sie selbst Analphabeten waren. Unsere "Lockdown"-Probleme bezüglich der Kinder und leerstehende, aber nicht zerstörte Schulgebäude und Kindergärten sowieso, müssen auf kriegserfahrene Menschen hier bei uns ganz seltsam wirken.

Der Sommer steht vor der Tür, lockend mit lange vermissten Gewohnheiten. Ich wünsche mir, dass das Gewöhnliche neu überdacht und einiges abgespeckt werden kann. Etwas mehr Geruhsamkeit und Achtsamkeit füreinander, das Genießen und Herbeiführen von entspannten Begegnungen ohne Angst. Die Vertiefung der Leichtigkeit.

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Fußnoten

Veröffentlicht am

21. Juni 2020

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