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Libanon: Sie haben Guillotinen dabei

Nach der verheerenden Explosion in Beirut gibt es wütende Proteste gegen die Regierung. Wandel muss kommen.

Von Sabine Kebir

Sie besetzten Ministerien, demonstrierten auch am vergangenen Sonnabend wieder zu Tausenden gegen die Klüngelwirtschaft der Eliten, viele Protestierer führten Attrappen von Guillotinen mit sich. Andere wedelten mit Henkerskordeln, forderten die Todesstrafe für Regierungsmitglieder, die sie "Mörder" nannten. Die Streitkräfte mussten die Ministerien zurückerobern, ein Polizist kam bei den Tumulten um. Die nach der verheerenden Explosion im Hafen Beiruts wieder aufgeflammten Proteste im Libanon bleiben nicht folgenlos: Einige, auch international bekannte Clanführer erklärten ihren Rücktritt, etwa der Chef der christlichen Partei der Phalangisten, Samy Gemayel, und der Drusenführer Walid Dschumblatt. Ministerpräsident Hassan Diab hatte gerade noch die Vorbereitung von Neuwahlen angekündigt, am Montag dann trat seine gesamte Regierung zurück.

Trotz etlicher Bürgerkriege und des mehrmaligen großen Zustroms von Flüchtlingen - 1948 und 1970 kamen Hunderttausende Palästinenser ins Land, heute leben auch 1,3 Millionen geflüchtete Syrer im Libanon - galt das Land in Anspielung an die alte Mandatsmacht Frankreich lange als "Paris" des Nahen Ostens; wegen seines strengen Bankgeheimnisses hieß es auch "die Schweiz der Levante". Hier konnte man in angenehmem Klima unbeschwert und luxuriös urlauben. Von den Vergnügungsmeilen Beiruts profitierten in den letzten Jahrzehnten vor allem reiche Männer von der Arabischen Halbinsel. Von Europäern wurde der Staat wegen zunehmender Unsicherheit und weil die vom Iran unterstützte Hisbollah zu einem wesentlichen Machtfaktor geworden ist, mehr und mehr gemieden. Zudem haben die Golfstaaten den Großteil ihrer bei libanesischen Banken lagernden Finanzen zurückgezogen.

Die Bombenexplosionen vergangener Konflikte hat die Detonation vom 4. August an Gewalt weit übertroffen - seither erinnern sich die Europäer wieder an den Libanon, leisten wichtige Soforthilfen und wittern womöglich die Chance, hier, einmal unabhängig von den USA, eine politische Duftmarke im Nahen Osten setzen zu können. Der französische Präsident Emmanuel Macron eilte schon am Tag unmittelbar nach dem Unglück nach Beirut.

Die Katastrophe traf ein nicht nur durch die Corona-Krise stark geschwächtes Land. Bis zum Ausbruch von Covid-19 hatten den Libanon monatelang mächtige, bis dato in diesem Ausmaß ungekannte Sozialproteste erschüttert. Seit seiner Gründung 1926 bestand ein auf dem Proporz der Konfessionen beruhendes politisches System. Die aus den Urchristen hervorgegangenen, sowohl von arabischer Sprache und Kultur als auch von europäischen Einflüssen geprägten Maroniten stellten von 1943 bis 1975 die Regierung. Während des auch vom Westen angeheizten, damals beginnenden und bis 1990 dauernden Bürgerkriegs zwischen Christen und Muslimen zerfiel der Libanon in Einflussgebiete verschiedener Milizen. Weil sich die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Muslime veränderten und nicht die libanesische Armee, sondern die Truppen der Hisbollah 2006 die unter einem Schirm massiver Bombardements in den Libanon eingedrungenen israelischen Truppen zum Abzug zwangen, beeinflusst die Hisbollah seitdem stark die libanesische Regierungsarbeit.

Aber das noch immer nach in sich vielfach aufgespaltenen Konfessionszugehörigkeiten konstruierte System funktionierte für die breite Bevölkerung immer weniger. Unter neoliberalem Anstrich organisierten sich die jeweiligen Führungsclans mafiös. Laut dem Ökonomen Kamal Hamdan kontrolliert ein Prozent der Libanesen 40 Prozent der nationalen Ressourcen. Die Arbeitslosigkeit wurde Anfang 2020 auf 30 Prozent geschätzt, wobei junge Menschen zwischen 15 und 35 Jahren besonders stark betroffen sind. Öffentliche Daseinsvorsorge steht kaum zur Verfügung, in einigen abgelegenen ländlichen Gebieten fehlt eine öffentliche Gesundheitsfürsorge ganz. Zur Bekämpfung der zunehmenden Waldbrände fehlten der Regierung adäquate Mittel.

Welche Rolle Syrien spielt

Schließlich wurde Ende 2019 bei einer Kontrolle der Banken festgestellt, dass aus deren Depots 70 bis 80 Milliarden Dollar Guthaben von Bürgern an die Zentralbank geleitet und zehn Jahre lang zur Finanzierung nicht produktiver Ausgaben verwendet worden waren. Plötzlich hatten viele Libanesen ihre Ersparnisse verloren. Wer noch über Geld bei den Banken verfügte, konnte nur 300 Dollar pro Woche abheben. Im März gab Ministerpräsident Diab bekannt, das Land könne erstmals keinen Schuldendienst mehr leisten; das an den US-Dollar gebundene libanesische Pfund erfuhr eine starke Abwertung.

Neuartig an den Massendemos, die das Bild des Libanon seit Oktober 2019 prägten, war, dass sich nicht mehr religiöse Gemeinschaften gegeneinander aufstellten, sondern dass es sich um konfessionsübergreifende Proteste handelte, die das herrschende, hinter religiöser Bigotterie getarnte Clanwesen in Frage stellten und Maßnahmen gegen die Korruption forderten. Mit der damit einhergehenden Stärkung von Gewerkschaften und laizistischen politischen Kräften konnte sich im Libanon erstmals eine wirklich demokratische Perspektive entfalten. Im Zuge der Proteste musste Ende Oktober die Regierung Saad Hariris zurücktreten, nachdem der noch in Saudi-Arabien vergebens um Hilfe gebeten hatte.

Obwohl das aktuelle Staatsoberhaupt, Michel Aoun, eine rückhaltlose Aufklärung der Explosionskatastrophe versprochen hat, sehen die bislang unternommenen Schritte nicht konsequent aus. Verhaftet wurde eine Reihe von Arbeitern sowie Leitungskadern des Hafens, die die dort seit sechs Jahren lagernden 275 Tonnen Ammoniumnitrat nicht ordnungsgemäß kontrolliert haben sollen. Nicht geforscht wurde nach den Eigentümern des Stoffes, der schließlich nicht nur als Dünger, sondern auch zur Herstellung von Explosivwaffen verwendet werden kann. Eine international besetzte Untersuchungskommission, die viele Libanesen fordern, lehnte die Regierung ab.

Der Niedergang des Libanon - wie auch Jordaniens - hängt auch mit dem Syrienkrieg zusammen. Alle drei Länder sind historisch und kulturell eng verbunden. Sie kannten bis zum Ende des Osmanischen Reichs keine Grenzen; erst die Mandatsmächte England und Frankreich zogen diese, entsprechend ihren untereinander ausgehandelten Einflusssphären. Das sehr trockene Jordanien und der stark bevölkerte Libanon sind von Landwirtschaftsprodukten aus Syrien abhängig und wünschen auch deshalb eine befriedete durchlässige Grenze. Im Unterschied zu europäischen Ländern, die syrische Flüchtlinge aufgenommen haben, schlossen die libanesische und die jordanische Regierung mit Damaskus Verträge ab, wonach Rückkehrwillige bei den konsularischen Vertretungen Syriens Auskunft einholen können, ob sie Verfolgung zu erwarten haben oder nicht, und auch, inwieweit eine Heimkehr an die Herkunftsorte möglich ist. Da die soziale Krise die Akzeptanz für die Flüchtlinge vermindert, wird von der Rückkehrmöglichkeit auch Gebrauch gemacht. Mittlerweile gibt es wieder einen kleinen Grenzverkehr mit Syrien. Großhändler können Obst und Gemüse in Damaskus preiswerter erwerben als in Amman und Beirut.

Dass die Karten im Libanon jetzt womöglich neu gemischt werden können, zeigte auch das Hilfsangebot Israels, mit dem der Libanon seit 1948 offiziell im Kriegszustand ist. Man muss kein Prophet sein, um festzustellen, dass sich ein durch die Katastrophen- und Aufbauhilfen vergrößerter europäischer Einfluss im Libanon irgendwie mit dem des Iran arrangieren müsste. Die Corona-Krise hat zwar offenbart, wie sehr die iranische Sozialstruktur geschwächt ist. Teheran wird sein ideologisches und militärisches Engagement im Libanon aber nicht vermindern, allerdings kaum in der Lage sein, notwendige Aufbauhilfen rasch zu gewähren. Da jedoch das Misstrauen von Regierung und Bevölkerung nicht nur des Iran, sondern in breiten Kreisen des Nahen Ostens gegen die mittlerweile 100-jährigen, fatalen Einmischungen des Westens unüberwindlich geworden ist, wäre ein ganz neuer Politikansatz notwendig. Die Europäer müssten sich emanzipieren von den auf weitere Zerstückelung des Nahen Ostens zielenden Bestrebungen der USA und der Türkei. Und stattdessen den Frieden in der Region und die wirtschaftliche Reintegration der Levante fördern.

Quelle: der FREITAG vom 14.08.2020. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

15. August 2020

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