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Tausende Israelis demonstrieren gegen ihre Regierung

Von Nirit Sommerfeld

Jeden Morgen lese ich alle politischen Artikel in Haaretz, der einzigen israelischen Tageszeitung, die noch so etwas wie echten Journalismus publiziert. Zur Zeit lese ich auch zwischendrin mal oder abends, auch andere (meist israelische) Publikationen, weil innerhalb Israels große Unruhe herrscht. Selten, muss ich gestehen, lese oder gucke ich mir deutsche Medien zu dem Thema an, weil ich zu oft erfahren musste, dass bei uns in Deutschland die Berichterstattung sehr vom regierungsnahen israelischen Narrativ gefärbt ist. Dies steht oft in krassem Gegenteil zu dem, was ich persönlich gesehen, gehört und erlebt habe in Israel und Palästina - nicht unbedingt, weil Falschaussagen getroffen werden, sondern viel mehr durch Auslassungen und durch bestimmte Wörter oder Begriffe, die verwendet werden. Wenn ich zum Beispiel lese:

"Israelische Soldaten überwältigen mutmaßlichen Terroristen" -

dann assoziiere ich "die Guten (Soldaten) beschützen uns vor jemandem (Terroristen), der uns Böses antun will". Wenn ich hingegen lese:

"Autistischer palästinensischer Mann (32) auf seinem Heimweg vom Betreuungszentrum von zwei Soldaten durch die Altstadt von Jerusalem verfolgt, überwältigt und am Boden liegend erschossen" -

dann habe ich andere Assoziationen, andere Bilder im Kopf. Die muss ich hier nicht weiter erklären.

Solche Fälle wie der des erschossenen Autisten Eyad Hallaq - hier ein Bericht über den Vorfall - sind keine Ausnahme. Sie sind fast Alltag. In den vergangenen elf Jahren sind durchschnittlich 26 Palästinenser pro Monat gestorben. Das ist fast täglich ein Mensch. Darunter waren 802 Kinder. Eine detaillierte Statistik findet sich auf der Website der israelischen Menschenrechtsorganisation B’tselem .

Warum erzähle ich das hier? Ich tue das, weil hierzulande nicht oft genug darüber gesprochen und geschrieben wird, und das ist mit ein Grund dafür, dass sich nichts zum Besseren ändert. Auch über die täglichen Proteste Tausender, die sich gegen Netanyahus Regierungspolitik richten und die von der Polizei und von rechten Gegendemonstranten teilweise mit brutaler Gewalt offen bekämpft werden, hören wir hier wenig. Ich habe mal recherchiert: Die Tagesschau berichtete dreimal darüber, einmal um 7 Uhr morgens, einmal um 16 Uhr und einmal um 5.30 Uhr . Nicht gerade Prime Time. Aus meiner Sicht hätte dieses Thema mehr Aufmerksamkeit verdient. Nicht nur, weil Deutschland eine ganz besondere Beziehung zu Israel hat, sondern weil Vieles, was in Israel passiert, so etwas wie ein Kompass ist für das, was andernorts in der Welt geschieht. Die Parallelen zu Geschehnissen in den USA sind nicht zufällig. So sagt Hagai El-Ad, Leiter von B’Tselem in seinem sehr lesenswerten Interview in Haaretz:
‘It’s Like George Floyd. We Have Our Knee on the Palestinians’ Necks’ . (Es ist wie bei George Floyd. Wir haben unser Knie auf dem Nacken der Palästinenser.)
(Für Nicht-Abonnenten gibt es das Interview hier als PDF . Mit www.deepl.com lässt es sich recht gut verständlich übersetzen.)

Das alles erzähle und teile ich hier, weil es immer noch Menschen gibt, die von alledem keine Ahnung haben, schlimmer noch: Sie halten es für unmöglich, dass in so einem tollen jungen Staat, den sie für die ‘einzige Demokratie im Nahen Osten’, für ein Bollwerk gegen Faschismus, Antisemitismus, Judenhass und islamischen Fanatismus im ‘Orient’ halten und für den einzig sicheren Hafen für Juden weltweit - dass in diesem Staat solch grausame Dinge geschehen, die sich mit Völker- und Menschenrechten, mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbaren lassen. Deutschland ist diesem Staat aufgrund seiner Geschichte auf ewig verpflichtet. Aber die Verpflichtung lautet: NIE WIEDER dürfen Menschen aufgrund ihrer Ethnie, ihrer Religion oder aus welchen Gründen auch immer ausgegrenzt, unterdrückt und ihrer Grundrechte beraubt werden. Menschen. ALLE Menschen. Nie wieder darf das Menschen angetan werden. Und nie wieder Krieg. Nie wieder. Das palästinensische Volk besteht aus Menschen, und sie erfahren tagtäglich Krieg, Unterdrückung, Ausgrenzung, Benachteiligung - mit oder ohne Annexion - durch israelisches Militär, durch israelische Gesetze, durch Israels Regierung, durch große Teile der israelischen Gesellschaft. Das muss ein Ende haben.

So oder so ähnlich sage, singe und schreibe ich das seit über anderthalb Jahrzehnten. Einige andere tun das auch, und wir ernten dafür Spott, Kritik, Ausgrenzung, wir werden dafür beleidigt, diffamiert und bedroht. Vieles hat sich in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren geändert, vor allem hat sich die Situation für die Palästinenser dramatisch verschlechtert, während es sich in Israel recht gemütlich leben lässt, allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz. Wer es nicht glaubt, soll demnächst mal hinfahren und sich selbst überzeugen (sobald man uns wieder reisen lässt). Oft denke ich: Es ist doch alles gesagt, geschrieben, gefilmt, dokumentiert. Es gibt doch kaum etwas Neues zu berichten, und sobald berichtet wird, kommt der übliche Antisemitismus-Vorwurf, der lediglich als durchschaubares Mittel dient, um vom Wesentlichen abzulenken. Der bekannte Historiker und Antisemitismusforscher Wolfgang Benz sieht das ähnlich, wie er hier im Deutschlandfunk sagt.

Ich kann Euch gar nicht sagen, wie sehr mich diese Antisemitismus-Debatte langweilt. Und ermüdet. Und traurig macht. Weil nicht nur vom wesentlichen politischen Fehlverhalten des Staates Israel abgelenkt wird, sondern auch vom wirklichen, dem erstarkenden, dem wirklich gefährlichen Antisemitismus. Dieser kommt immer von rechten, rassistischen, menschenverachtenden, dummen Personen - ganz gleich ob sie ‘gebildet’ sind oder nicht.
Das ist schändlich für Deutschland und schädlich für uns alle, die wir hier leben. Wer sich der deutschen Verantwortung Israel und der Welt gegenüber bewusst ist, sollte sich dafür einsetzen, dass die Palästinenser endlich nicht mehr für das bluten müssen, was Deutschland und Europa den Juden angetan hat.

Darum werde ich weiterhin schreiben und in Zukunft noch mehr ausgewählte Artikel und Kommentare posten. Es ist wirklich schon viel im Äther, man muss es nur finden, die Quelle überprüfen, kritisch lesen und mit den eigenen Erfahrungen abgleichen. Und weiter verbreiten. Und spätestens beim Verbreiten bist DU gefragt.

Quelle:  Nirit Sommerfeld - 30.07.2020.

Veröffentlicht am

01. August 2020

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