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Elite vertraut dem Staat

Von Georg Rammer

Die Bundesregierung hat eine große Umfrage in Auftrag gegeben, um die Ursachen für schwindendes Vertrauen zum Staat zu ergründen. Die wichtigsten Fragen: Halten Sie es für demokratisch, wenn Großkonzerne und Finanzinvestoren wie BlackRock, Amazon und Apple mehr Einfluss auf die Politik haben als der Souverän, also das Volk? Tun Bundesregierung und Parteien genug für soziale Gerechtigkeit und gegen Ungleichheit? Sollen Gesundheit, Bildung und Mieten weiterhin dem Gewinnstreben privater Investoren ausgeliefert bleiben? Halt, das sind natürlich Fake News - die Regierung wird sich hüten, eine solche Befragung durchzuführen: Sie kennt das zu erwartende Ergebnis.

"Die Vertrauenskrise des Staates": Unter diesem Titel befasste sich Marcel Fratzscher, Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), mit dem Verhältnis der Bevölkerung zum Staat und seinen Institutionen (zeit.de, 31.1.2020). Auf der Grundlage der Daten der Kommunikationsagentur Edelmann ("Vertrauensindex") stellte er fest, dass "die westliche Welt eine zunehmende Vertrauenskrise des Staates erlebt und immer weniger Menschen ihren staatlichen Institutionen zutrauen, die Probleme unserer Zeit zu lösen". Erschreckend sei der große Vertrauensverlust gegenüber Kompetenz und ethischem Verhalten von Politikern - besonders in Deutschland.

Betrachtet man Schwerpunkte und aktuelle Entwicklungen der deutschen Regierungspolitik und das Agieren ihres Personals, stellt sich weniger die Frage, woher das Misstrauen rührt. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass wenig davon zu der Überzeugung Anlass geben könnte, die staatlichen Institutionen würden Probleme im Sinne des Gemeinwohls lösen. Ohnehin sind sie derzeit mit selbst verschuldeten Skandalen ausgelastet.

Da ist zum Beispiel die Affäre um Philipp Amthor. Der CDU-Bundestagsabgeordnete hat Lobby-Arbeit für das US-Unternehmen Augustus Intelligence (AI) betrieben und dafür einen Direktorenposten und Aktienoptionen angenommen. Allmählich hat sich das Staatsvolk an solche Interessen-Verquickungen diesseits und jenseits justitiabler Korruption gewöhnt. Der Abgeordnete Amthor räumt einen Fehler ein, trägt aber nichts zur Aufklärung bei. Bislang weiß niemand genau, was AI als Unternehmen der KI-Branche betreibt; nichts wird ersichtlich in der knappen Selbstdarstellung über Ziele ("Datenlösungen zum Nutzen der Menschheit") und Mitarbeiter. Was macht es so attraktiv für - vorsichtig formuliert - umstrittene Spitzen deutscher Politik und Geheimdienste: für Ex-Minister Karl-Theodor zu Guttenberg und die Ex-Geheimdienstchefs Hans-Georg Maaßen (BfV) und August Hanning (BND)? Die Politikerin der Linkspartei Martina Renner äußert den Verdacht, bei AI könnte es sich um eine Tarnfirma eines Geheimdienstes handeln. Auf die Aufarbeitung darf man gespannt sein. Seit Jahren wird ein Lobbyregister gefordert, um den außerdemokratischen Einfluss mächtiger Akteure in Wirtschaft und Medien wenigstens erfassen zu können; ebenso beharrlich stellt sich die CDU einer solchen minimalen Kontrolle von Lobbyisten in der Politik entgegen.

Auch im Fall menschenverachtender, skrupelloser Profitgier heuchelt die Regierung Betroffenheit und ethische Kompetenz: Der Chef des Fleischkonzerns Tönnies hat bislang über 1500 an Covid-19 erkrankte MitarbeiterInnen zu verantworten. Politiker wie der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet schoben die Schuld rumänischen Wanderarbeitern zu. Diese Abwälzung politischer Verantwortung ist ebenso infam wie typisch. Denn seit vielen Jahren sind Werkverträge, der ruinöse Preiskampf, die sklavereiähnlichen Arbeitsbedingungen in deutschen Schlachthäusern bekannt und politisch toleriert. Speziell über Tönnies, Europas größten Produzenten von Billigfleisch, konnte man schon mehrfach lesen, wie er Tausende osteuropäischer Wanderarbeiter ausgebeutet hat. Nie zogen Legislative oder Exekutive die notwendigen Konsequenzen - ganz im Gegenteil. Tönnies wurde zwar illegaler Preisabsprachen und der Steuerhinterziehung mit Cum-Ex-Geschäften beschuldigt; einer Strafe entging der Konzern jedoch durch juristische Spitzfindigkeiten. Nur jede/r dritte MitarbeiterIn wird nach Tarif beschäftigt, die Mehrheit arbeitet auf der Grundlage von Werkverträgen. Der Mindestlohn steht nur auf dem Papier; Miete, Arbeitskleidung und Transport zur Arbeit werden bei Subunternehmen häufig vom Minimum abgezogen. Importiert wurden also Billigarbeiter, exportiert Billigfleisch. Der Publizist Werner Rügemer stellt fest: Ein "dauerhafter, flächendeckender Rechtsbruch", der politisch zu verantworten ist.

Als die Linkspartei Anfang März eine parlamentarische Anfrage zu den Verhältnissen in den Schlachthöfen an die Regierung richtete, kam eine entlarvende Antwort: Sie habe keine Erkenntnisse über den Anteil der Werkverträge, über die Arbeitsbedingungen, über die Unternehmen, die auf der Grundlage von Werkverträgen arbeiten, über die Zahl von Kontrollen. Wie vertrauenswürdig ist eine solche Politik? Übrigens ist die Firma Tönnies keineswegs der einzige Corona-Hotspot: Erkrankungen der ArbeiterInnen gab es auch bei Müllerfleisch in Birkenfeld, beim Westfleischwerk in Coesfeld und anderen - zusammen schätzungsweise 2500 Erkrankte. Wer übernimmt die Verantwortung, wer entschädigt die Ausgebeuteten? Die verantwortlichen Politiker, die solche Verhältnisse zulassen und fördern, empören sich lieber öffentlichkeitswirksam über eine geschmacklose Satire in der tageszeitung, in der Polizisten auf den Müll geworfen werden sollten, als darüber, dass Menschen tatsächlich so behandelt werden.

Dergleichen "Affären" werden von PolitikerInnen zerredet und Scheinlösungen zugeführt, durch neue überlagert, also bald vergessen. Man kommt kaum hinterher: Rechte Netzwerke breiten sich aus in Bundeswehr, Polizei und Geheimdiensten; BlackRock berät die EU; Konzerne bereiten Klagen gegen Staaten wegen coronabedingter Verluste vor - die Reihe täglicher Berichte über empörende Ungerechtigkeiten und Bedrohungen ist schier endlos. Gerade melden die Medien bereits die nächsten Betrügereien: Der Finanzdienstleister Wirecard ließ 1,9 Milliarden Euro verschwinden, unter den Augen der Kontrollbehörde, der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), und der zuständigen Politiker. Übrigens: Das Vermögen der Superreichen ist in und durch die Pandemie global von März bis Mai um satte 434 Milliarden Dollar gewachsen. Neue Meldung: Die Altersarmut steigt. Die Bildungsbenachteiligung ärmerer Kinder laut Bildungsbericht auch - na und? Sie sind nicht systemrelevant. Niemand von den Profiteuren und Verantwortlichen hat Skrupel, empfindet Schuldgefühle. Warum auch: Das ist doch das System, in dem wir leben!

Während Armut und Ungleichheit weiter massiv wachsen, die Daseinsfürsorge schrumpft und stattdessen Rüstungskonzernen großvolumige Aufträge zugeschanzt werden, wird offenbar, wie wenig Menschen zählen, ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Absicherung. Und wie verächtlich diejenigen behandelt werden, die nicht zur Elite zählen. Die Covid-19-Kranken in den Göttinger Armen-Hotspots sind nach offiziellen Verlautbarungen von PolitikerInnen selbst schuld an der Ansteckung, sie werden von Bundeswehrsoldaten bewacht. Genauso erging es Hunderten erkrankter Flüchtlinge in ihren Lagern. Als wäre all das keine Gewalt, die sofort Gegenmaßnahmen erfordern würde. Solche werden aber mit lautstarker Empörung und Drohung in Stuttgart gefordert, nach den Krawallen, bei denen auch Polizisten angegriffen wurden. Selbstverständlich sind Krawalle kritikwürdig, zumal sie die Lage der Entrechteten eher verschlimmern. Aber wo bleibt die Ursachenforschung, das ehrliche Nachdenken über die Lebensrealität junger Leute, die immer weniger Veranlassung haben, Vertrauen zu staatlichen Institutionen zu hegen?

Der eingangs zitierte "Vertrauensindex" könnte weiteren Stoff zum Nachdenken liefern: Im reichen Deutschland ist die soziale Ungleichheit höher als in den meisten Industrieländern - aber die Aufstiegschancen durch Bildung wesentlich geringer. Jeder Zweite hält den Kapitalismus für eine schädliche Gesellschaftsform, denn er vertrete nicht die Interessen der Bevölkerung. Deutlich wird, dass der Staat nur für die Elite gut funktioniert: Diese hat 50 Prozent mehr Vertrauen in den Staat und seine Institutionen als der Durchschnitt der Bevölkerung!

Die Corona-Pandemie hat in aller Deutlichkeit gezeigt, dass der neoliberal radikalisierte Kapitalismus den globalen Problemen nicht gerecht wird. Ihm gelten Demokratie und Menschenrechte als Geschäftsschädigung und als Waffe, die man gegen China in Anschlag bringen kann. Auf Einsicht der Machteliten zu hoffen und menschenwürdige Konsequenzen - etwa gerechte Verteilung der Reichtümer, friedliche Lösungen von Konflikten, Kontrolle wirtschaftlicher Macht - zu erwarten, wäre vollkommen unrealistisch. Bereits jetzt arbeiten die Konzernlobbyisten daran, jede Beschränkung ihrer Profite und ihrer Macht zu verhindern (vgl. LobbyControl: "Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft: Industrie in der Hauptrolle?"). Der Staat rüstet auf, nach innen mit neuen Kontroll- und Polizeigesetzen, nach außen mit massiver Aufrüstung und Drohgebärden. Vertrauen wird durch Gewalt ersetzt. Vergessen sind schon die systemrelevanten HeldInnen in Kliniken und Kitas - sie gehen leer aus bei der Neuverteilung. Das "Schweinesystem" von Tönnies wird zum deutlichen Beispiel für ein System menschenfeindlicher Ausbeutung, der Milliarden von Menschen in der Welt ausgeliefert sind. Dieses System und seine RepräsentantInnen genießen kein Vertrauen mehr; überzeugende Alternativen aufzuzeigen ist die Aufgabe der Linken. Denn das System muss von Grund auf verändert werden, bevor es uns um die Ohren fliegt.

Quelle: Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft , 14/2020. Wir veröffentlichen den Artikel mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

22. Juli 2020

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