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Lob und Kritik des Zweifels

Corona-Tagebuch, Teil 29

Von Götz Eisenberg

"Fanatiker sind zu allem fähig,
sonst aber zu nichts."

(Georg Christoph Lichtenberg)

Ich wandere durch meine Lieblingslandschaft. Margeriten, Wiesensalbei und Dotterblumen blühen und lassen die Wiesen in allen Farben des Frühlings leuchten. Da meine Lieblingsbank, die um diese späte Vormittagsstunde in der Sonne steht, besetzt ist, gehe ich weiter. Ich durchquere ein Tal, das ich bei mir das "Tal des mäandernden Baches" nenne. Karl Valentin: "Das machen sie gern, die Bäch." Bis sie begradigt werden.

Ich möchte unbedingt in einem Roman des österreichischen Schriftstellers Gerhard Roth weiterlesen, auf den ich dieser Tage in einem öffentlichen Bücherschrank in meiner Nachbarschaft gestoßen bin. Er heißt Der stille Ozean und stammt aus dem Jahr 1980. Am Waldrand befindet sich eine weitere Bank, die ich nun ansteuere. Als ich meinen Rucksack absetze und das Buch raushole, fällt mir auf, dass jemand an der Rückenlehne einen leuchtend gelben Aufkleber platziert hat. In roter Lettern steht darauf das Wort Zweifel. Sonst nichts, kein Hinweis, woran man zweifeln soll und warum.

Der Zweifel steht bei mir als Kardinaltugend von Aufklärung und Demokratie hoch im Kurs. So ließ ich mich nieder und begann zu lesen. Ascher, die Hauptfigur des Romans, ist wegen einer Viruserkrankung, die eine grundsätzliche Lebenskrise auslöste, aufs Land geflohen. Dort findet er keineswegs eine Idylle vor, sondern eine Mischung aus alten Traditionen, Aberglauben und Armut. Eines Tages begegnet er einem alten Mann, der sich als eine Art Schamane betätigt. Er rät Ascher, sich mit Olivenöl einzureiben und sich eine Kröte auf die Brust zu setzen und mit einer Schnur am Hals zu befestigen. Diese Rezeptur ist nicht verrückter, als manche Ratschläge, die uns heute in Sachen Corona erteilt werden. Der Aufkleber in meinem Rücken ist frisch, steht also vermutlich im Zusammenhang mit der Corona-Krise, die ja seit einiger Zeit den Zweifel an der Triftigkeit der über uns verhängten Maßnahmen wachsen lässt. Ein Blick ins Netz bestätigt später meine Vermutung.

Zweifel im Sinne der Aufklärung ist mit kritischer Urteilskraft verschwistert, was so viel heißt, dass der Zweifel auch auf sich selbst angewandt werden muss. Alles und jedes hat sich vor dem Richterstuhl der Vernunft zu rechtfertigen, auch der Zweifel. Zweifel ist kein Selbstzweck. Reflexartig alles zu bezweifeln, was "von oben" kommt, ist töricht und infantil. Ein solcher einschnappender Zweifel-Reflex stellt die Kritik "auf dieselbe Stufe wie die Verdauung", hat der österreichische Kabarettist und Schauspieler Josef Hader unlängst gesagt: "Verdauung passiert frei von Argumenten und im Bauch. Das sollte Kritik nicht." Ihr Sitz ist und bleibt der Kopf, und zwar ein Kopf, der zum kritischen Denken benutzt wird. Grundsätzlicher Zweifel schlägt in Fanatismus um, und dieser ist mit Rechtsstaatlichkeit schwer zu vereinbaren. Fanatismus will Eindeutigkeit und übersichtliche Verhältnisse, während Rechtsstaatlichkeit auf Kompromiss und Mehrdeutigkeit beruht.

Demokratie ist, im Gegensatz zu einem häufigen Missverständnis, keine dumpfe, homogene Gesinnungsgemeinschaft, sondern ein System von Verkehrsregeln, das die Entfaltung von Verschiedenheit und Dissens ermöglicht. Der von Fall zu Fall notwendig werdende praktische Konsens soll durch Diskussion und Abstimmung hergestellt werden. Ein von kritischer Urteilskraft gespeister Zweifel ist ein elementarer Bestandteil der Demokratie und schützt vor Fanatismus jedweder Couleur. Denn Fanatismus, hat Max Horkheimer einmal gesagt, rührt aus der "Verbannung des Zweifels". Man sollte also in einem demokratischen Gemeinwesen der Führung nicht vertrauen, und schon gar nicht blind, sondern all ihre Handlungen und Entscheidungen auf ihre Vernünftigkeit überprüfen. Man sollte in einer wahrhaften Demokratie auch lernen, wie man den Gehorsam verweigert, wenn sich Entwicklungen anbahnen, die auf eine neuerliche Barbarei hinauslaufen. Die Möglichkeit einer Faschisierung wohnt der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nach wie vor inne.

Die Morde von Halle, Kassel und Hanau haben uns diese Gefahr nachdrücklich vor Augen geführt. Ein Teil der professionellen Corona-Zweifler, die hinter den temporären Maßnahmen zur Einhegung der Pandemie irgendwelche dubiosen, allmächtigen Drahtzieher, letztlich eine "jüdische Weltverschwörung", vermuten, sind von den faschistischen Mördern nicht allzu weit entfernt. Was sie eint, ist ein grundsätzliches Misstrauen gegen die Demokratie, die sie "das System" nennen. Das hatten wir schon mal. Auch in scheinbar stabilen demokratischen Verhältnissen überleben Mechanismen, die von einem fanatischen Demagogen in einer Zeit der Umbrüche geweckt werden können, so dass ein Land nach wenigen Jahren nicht wiederzuerkennen ist. Fanatismus entsteht, wenn die seelischen Vorgänge, welche das Selbstgefühl regeln, Ambivalenzen nicht tolerieren können, sondern sie spalten müssen. Das geschieht zur Zeit massenhaft. Sogar alte Freundschaften gehen darüber in die Brüche.

Es wäre unsere, der Linken und Demokraten, Aufgabe, den Menschen, die an der Unübersichtlichkeit der modernen Welt und dem Durcheinander ihres Lebens zu verzweifeln drohen, ein attraktiveres Angebot zu machen als Attila Hildmann, Ken Jebsen und die AfD. Diese bringen, wie Walter Benjamin gesagt hat, das zeitgenössische Unbehagen zwar "zum Ausdruck, aber nicht zu ihrem Recht". 

Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus", deren dritter Band unter dem Titel "Zwischen Anarchismus und Populismus" 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist.

Quelle: GEW_AN Magazin - 24.05.2020.

Veröffentlicht am

05. Juni 2020

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