Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Kriegsende, 8. Mai 1945: Niederlage, Befreiung oder was sonst?

Ein historisches Fazit

Von Elmar Klink

Man kann das vielleicht denkwürdigste Datum der Deutschen in der neueren Geschichte - neben dem Jahr 1989 - das sich dieses Jahr zum 75. Mal jährt, nicht betrachten und bewerten, ohne die Zeit davor und danach mit in den Blick zu nehmen. So sah es auch der Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 in seiner bemerkenswerten Rede zum 8. Mai als Kriegsende. Er empfahl, nicht das Datum des Kriegsendes zum Bezugspunkt zu nehmen für eine Bewertung des daraus Folgenden, sondern die nationalsozialistische Diktatur davor und den Weg zu ihr vor 1933, der folgerichtig weiter bis zum Kriegsbeginn 1939 geführt hatte. Und nicht die Tatsache, was die Deutschen in diesem Krieg zum Ende hin noch für alle, nicht nur die Soldaten, Furchtbares erleiden mussten - kriegsverbrecherische Zerstörung der Städte nach Plan, Schicksal in der Gefangenschaft vieler Millionen deutscher Soldaten, Massenvergewaltigung deutscher Frauen durch alliierte Truppen und Massenvertreibung aus den deutschen Ostgebieten, schätzungsweise etwa 14 Millionen Menschen. Sondern was sie selbst als Aggressoren und Usurpatoren anderen Völkern zuvor angetan hatten. Dann, so von Weizsäcker, erscheine dieses Ende in einer völlig anderen Perspektive.

Das war so und zudem ausgedrückt von einem politischen Konservativen ein Novum. Es ergänzte den Kniefall Bundeskanzler Willy Brandts (SPD) von 1972 in Warschau bei der Ehrung am nationalen Denkmal Polens nicht nur durch einen Kranz, sondern eine eindeutige Demutsgeste an das im Krieg geschundene Nachbarvolk. Brandt betonte dazu hinterher, er empfand dort stehend plötzlich das Gefühl, dass ein Kranz nicht reiche. Er leitete damit den Beginn einer Versöhnung mit Polen ein. Die wesentlichen Leistungen bei der Verständigung mit der DDR, Osteuropa und der Sowjetunion und den daraus resultierenden Verträgen, erbrachten die Sozialdemokraten und FDP Walter Scheels mit ihr in einer sozialliberalen Koalition.  Deren spätes Erbe mit der deutschen Vereinigung verbuchten 1989/90 jedoch vor allem die konservative Union und die FDP Genschers für sich. Sie hatten sich zuvor jahrzehntelang jeder Annäherung West-Ost und Verhandlung der nötigen Fragen widersetzt.

Mit dem 8. Mai 1945 begann in Europa die Nachkriegszeit nach einem Krieg, der 65 Millionen Tote kostete und über 6 Millionen jüdischen Menschen in einer beispiellosen europäischen Ausrottung ihr Leben. In Fernost wurde nach den völkerrechtswidrigen Atombombenabwürfen der Amerikaner auf die wehrlosen japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki, am 6. und 9. August mit Hunderttausenden von zivilen Toten und Strahlenopfern, noch bis zum September 1945 weitergekämpft, bis auch das Land der roten Sonne in auswegloser Lage bedingungslos kapitulierte, nachdem auch die Sowjetunion noch in den Krieg gegen Japan eingetreten war. Die Konferenz von Potsdam im Juli 1945 der drei Siegermächte USA, Großbritannien und Sowjetunion setzte die Absprachen und Vereinbarungen zuvor von Teheran und Jalta um. Die alliierten Armeen hatten vereint das Mehrmillionenheer Hitlers in verlustreichen Kämpfen und Schlachten material- und zahlenüberlegen niedergerungen. Potsdam begründete die alliierte Nachkriegsordnung, die bald in zwei gespaltene Weltblöcke in einem neuen Kalten Krieg zerfiel. Eine verkürzte und abgebrochene "Entnazifizierung" -, eine lediglich nur rein monetäre Währungsreform, die die Besitzverhältnisse nicht antastete -, die Manipulation des Grundgesetzes, die Staatsapparat und Verwaltung in den primären Rang vor dem Gewissensprimat individueller Grundrechte versetzte und die von Unions-Kanzler Adenauer zunächst heimlich, dann offen betriebene Remilitarisierung Westdeutschlands, einhergehend mit Westintegration, wurden zu folgenschweren Geburtsfehlern, die noch lange drastisch die Ära des Nachkriegs bestimmten und zum Teil bis heute prägend nachwirken.

Fast zwanzig Jahre nach den Nürnberger Alliierten-Prozessen begann man erst in den frühen sechziger Jahren mit einer gezielten und breiteren Aufarbeitung von Naziverbrechen und Völkermordvergehen mit den vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer vorbereiteten und eingeleiteten Auschwitz-Prozessen. Von den vielen maßgeblich an ihnen Beteiligten wurden am Ende nur etwa 8.000 Verantwortliche ermittelt und juristisch angeklagt und von ihnen wiederum nur ein deutlich geringerer Prozentsatz auch verurteilt, oftmals zu milden Strafen von nur wenigen Jahren Gefängnis oder sogar "mangels Beweisen" freigesprochen. Nicht wenige kamen relativ ungeschoren an Reputation und Einfluss davon. Das zeigten verblüffende deutsche Überlebens-Karrieren wie jene von Hitlers Rüstungsminister Albert Speer (nach 20 Jahren Spandauer Haft 1965 entlassen) oder Nachkriegslaufbahnen wie die des engen Adenauer-Vertrauten, Strippenziehers im Kanzleramt und Staatsekretärs Hans Globke, der als Jurist an den Nürnberger Rassegesetzen mitgewirkt hatte, wie auch des NSDAP-Mitglieds und Unions-Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger oder des ehemaligen NS-Marinerichters und CDU-Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Hans Filbinger. Die Reihe bescholtener Prominenter ließe sich freilich noch fortsetzen.

Kapitalverbrecher wie der KZ-Mordarzt Josef Mengele, der NS-Gestapochef und "Henker von Lyon", Klaus Barbie, u.a. konnten sich entweder vollkommen oder sehr lange unentdeckt in bürgerlichen Lebensläufen halten und sicher sein. Die Mossad-Entführung Adolf Eichmanns, des ausführenden Administrators der Wannseekonferenz von Anfang 1942 zur koordinierten europäischen Judenvernichtung, 1960 aus Argentinien und seine Anklage vor einem jüdischen Gericht in Israel, stellen eher die Ausnahme dar. Eichmann, der nach Kriegsende noch in der Lüneburger Heide nicht unweit des KZ-Orts Bergen-Belsen als Waldarbeiter lebte und Hühner züchtete und verkaufte, bis er sich dann nach Südamerika absetzte, wurde angeklagt und hingerichtet. Die wichtigen Helfer und ausführenden Arme Hitlers wie Goebbels, Göring, Himmler oder auch Hans Kammler, Waffen SS-General und Koordinator von Hitlers Geheimwaffenproduktion unter Einsatz Hunderttausender von Zwangsarbeitern aus den KZs, begingen entweder feige Suizid wie ihr "tapferer" Führer oder endeten in dubioser Weise, indem sie sich zuvor den alliierten Westmächten als bedeutende Geheimnisträger und verbündete Helfer gegen den "Bolschewismus" andienten. Kammler  endete nicht wie es offiziell in den Annalen heißt durch Suizid bei Kriegsende in Prag, sondern kam vermutlich erst gegen Ende 1945 auf mysteriöse Weise um, nachdem er dem US-Geheimdienst mit brisanten technischen Details aus der Geheimwaffenproduktion und militärischen Atombombenforschung des Dritten Reichs versorgt hatte. Jedenfalls verlieren sich in einem Gestrüpp von Widersprüchen im November 1945 seine letzten Spuren wie der Historiker Rainer Karlsch ("Hitlers Bombe") zu berichten weiß.

So bedeutete das Kriegsende für die Deutschen in mehrfacher Hinsicht ein schwer lastendes Erbe, hinsichtlich eines demokratisch-sozialen Neuanfangs wie auch der Aufarbeitung der eigenen Kriegsgeschichte unter Entwirrung und Aufdeckung zahlloser Mythen, Legenden und Lügen wie etwa der einer "sauberen Wehrmacht". Die größte davon war, dass Deutschland ein "Opfer" der Siegermächte gewesen sei. Denn dieses Opfer wurde alsbald als Vasall wieder gebraucht als vorgeschobenes westliches Bollwerk im West-Ost-Konflikt gegen den östlichen Kommunismus. Vorstellungen wie die des amerikanischen Politikers Henry Morgenthau (Morgenthau-Plan), aus Deutschland künftig ein ohnmächtiges  industrieloses Agrarland zu machen, hatten schon kurz nach Kriegsende keinen Bestand mehr. Ab 1948 wurden zunächst alle vier Besatzungszonen in das European Recovery Program (ERP), auch "Marshallplan" genannt, einbezogen, das mit Kreditvorleistungen, mit denen amerikanische Waren gekauft und bezahlt werden sollten, den wirtschaftlichen und kulturellen Wiederaufbau Europas voranbringen sollte. Und nebenbei auch der gebeutelten US-Kriegswirtschaft wieder auf die Beine helfen sollte. Vor allem Baumwolle und Tabak hatten die USA in Massen zum Nulltarif, was sie sich nun von europäischen Kreditempfängern  (Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien u. a.) gut bezahlen ließen. Bis in die  beginnenden 60er Jahre  zahlte die BRD noch ERP-Schulden an die USA zurück (siehe dazu die Forschungserträge des Bielefelder Wirtschaftshistorikers Werner Abelshauser mit präzisen Angaben und Auflistungen zu geflossenen Krediten und gelieferten Gütern). Im Grunde genommen erreichte kein einziger barer Dollar Europa. Von vorne herein war klar, dass es so keine "Stunde Null" geben würde. Die "Befreiung" mündete geradewegs in eine westlich-atlantische Abhängigkeit und Bevormundung Westdeutschlands in demokratischem Zuschnitt. während die sowjetische Besatzungszone eine Beteiligung am ERP ausschloss, die ihrerseits dem Besatzungsdiktat Stalins unterworfen wurde. Deutschland wurde in West und Ost zum hochgerüsteten Vorposten im Kalten Krieg. Auch das gehört zur historisch wahren Betrachtung des 8. Mai, von der freilich der überzeugte Transatlantiker von Weizsäcker nicht gesprochen hat oder sprechen wollte.

Der deutsche Diktator Adolf Hitler verübte am 30. April im Führerbunker Suizid zusammen mit seiner frisch angetrauten Ehefrau Eva Braun, die sich vergiftete. Das Ehepaar Joseph und Magda Goebbels folgte ihnen wenig später nach, nachdem die Mutter noch ihre sechs Kinder im Führerbunker vergiftet hatte. Hitler hatte Großadmiral Karl Dönitz zu seinem Nachfolger ernannt, der sich mit Militär-Gefolge im Marinearsenal in Flensburg-Mürwik verschanzte. Erst am 23. Mai nahmen dort die Alliierten den letzten offiziellen deutschen NS-Reichsrepräsentanten und seine Regierung gefangen und verbrachten ihn in Gefängnishaft in Luxemburg. Dönitz erwog noch eine Teilkapitulation mit den westlichen Alliierten, um auch Zeit zu gewinnen, noch auf See im Einsatz befindliche Marineeinheiten ins Reich zurückzuholen. Auf einzelnen Minensuch- und -Jagdbooten rebellierten Mannschaftsteile und setzten ihre Kommandanten ab, da sie so nahe an der Kapitulation, wovon sie über Funk erfahren hatten, nicht mehr in weitere Kriegseinsätze auf See geschickt werden wollten oder um Schiffstransporte mit deutschen Soldaten über die Ostsee zu begleiten. Deutsche Schnellboote stoppten sie und brachten sie auf. Das alles geschah in den allerletzten Kriegstagen praktisch schon unter den Augen und unter Duldung der britischen Besatzer, die den Rücklauf deutscher Kriegsgefangener aus Dänemark überwachten. Der junge Matrose Siegfried Lenz, später ein bekannter deutscher Schriftsteller und Chronist der Nachkriegszeit, erlebte als Zeuge eine solche Mannschaftsmeuterei auf einem Boot und verarbeitete dies in seiner halb-dokumentarischen Erzählung "Ein Kriegsende". Mehrere der Anführer und Beteiligten wurden von deutschen Marinekriegsgerichten trotz bereits schon erfolgter Kapitulation dafür zum Tod durch Erschießen verurteilt. Es ist bekannt, dass der bereits erwähnte Marinerichter Filbinger mehrere solcher Todesurteile entweder selbst verhängte oder bestätigte mit Duldung der britischen Militärbehörden. Befehlsverweigerung und Meuterei ist ein Delikt, was man auch in der britischen Armee nicht duldete. Das Verhalten der Nazi-Deutschen wurde dadurch noch extra legitimiert. Später wurde der Stoff in einem Fernsehfilm als Dokumentarspiel inszeniert.

Die NS-Kriegsmaschinerie war schon lange vor dem Monat Mai so gut wie total erschöpft und lag am Boden. Überall kam es zu Teilkapitulationen von Wehrmachtseinheiten, die sich ergaben. Entsatzarmeen, von denen Hitler bis zuletzt in seinen Monologen im Führerbunker fabulierend schwadronierte, existierten nicht mehr. Einzig in Berlin und einigen zentralen  Reichsteilen wurde noch sinnlos bis zum letzten Mann gekämpft, häufig von einem noch eilig zusammengezogenen "Volkssturm" aus fanatisierten Hitler-Jugendlichen und rekrutierten Alten. Die Allliierten standen überall tief im besiegten Reich. Von Osten wälzte sich die Rote Armee mit einer Generaloffensive über die Seelower Höhen im Odertal heran, die bei Hitlers Tod nur noch wenige hundert Meter vom Führerbunker entfernt vorrückten. Städte im Westen wie Aachen waren schon zuvor im Oktober 1944 von der NS-Herrschaft befreit worden. In den südwestlich davon gelegenen belgischen Ardennen, wurde im Herbst und Winter 1944/45 von zehntausenden Wehrmachtsoldaten und neuen Tiger-Panzer-Bataillonen die letzte große Materialschlacht gegen die alliierten Truppen ausgefochten mit zehntausenden Toten diesseits wie jenseits der tief verschneiten Waldfronten. Das schlesische Breslau fiel, bald folgte auch Köln. Immer enger schnürte sich der Knoten erdrückender Übermacht. Der westliche alliierte Vormarsch konzentrierte sich von östlich des Rheins kommend auf Nord-, Teile von Mittel- und Süddeutschland bis Stuttgart, Nürnberg, Augsburg und München. Damit auch die Region um Berchtesgaden und den stark befestigten Obersalzberg, dem früheren Wohnsitz und Rückzugsort Hitlers, die noch im April flächenbombardiert wurde, da man Hitlers Anwesenheit dort in dem weitverzweigten Tunnel- und Bunkersystem der "Alpenfestung" am Watzmann vermutete. Der Berghof wurde dabei bis auf eine Ruine zerstört, die erhaltenen Reste des Innenlebens von der Bevölkerung geplündert.

Aber Hitler hatte sich schon im März von seinem verlorenen Befehlsstand Wolfsschanze in Ostpreußen nach Berlin zurückgezogen, wohin ihm vom Obersalzberg seine Geliebte gegen seinen Willen gefolgt war. Ihre anhängliche naive Hundetreue rührte ihn. Der sich von allen engsten Nibelungen-Getreuen wie Himmler, Göring, Speer u.a. verraten und verlassen fühlte, was bei dem Nervenwrack und stark an Zitteranfällen leidenden Hitler zornige cholerische Wutausbrüche auslöste. Sogar seinen Schwager, SS-Gruppenführer Hermann Fegelein, Verbindungsmann zu Heinrich Himmler, der mit Eva Brauns Schwester Gretl verheiratet war, ließ er noch aufgreifen und standrechtlich erschießen. Seine engsten Adjutanten im Bunker, die Generäle Jodl und Keitel, überschüttete er mit verbalen Schimpfkanonaden angesichts ihrer "Unfähigkeit". Speer besuchte Hitler noch in den letzten Apriltagen, um "Abschied" von seinem Führer zu nehmen. Später in Nürnberg behauptete er opportun, um seine Haut zu retten, er habe zu dem Zeitpunkt den Plan gehabt, Hitler zu ermorden, blieb aber die Angabe der nötigen Details dazu schuldig. Speer gestand Hitler noch, dass er sich seinem "Nero"-Befehl, die gesamte noch intakte Infrastruktur des Reichs zu zerstören, widersetzt hatte, was diesen zutiefst enttäuschte. Die NS-Fanatikerin und Fliegerin Hanna Reitsch flog mit ihrem Begleiter, Ritter von Greim, tollkühn mit einem Eindecker bis in die Nähe des Führerbunkers, um dort mit dem Führer zusammen zu sterben. Doch der riet ihr, sich in Sicherheit zu bringen und ernannte den verletzten von Greim zum Oberbefehlshaber einer nicht mehr existierenden Luftwaffe. Im Bunker regierte der pure verblendete Wahnsinn, herrschte gespenstische Untergangsstimmung mit ausgelassenen Alkoholexzessen und betrunkene ranghohe Offiziere berieten, welche Methode des Suizids die wirksamste wäre.

Ein besonderes Kapitel des Kriegsendes ist die überall stattgefundene Befreiung der NS-Konzentrationslager. Oranienburg bei Berlin, Ravensbrück, Auschwitz-Birkenau im Südosten des Reichs und Treblinka und Majdanek (bereits 1944) durch Russen und Polen, ebenso Mauthausen nahe dem österreichischen Linz. Britische und amerikanische Truppen erreichten Neuengamme, Bergen-Belsen, Buchenwald, Mittelbau-Dora, Flossenbürg und Dachau. Wer aus Schwäche und Erschöpfung nicht auf Todesmärsche gezwungen werden konnte, wurde von SS-Wachmannschaften entweder zurückgelassen oder einfach erschossen. An bekannten NS-Gegnern und Widerständlern wie dem Theologen Dietrich Bonhoeffer (KZ Flossenbürg) oder dem Attentäter Georg Elser (Dachau) wurden auf letzte Weisungen Hitlers in einer beispiellosen Raserei Schnellgerichte vollzogen. Niemand von ihnen sollte überleben. Die letzten KZ-Überlebenden boten einen furchtbaren jammervollen Anblick. Von Hunger, Krankheit und Seuchen gezeichnet, starben viele noch kurz nach ihrer Befreiung. Der sich im Prozess unter dem Gehorsamsgelübde stehend sehende und handelnde Eichmann, hatte sich laut einem Tonbandprotokoll mit seinem Biographen bevor er 1960 gekidnappt wurde noch unbefriedigt darüber geäußert, dass nicht mehr als die 6 Millionen Juden und Jüdinnen vernichtet werden konnten. Wären es 10 Millionen gewesen, hätte ihn das bei der Erfüllung seiner Aufgabe vollauf zufriedengestellt, wie er sich mehr als zynisch äußerte.

Die jüdische politische Philosophin Hannah Arendt war 1961 als Beobachterin vor Ort Zeugin des Eichmann-Prozesses, über den sie für das jüdisch-linksintellektuelle Magazin "The New Yorker" fortlaufend berichten sollte. Dabei prägte sie als höchst umstrittene Wahrnehmung des Angeklagten die These von der "Banalität des Bösen". Der jämmerlich und reglos mit Kopfhörer in einer Glaskabine sitzende, dazu noch erkältete Massenmörder Eichmann, der immer wieder monoton beteuerte, alles nur auf höheren Befehl getan zu haben, dem er zu gehorchen hatte (!), rührte die scharfe Beobachterin und Zionismuskritikerin Arendt eher zur Belustigung als Empörung an. Sie bezeichnete ihn als willfährigen Hanswurst und groteske Figur, der alles andere als den Eindruck vermittelte, ein kalt berechnendes Monster zu sein. Langjährige Weggefährten wie der Moralphilosoph Hans Jonas und der enge jüdische Freund Kurt Blumenfeld in Jerusalem gerieten darüber mit ihr in eine heftige Kontroverse und brachen sogar die freundschaftliche Beziehung zu ihr ab. Sie konnten als in ihren Herzen überzeugte Kulturzionisten Arendts häretische Position weder teilen noch gut heißen. Es war in ihren Augen Verrat an der jüdischen Sache. Arendt hatte im Weltkrieg die Internierung im berüchtigten südfranzösischen Lager Gurs überstanden und mit ihrem Mann Heinrich Blücher, einem linkssozialistisch orientierten Philosophen, der der Frankfurter Schule und New School of Social Research nahestand, die Ausreise über Lissabon in die USA erwirken können. Arendt beteiligte sich im Krieg in Frankreich in zionistischen Kulturorganisationen und Flüchtlingshilfswerken. Zu den offiziellen jüdischen Organisationen in den USA wahrte sie jedoch immer eine kritische Distanz, deren Judenräte in ihren Augen bedenkliche Praktiken in der Kooperation mit Nazi-Behörden an den Tag legten. Die gelieferten Reportagen Arendts erschienen schließlich 1963 erweitert um grundsätzliche Reflexionen über die jüdische Frage in Buchform unter dem Titel "Eichmann in Jerusalem".

Erst mit dem Epochenumbruch von 1989/90 und der Folge der deutschen Vereinigung unter Anschluss der politisch und wirtschaftlich erschöpften DDR an die alte BRD, endete für Deutschland wirklich die Nachkriegszeit. Seither wird im 21. Jahrhundert ein neues Kapitel der Zeitgeschichte aufgeschlagen, das man keinesfalls als an historischen Erfahrungen geläutertes ansehen kann, sondern kontinuierliches betrachten muss. So sucht das vereinte Deutschland in der Welt nach einer neuen machtpolitischen Geltung und Bedeutung, auch als Übernahme von "Verantwortung" in der Weltpolitik verbrämt, die eine militärisch basierte ist. Deutsches Militär agiert in Auslandseinsätzen und in einem westlichen "Antiterrorkrieg" mit schwer bewaffneten Kontingenten und Luft-, Marine- und Bodenstreitkräften an Schauplätzen in Nordafrika, im Mittelmeer, in Nah- und Mittelost, am Horn von Afrika und in Afghanistan. Das erneut remilitarisierte und aktuell mit fast 50 Milliarden Euro Militärausgaben massiv aufrüstende Deutschland ist Drehscheibe und Schlüsselpunkt einer gegen Russland als neuen Hauptgegner formierten, osterweiterten NATO. Die maßgeblich Verantwortlichen in der Politik haben wie es scheint, nicht nur nichts aus dem letzten Krieg und historischen Fehlern des letzten Jahrhunderts an Lehren gezogen, sondern sind dabei, fortlaufend neue zu begehen.

Literaturhinweise: Joachim Fest: Der Untergang. Hitler und das Ende des Dritten Reiches. Berlin 2002 - Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München 2003 (6. Aufl.) - Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt/M. 2003 - Nikolaus Koch: Die vier Geburtsfehler der Bundesrepublik Deutschland und die Spätfolgen. Dortmund 1984 - Erich Neubert: Europäische Nachkriegsordnung. West-Ost-Konflikt und deutsche Zweistaatlichkeit. Essen 2013 - 1914-2014. Das Antikriegsheft. Marxistische Blätter, Heft 3/2014 (52. Jg.). Essen 2014 - August Thalheimer: Die Potsdamer Beschlüsse. Eine marxistische Untersuchung der Deutschlandpolitik der Großmächte nach dem Zweiten Weltkrieg (September 1945). Hrsg. u. eingel. von der Gruppe Arbeiterpolitik. Bremen 1950 - Wolfram Wette: Ernstfall Frieden. Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914. Bremen 2017 - Till Zimmermann, Nikolaus Dörr: Gesichter des Bösen. Verbrechen und Verbrecher des 20. Jahrhunderts. Bremen 2015.

(c) Elmar Klink, Bremen, 03.06.2020.

Petition

Die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano hat gemeinsam der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) an Bundeskanzlerin Angela Merkel u.a. gestartet: Sie kann hier unterzeichnet werden:

Veröffentlicht am

03. Juni 2020

Artikel ausdrucken

Weitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von