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Das Virus ist kein Papiertiger

Sind vielleicht nicht "alle" Menschen mit ihrem leichtsinnigen Verhalten Schuld an Corona, sondern vielmehr so genannte "Superspreader-Ereignisse"? Après-Ski-Gelage etwa, wie sie im österreichischen Ischgl stattgefunden haben müssen? "Feuchtfröhliche" Veranstaltungen, bei denen viele Menschen eng zusammen sind und sich - horribile dictu - sogar körperlich näher kommen? Es kann gut sein, dass die Neigung vieler Zeitgenossen, in großen Massen zusammenzuklumpen - die Auswüchse der "Spaßkultur" - an der Misere beteiligt war. Mittlerweile kehren viele schon wieder zu relativer Normalität zurück. Wenn man sich Aufnahmen von lauter Massenbespaßung mit billigster Musik und fortgeschrittenen Stadien der Alkoholvergiftung anschaut, möchte man schon die Frage stellen, ob wir uns auf die Zeit "danach" wirklich freuen sollten.

Corona-Tagebuch, Teil 26

Von Götz Eisenberg

Auf dem Weg zur Universität komme ich an einem riesigen Kastanienbaum vorüber. Er steht in voller Blüte - auf der einen Seite blüht er weiß, auf der anderen rot. Wie ein Denkmal zu Ehren der Ambivalenz. Wann schickt das städtische Gartenamt einen Trupp, der den roten Teil absägt und Eindeutigkeit herstellt? Naturbeherrschung hat immer eine Innenseite. Der gerodete Dschungel, das mittels Herbiziden vernichtete Unkraut, die nach der Schnur geschnittene Hecke, der begradigte Bachlauf - all das hat seine Entsprechung im Inneren. Triebe werden gestutzt, Sümpfe trockengelegt, hier wie dort. Frieden und Versöhnung mit der äußeren Natur wird es nur geben, wenn wir auch Frieden schließen mit dem verfemten Teil in uns. Nur wer mit sich befreundet ist, kann auch freundlich zu seiner Um- und Mitwelt sein. Ein Mensch, der sein eigenes inneres Antriebsleben und seine körperlichen Regungen als fremd und bedrohlich erlebt, wird versuchen, sie unter Kontrolle zu bringen und zu beherrschen. Mit demselben Furor wird er sich dem Ungeordneten und Chaotischen außerhalb seiner nähern. Jorge Luis Borges berichtet von dem faschistischen Folterknecht Otto Dietrich zur Linde, für den sein jüdisches Opfer kein Mensch, nicht einmal ein Jude war. "Er hatte sich in ein Symbol einer verabscheuten Schicht meiner Seele verwandelt", zitiert ihn Borges.

In den Anfangszeiten des Virus in Deutschland steckte sich einer an, als ihm ein bereits infizierter Kollege in der Kantine den Salzstreuer reichte. Das Virus ist kein Papiertiger, sagt der große Vorsitzende Mao.

In den Tageszeitungen gibt es eine neue tägliche Rubrik: Die Corona-Pandemie im Überblick. Es folgt eine Tabelle, die an den Medaillenspiegel bei Olympischen Spielen erinnert. Statt Gold, Silber und Bronze gibt es hier die Rubriken Bestätigte Fälle, Neue Fälle und Tote. In allen Kategorien führen, wie bei den olympischen Spielen, mit großem Abstand die USA, gefolgt von Spanien und Italien. Deutschland liegt zur Zeit auf Platz sieben. Eine perverse Sumpfblüte des Ranking-Wahnsinns.

Henry, die Hauptfigur in Stewart O’Nans neuem Roman Henry persönlich, wird als zehnjähriger Junge von seiner Mutter dazu verdonnert, Klavierunterricht zu nehmen. Er versucht, es geheim zu halten, denn er fürchtet den Spott seiner Freunde. Wenn es herauskäme, würde er vor Klassenkameraden als Schwuchtel und Muttersöhnchen dastehen. Als einer von ihnen Henry in der Straßenbahn mit einem Notenheft erwischte, rief er ihm prompt am nächsten Morgen auf dem Schulhof zu: "Hey, Mozart!" Das war gerade nochmal glimpflich abgegangen, damit würde er leben können. Seine Klavierlehrerin stammte aus Deutschland, hieß Friedhoffer und war sehr hübsch. Henry empfand eine zarte, schwärmerische Zuneigung für sie und beschloss, "um ihr Herz zu erobern, ein perfekter Schüler zu sein". Ein kleiner literarischer Beleg für die in Teil 21 vorgetragene These, dass Kinder vor allem ihren Lehrerinnen und Lehrern zuliebe lernen. Henry kommt im Zweiten Weltkrieg als US-Soldat nach Europa. Als er mit seiner Division eine Kleinstadt im Elsass durchquert, überrollen sie ein altes Klavier, das zu Kleinholz zerschmettert mitten auf der Straße liegt. Da erinnert er sich plötzlich an Miss Friedhoffer und fragt sich, was wohl aus ihr geworden war.

Am Freitag, den 8. Mai 2020, stieß ich in der Süddeutschen Zeitung auf ein Interview mit dem österreichischen Fotographen Lois Hechenblaikner, der sich seit vielen Jahren mit den Folgen des Tourismus in seiner Heimat beschäftigt. Gerade ist er dabei, einen Band über Ischgl vorzubereiten, jenes Arès-Ski-Zentrum, das als schneller Corona-Brüter von sich reden machte. Es sind ihm tolle Fotos von saufenden und feiernden Touristen gelungen, die natürlich auf jeden halbwegs sensiblen Menschen ekelhaft und abstoßend wirken. Alex Rühle von der SZ fragt denn auch gleich zu Beginn: "Ihre Fotos drängen vielen wahrscheinlich die Frage auf, warum Menschen so Urlaub machen wollen. Die Sauferei, der Müll, die Massen …"

Hechenblaikner antwortet: "Ja. Warum funktioniert das? Ein Saulärm, Trivialmusik der untersten Ebene, eine Beleidigung für die Gehörgänge - und trotzdem sind die Leute bereit, dafür viel Geld auszugeben. … So ein deutscher Tourist braucht einen Anschubser, damit er loslässt. Den Deutschen musst du einstellen zwischen 0,5 und einem Promille, da beginnt die Wurstigkeit, und dann kannst du ihn abmelken. … 40 Prozent der Leute sind ja heute geschieden. Die meisten sind aber noch voll im Saft und wollen einen guten Secondhand-Durchgang erleben. Ischgl hat sich als alpintouristische Hoffnungsstätte für den hormonellen Haushalt etabliert. Der ganze Ort ist so kalkuliert, dass einem suggeriert wird: lass die Sau raus. … Die Menschen werden mit dieser pseudofolkloristischen Fäkal- und Trivialmusik in einen anderen Daseinszustand gebracht. Es ist irre, wie destruktiv Musik da wirkt. Fast wie eine Betäubungsspritze fürs Kleinhirn. Die Leute werden angezündet, um sie außer sich zu bringen. Das ist der Wesenskern des Après-Ski. Die sollen denken: Is eh wurscht. … Meine Frau wollte nie, dass unsere Kinder in einem dieser Orte aufwachsen. Was muss solch ein Kind für einen Eindruck haben, wenn es durch seinen Heimatort geht? Dass der Gast ein Monster ist. … Diese Orte, egal ob Gröden, Saalbach-Hinterklemm oder Ischgl, funktionieren nicht mehr als Dörfer für ihre Einwohner. Weil die Gebäudekubaturen nicht für 1500 Einwohner ausgelegt sind, sondern für zigtausend Touristen. Deshalb wirkt das in der Nachsaison wie ein alpines ‘Shining’."

In der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung (9./10. Mai 2020) findet sich ein langes Gespräch mit Josef Hader. Auch er wird am Schluss auf Ischgl angesprochen und gefragt, ob dort nächstes Jahr wieder Après-Ski stattfinden wird. "Klar, die Bar wird einfach umbenannt und dann geht’s unterm selben Wirt weiter. Mit ist das eher wurscht, ich kann nicht Skifahren. Ich war als Bub einmal auf Skikurs, da haben mir die anderen beim Duschen das Gwand versteckt und ich war stundenlang heulend im Bad und hab mich nicht herausgetraut. Seither hab ich eine Abneigung gegen Skifahren." Er werde, sobald es wieder möglich sei, nach Bergamo fahren und sich in der Altstadt auf die Piazza Vecchia setzen. "Dann weiß ich, dass die Krise aus ist. Das würde mir gefallen."

Beim Gang durch die Stadt ist auch hier spürbar, dass die Normalität wiederkehrt - mit all ihren abscheulichen Aspekten: Lärm, Gedränge, Konsum, Sauferei und Gegröle. Die Müllberge im Park wachsen, zerbrochene Flaschen liegen wieder auf Gehwegen und Fahrbahnen. Wochenlang hat es das nicht gegeben. Als man im März die Menschen aufforderte, zu Hause zu bleiben, war es für eine Weile spürbar ruhiger in der Stadt. Die Welt war, sagt der Berliner Antiquar Werner Fernengel, "angenehm gedämpft, so, als hätte es frisch geschneit".

Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus", deren dritter Band unter dem Titel "Zwischen Anarchismus und Populismus" 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist.

Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 27.05.2020.

Veröffentlicht am

28. Mai 2020

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