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WTO-Chef wirft das Handtuch

Die Welthandelsorganisation ist seit Jahren blockiert. Und jetzt braucht sie auch noch einen neuen Chef.

Von Andreas Zumach

Der Generaldirektor der Welthandelsorganisation (WTO), Roberto Azevêdo, gibt seinen Posten zum 31. August auf - ein Jahr vor dem regulären Ende seiner zweiten vierjährigen Amtszeit. Zwar erklärte der 62-jährige Brasilianer am Donnerstagabend vor den Botschafter*innen der 164 WTO-Mitgliedsstaaten am Genfer Sitz der Organisation, er habe seine Rücktrittsentscheidung "aus persönlichen und familiären Gründen getroffen". Doch diese Erklärung steht einer tiefen Frustration Azevêdos über die vollständige Blockade der WTO gegenüber. Für diese ist nicht er als Generaldirektor, sondern sind ausschließlich die Mitgliedsstaaten verantwortlich.

Für langjährige Beobachter*innen des WTO-Geschehens kommt der Rücktritt daher keineswegs überraschend. Manche fragten sich schon 2013, warum der bis dahin als WTO-Botschafter Brasiliens tätige Handelsdiplomat den Posten des Generaldirektors überhaupt übernommen hatte. Denn schon damals konnte die WTO eine ihrer beiden zentralen Aufgaben, die Aushandlung neuer Handelsabkommen, nicht mehr ausüben. 14 Jahre vor Azevêdos Wahl wurde die Konferenz der Handels-und Wirtschaftsminister*innen der Mitgliedsstaaten wegen massiver Proteste von Globalisierungskritiker*innen ergebnislos abgebrochen. Seither ist die WTO blockiert.

Führende Mächte hatten freie Hand

In den fünf Jahren zuvor, seit der WTO-Gründungskonferenz 1994 in Marrakesch, hatten die vier damals global führenden Wirtschaftsmächte USA, EU, Japan und Kanada noch zahlreiche Abkommen zur "Liberalisierung" des internationalen Handels mit Waren und Dienstleistungen durchsetzen können. Die Senkung von Zöllen und anderen Handelshemmnissen, die Erleichterung und der Schutz von Auslandsinvestitionen, die Deregulierung und Privatisierung von vormals unter staatlicher oder öffentlicher Kontrolle befindlicher Wirtschaftsbereiche - all das gelang. Wann immer sich die vier führenden Wirtschaftsmächte in ihren Zielen zur Öffnung der Märkte in den Ländern des Südens einig waren, konnten sie diese innerhalb der WTO durchsetzen, bei gleichzeitig fortgesetzter Abschottung etwa der eigenen Agrarmärkte. Die wirtschaftlich schwachen afrikanischen oder asiatischen WTO-Mitgliedsländer hatten der Übermacht von USA, EU, Japan und Kanada nichts entgegenzusetzen.

Der zeitweise Widerstand aufstrebender Schwellenländer wie Indien oder Südafrika - zum Beispiel gegen Regeln zum Schutz der Patente der global führenden Pharmakonzerne aus den USA und Europa - wurde mit massivem politischen Druck und wirtschaftlichen Sanktionsdrohungen gebrochen. Doch nach dem Beitritt Chinas im Jahr 2000 war das nicht mehr möglich. Gemeinsam mit Indien, Brasilien, Südafrika, Südkorea und zehn weiteren Schwellenländern verhindert China seitdem, dass die USA, die EU, Japan und Kanada ihre Forderungen nach neuen WTO-Abkommen etwa zur weiteren Deregulierung der Dienstleistungsmärkte durchsetzen können. Daher hat die Handelsrunde, die 2001 von der WTO-Ministerkonferenz in Doha ausgerufen wurde, bis heute außer Vereinbarungen zum Abbau von Bürokratie bei der Zollabfertigung von Waren keine neuen Abkommen erbracht.

Neue Blockaden aus den USA

Seit Ende 2019 ist die WTO auch in ihrer zweiten Kernfunktion blockiert. Das zweistufige Verfahren zur Streitschlichtung zwischen den Mitgliedsländern funktioniert nicht mehr, weil die USA die Ernennung neuer Richter*innen für die Streitschlichtungspanels verhindern. Die Trump-Administration rechtfertigt diese Blockade mit der bislang durch nichts belegten Behauptung, die WTO benachteilige die USA und sei zugleich untätig gegenüber unfairen Handelspraktiken Chinas.

Für Währungsmanipulationen, die Peking nicht nur von den USA, sondern auch in der EU vorgeworfen werden, hat die WTO keinerlei Zuständigkeit. Diese liegt beim Internationalen Währungsfonds. Mit Blick auf chinesische Industriespionage und die Missachtung von Patentschutzbestimmungen hat Washington den WTO-Schiedsgerichten bislang viel weniger konkrete Beschwerden und Klagen vorgelegt, als die ständigen lautstarken Vorwürfe der Trump-Administration vermuten ließen. Und da die WTO-Schiedsgerichte durch Washington blockiert sind, können sie über die vorliegenden Klagen nicht beraten und entscheiden.

Regierungserfahrung oder Diplomatie?

Dasselbe gilt für Klagen über die unzureichende Öffnung Chinas für ausländische Unternehmen und über "marktverzerrende Subventionen" der chinesischen Regierung an inländische Unternehmen. Letzterer Vorwurf wird zudem auch gegenüber den USA und der EU erhoben - zu Recht, wie die jüngsten Entscheidungen der WTO-Streitschlichtungspanels zu den staatlichen Subventionen für die Flugzeughersteller Boing und für Airbus gezeigt haben.

Zusätzlich zu der durch die konträren Interessen der Mitgliedsstaaten bedingten Blockade der WTO dürfte auch die Aussicht auf eine in den nächsten Monaten und Jahren durch die Corona-Krise massiv geschwächte Weltwirtschaft Azevêdo den vorzeitigen Rücktritt erleichtert haben.

Nun wird die Forderung laut, nach Azevêdo dürfe der künftige WTO-Chef nicht wieder ein Diplomat sein. Jetzt werde eine Person mit hochrangiger Regierungserfahrung gebraucht. Diese Forderung geht jedoch völlig an dem Problem vorbei. Die drei Vorgänger Azevêdos auf dem WTO-Chefposten in den jetzt 21 Jahren der Blockade der Organisation - der Franzose Pascal Lamy (2005-2013), der Thailänder Supachai Panichpakdi (2002-2005) und der Neuseeländer Mike Moore (1999-2002) - bekleideten zuvor allesamt viele Jahre lang hochrangige Regierungs- und Exekutivposten in der Regierung ihres Landes oder der EU-Kommission.

Weiterführende Informationen:

Quelle: Infosperber.ch - 17.05.2020.

Veröffentlicht am

18. Mai 2020

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