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Vor sich hin sinnlosen

Globalisten jetten um die Welt, sind immer busy, machen Party und verachten diejenigen, die in einsameren Gegenden vielleicht allein vor ihrer Hütte sitzen und die Sonne genießen. "Nichtstuer" womöglich noch. Der Mythos vom coolen Weltbürger hat jedoch in diesen Tagen einen Riss bekommen. Die Gefahr von Pandemien ist einer der Schatten der Globalisierung. Wer mit wenig auskommt und sowieso gern daheim bleibt, ist derzeit im Vorteil. Und wer einen zurückgezogenen Lebensstil hasst, wird unversehens zu einem solchen gezwungen. Es ist Zeit, den zerstörerischen Lebensstil unbegrenzter Mobilität zu überdenken - jedoch ohne einen Beigeschmack von schädlichem Nationalismus.

Corona-Tagebuch, Teil 10.

Von Götz Eisenberg

Es muss Krise sein: Der Mann, der in der Wohnung unter mir wohnt, hat mich gegrüßt. Zum ersten Mal seit Jahren.

Gestern Abend sah ich im Bayerischen Fernsehen eine Folge der alten Polt-Serie Fast wia im richtigen Leben. Herr Knut trifft an der Straßenecke seinen Nachbarn Herrn Meier, der seinen Dackel ausführt. Er fragt ihn, was er so mache. "Eigentlich net vui, eigentlich nix", erwidert der. Herr Knut, der ein typischer Gschaftlhuber, hochdeutsch ein Macher ist und diese Untätigkeit nicht ertragen kann, lässt nicht locker, setzt nach und fragt, was er denn sonst so unternehme, die ganze Zeit. Irgendetwas müsse er doch machen, allweil. "Ei, nix halt. Wobei nix ist vielleicht zu viel gesagt." Der Sketch kam mir vor wie eine szenische Umsetzung des Pascal-Satzes, über den ich neulich nachdachte. Herr Meier, ein Held der Untätigkeit, des Nichtstuns. Er richtet draußen in der Welt keinen Schaden an.

Polt selbst hat einmal in einem Interview gesagt, er "sinnlose" gern so vor sich hin. Er habe eigentlich Bootsverleiher werden wollen. Auf die entgeisterte Frage des Interviewers: Warum denn das? antwortet er: "Weil ich da als Kind einen kannte und der war bewundernswert. Der saß oft nur rum und nicht mal, wenn jemand kam und nach einem Boot fragte, sagte er was: Er stand dann nur langsam auf und ging zum Steg, löste langsam das Tau. Grandios." Der Bootsverleiher, der Polt vorschwebt, sitzt niemals im selben Boot und lässt sich von niemandem ins Boot holen. Er sitzt nur so da auf seiner Bank und hält Brotzeit oder liest Zeitung. In seinem Konversationslexikon Der große Polt erklärt er: "sinnlosen (vor sich hin), kontemplatives Vegetieren; Daseinsberechtigung ohne Hintergedanken; Zwischenstadium zwischen Homo faber und Homo ludens".

Auch ein anderer von mir verehrter Bayer hat es nicht so mit der Geschäftigkeit. Herbert Achternbusch ist davon überzeugt, dass "der Mensch etwas anderes möchte als tüchtig sein, nämlich nichts als seinen Kopf in die Luft zu halten. So entsprach wenigstens ich diesem allgemeinen Wunsch." Weiter schreibt er: "So bleibt der Spruch, dass Arbeit frei macht, der größte Hohn. Arbeit macht kaputt wie jeder andere Fluch. Jeder Arbeitstag schneidet vom Arbeitenden ein hauchdünnes Präparat, das erst das Präparat des morgigen Tages von der Klinge schieben wird. Die Präparate selber sind wertlos, da es nur um die Verkleinerung des Arbeitenden geht. Er wird nicht für seine Arbeit, sondern für seine Verstümmelung bezahlt. Je verstümmelter der Arbeitende ist, desto mehr Prothesen kann man ihm verkaufen."

Achternbuschs Sympathien gehören den Mongolen. In seiner Rede über das eigene Land sagte er, er sei "in diesem Land ein Affe", und fügte zur Erklärung an: "Die Chinesen, die ich eigentlich nur rühmend erwähnen möchte, nennen die Mongolen die Affen. Die Mongolen schauen der selbstlosen Betriebsamkeit der Chinesen blasiert zu. Die Chinesen bauen den Mongolen Schulen und Fabriken, die die Mongolen meiden. Die Mongolen machen den Eindruck, als wären sie mit etwas anderem beschäftigt, vielleicht mit nichts. Wenn die fleißigen Chinesen meine Achtung haben, so haben diese Mongolen mein, wie soll ich es nennen? Was soll ich ihr Eigenleben irgendwie noch bezeichnen? Sie haben mein Vertrauen. Ich bin ihnen irgendwie zu eigen. Die Mongolei ist das Land meiner inneren Emigration." Ich würde Achternbusch dorthin folgen und mich auch zum Affen erklären. Erst recht, nachdem drei wahrscheinlich tüchtige Frauen aus Krefeld in der Silvesternacht zu ihrem Freizeitvergnügen circa dreißig Affen leichtfertig umgebracht haben.

Ich bleibe dabei, dass es nicht nur eine linke Marotte ist zu behaupten, die Pandemie habe etwas mit der Globalisierung zu tun. Sie ist ihr virologisches Korrelat, sie verbreitet sich entlang globaler Lieferketten und Handelsströme. Jetzt spüren wir am eigenen Leib, dass die globale Vernetzung nicht nur angenehme, sondern auch verhängnisvolle Seiten hat. Dabei ist das Coronavirus insofern gerecht, als es - im Unterschied zu anderen Katastrophen - nicht nur die Ärmsten der Armen heimsucht, sondern auch die Bewohner der Länder, die auf ihre Kosten leben. Vor allem lehrt uns die Krise, dass wir uns in ungute Abhängigkeiten begeben haben und dass es uns im Krisenfall an überlebenswichtigen Gütern mangelt, deren Produktion aus Gründen der Kostensenkung in ferne Länder verlagert wurde. Zumindest diese Konsequenz müsste gezogen werden: die globalen Exzesse der Ökonomie müssen gestoppt und zurückgepfiffen werden. Und zwar ohne die unangenehme Begleiterscheinung eines Wiederaufflackerns des Nationalismus. Individuelle, lokale und regionale Selbstermächtigung lautet die Maxime der Stunde, Wiederaneignung von Lebens- und Arbeitsbedingungen. So etwas funktioniert nur auf solidarischer, genossenschaftlicher Basis und hat mit Nationalismus nichts zu tun. Ich habe mich in Teil sieben schon ausführlich zu diesem Thema geäußert und will mich nicht über Gebühr wiederholen.

Eben - es ist Mittwoch, der 1. April - hat mir ein Freund, der als Krankenpfleger in einem hiesigen Krankenhaus arbeitet, Brötchen vorbeigebracht. Er hat heute zum ersten Mal seit Wochen einen Tag frei und kann nochmal Luft holen, bevor auch in seinem Krankenhaus der große Ansturm von Corona-Patienten erwartet wird. Bisher sei vor allem ein spürbarer Anstieg von Fällen häuslicher Gewalt zu verzeichnen. Kinder würden von Müttern und Nachbarn in die Klinik gebracht - mit Platzwunden, Knochenbrüchen, schweren Blutergüssen. Aber auch Frauen seien unter den Opfern primär männlicher Gewalt. Es sei für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Notaufnahme schwer auszuhalten. Ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen grause vor den nächsten Wochen, wenn der Ansturm der schweren Corona-Fälle noch hinzu käme. Er denkt darüber nach, wie im Moment gestorben wird. Fern von der Familie und Freunden, niemand halte den Sterbenden die Hand. Das letzte, was sie zu sehen bekommen, sind die maskierten Gesichter des Krankenhauspersonals. Ich war gerührt, dass er, der im Moment soviel um die Ohren hat, mich fragte, ob ich klarkäme und Hilfe beim Einkaufen benötigte. In solchen Augenblicken wird mir bewusst, dass ich alt bin und damit zur Risiko-Gruppe gehöre.

An der Lahn sitzt ein Vater mit seiner vielleicht zehnjährigen Tochter auf einem Baumstamm in der Frühlingssonne. Er liest ihr aus einem Buch vor und sie hört ihm aufmerksam zu. Beide sind ganz bei der Sache. Für einen Moment bin ich mit allem versöhnt.

Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus", deren dritter Band unter dem Titel "Zwischen Anarchismus und Populismus" 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist.

Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 14.04.2020.

Veröffentlicht am

15. April 2020

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