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Zum Verhältnis von innerer und äußerer Polizei

Die Polizei kann nicht überall sein. Eine Tatsache, die den Staatsorganen heutzutage besonderes Kopfzerbrechen bereitet. Was hilft, sind verinnerlichte Normen und Verbote. Sigmund Freud nannte es auch das "Überich". Leider kam es in den letzten Jahrzehnten zu einer massiven Erosion des Gefühls für "natürlichen Anstand". Das machen uns die Weltenlenker aus Politik und Wirtschaft sogar vor, indem sie in allen Belangen Geld über Moral stellen. Einziger Ausweg aus dem Dilemma scheint zu sein: mehr Überwachung und Polizei. Als willkommene Gelegenheit, die Menschen daran zu gewöhnen, dient derzeit Corona. Und wo "mehr Polizeipräsenz" nicht mehr hilft, greift ohnehin zunehmende die smarte Form der Repression: digitale Überwachung und Verhaltenssteuerung. Nur eines scheint undenkbar: dass Bürger der "freien Welt" tatsächlich tun, was sie selber wollen.

Corona-Tagebuch, Teil 6

Von Götz Eisenberg

Ein Drogeriemarkt auf dem Seltersweg versucht, den Zustrom der Kunden zu begrenzen und zu regulieren, indem man nur eine gewisse Anzahl von Einkaufswagen im Eingangsbereich bereitstellt und jeden Kunden auffordert, einen zu benutzen. Die anderen müssen vor der Tür warten, bis eine Kundin oder ein Kunde den Markt verlässt und eine Mitarbeiterin den entleerten Wagen desinfiziert und hinter der Eingangstür abstellt hat. Da ich dringend eine Tafel dunkle Schokolade kaufen musste, die ich während des Schreibens benötige, wartete ich also brav auf einen freien Wagen, den ich dann durch beinahe leere Gänge zum Schokoladenregal schob. Ich legte eine Tafel schwarze Schokolade auf die Ladefläche des Wagens und schob ihn Richtung Kasse. Auch die hinter einer Plexiglaswand sitzende Kassiererin musste lachen, als sie die Tafel Schokolade sah, die sich im Einkaufswagen verlor.

Meine Vermutung ist, dass das Versammlungsverbot diese Woche aus deswegen einigermaßen befolgt wurde, weil es draußen schweinekalt war. Eisige Temperaturen luden nicht zum Sitzen und Verweilen im Freien ein. Die Kaltfront Jürgen erwies sich als der beste Verbündete des Innenministers und der Ordnungskräfte. Am Wochenende soll es deutlich wärmer werden, und dann wird man sehen, ob die Regeln tatsächlich verinnerlicht worden sind oder ob sie der ständigen äußeren Stützung durch Kontrollen der Polizei bedürfen. Es gibt ein komplexes Wechselspiel zwischen innerer und äußerer Polizei. Man kann nicht hinter jeden Menschen einen Polizisten stellen, der sein Verhalten überwacht. Man müsste dann hinter jeden Polizisten einen anderen stellen, der diesen überwacht, und hinter den zweiten einen dritten.

Kurzum: Eine Fügsamkeit, die nur auf Angst vor realen Zwangsmitteln und ständiger Polizeipräsenz beruht, ist auf Dauer zu aufwendig und kostspielig. Und es wäre ihr auf Dauer nicht zu trauen. Die Menschen müssen wollen, was sie sollen. Die Polizei muss verinnerlicht werden und die Gestalt des Gewissens annehmen. Der Soziologe Norbert Elias hat diesen Vorgang als "Prozess der Zivilisation" beschrieben, in dessen Verlauf äußerer Fremdzwang sich in inneren Selbstzwang verwandelt. Ge- und Verbote rutschen im Verlauf der Sozialisation der Heranwachsenden nach innen. Die Psychoanalyse hat die Verinnerlichung des zunächst äußeren Zwangs als Bildung des Über-Ichs beschrieben. Diese ist an bestimmte Bedingungen gebunden, die seit einiger Zeit schwächer werden. Ich kann diese komplexe Entwicklung im Rahmen eines Corona-Tagebuchs nicht nachzeichnen. Ich beschränke mich hier auf eine knappe Anmerkung: Dieser Gesellschaft wohnt eine immoralistische Enthemmungstendenz inne. Die wertzynische Motorik des Geldes zehrt peu à peu sämtliche sozial-moralischen Traditionsbestände auf und sorgt dafür, dass sich über den Gesellschaften des entfesselten Marktes ein moralisches Ozonloch ausbreitet. In meinem vor fast zwanzig Jahren erschienenen Buch "Amok - Kinder der Kälte" bin ich diesen Prozessen nachgegangen und habe sie unter dem Stichwort Entstrukturierung des Über-Ichs ausführlich beschrieben.

In unserem heutigen Corona-Kontext kommt es mir auf das Verhältnis von innerer und äußerer Polizei an. Wenn die innere Polizei des Gewissens nicht mehr stark genug ist, die Menschen zur Befolgung von Regeln und Normen anzuhalten, dann muss die äußere Polizei vermehrt in Erscheinung treten. Max Horkheimer hatte diesen Prozess kurz vor seinem Tod sorgenvoll registriert: Das Gewissen der Leute sei nicht mehr wirksam genug, um die ökonomische und staatliche Ordnung und die soziale Integration zu sichern, und die Polizei sei noch nicht stark genug. Wir lebten, so vermutete Horkheimer damals, in einer Periode des Übergangs von einer Form bürgerlicher Herrschaft zu einer anderen. Was würde sein, wenn die Polizei das eines Tages nachgeholt hat?

Inzwischen deutet sich ein zeitgemäßer Ausweg aus dem Zerfall klassischer Formen bürgerlicher Herrschaft an. Bei fortschreitender Desintegration - ich sehe im Augenblick nichts, was sie aufhalten könnte - blüht uns unter heutigen Bedingungen eine digitale Diktatur nach chinesischem Vorbild. Das dort entwickelte soziale Kreditsystem wird sich zum Exportschlager entwickeln. Unübersehbar wächst in den sogenannten liberalen Demokratien das Interesse an der in China praktizierten Allianz von autoritärem Staat und künstlicher Intelligenz. Die Corona-Pandemie gibt diesen Tendenzen einen mächtigen Schub. Kann man nicht die Wege von Infizierten durch Auswertung ihrer Handydaten rekonstruieren? Wer hatte mit wem Kontakt? Wer hält sich nicht an die Ausgangssperre? In China wird fieberhaft daran gearbeitet, Gesichtserkennung auch mit Gesichtsmasken möglich zu machen. Ich fürchte, im Namen der Seuchenbekämpfung wird man den Leuten alles verkaufen können.

Regelkonformes Verhalten wird also in Zukunft mehr oder weniger automatisch erzeugt und technisch erzwungen; jenseits davon wird man zu einem Fall für die Polizei oder die Psychiatrie. Moral und Innenlenkung werden tendenziell überflüssig. Noch schützen uns gewisse Residuen bürgerlicher Freiheits- und Persönlichkeitsrechte, aber die werden sich im Zuge der weiteren Digitalisierung schnell abschleifen. Das Individuum, jene Errungenschaft des bürgerlichen Zeitalters, das äußeren Fremdzwang durch verinnerlichten Selbstzwang ersetzte, wird aus dem Verkehr gezogen oder zieht sich selbst aus dem Verkehr. Die Leute verwanzen sich ihre Wohnung mittels Alexa schon heute aus freien Stücken. Die zu Usern mutierten Menschen veröffentlichen ihre "Profile" in den sozialen Netzwerken und tragen in Form ihre Smartphones freiwillig eine elektronische Fußfessel. Aus welchen Gründen und wie sollten sie einer digitalen Diktatur Widerstand entgegensetzen?

Ein paar Häuser weiter zieht eine Wohngemeinschaft ein. Eine große Gruppe junger Leute entlädt einen gemieteten Sprinter und trägt die Sachen die Treppe hinauf. Hier hat das social distancing keine Chance. Englisch oder amerikanisch ausgesprochen klingen solche Sicherheitsmaßnahmen gleich wie ein hipper Trend.

Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus", deren dritter Band unter dem Titel "Zwischen Anarchismus und Populismus" 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist.

Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 03.04.2020.

Veröffentlicht am

04. April 2020

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